KAPITEL 42
Trotz Seths beruhigender Worte konnte Becca spüren, dass irgendetwas im Anmarsch war. Als wäre sie auf Kollisionskurs, und zwar mit Aidan Martin. Der Junge wusste jetzt, dass sie Informationen über ihn sammelte. Aber er wusste auch, dass ein aggressiver Angriff die beste Verteidigung war, und eins stand fest: Einschüchtern ließ er sich nicht.
Becca stellte sich vor, dass er das Gleiche bei ihr tat wie sie bei ihm: ein paar Spuren verfolgen. So schwer konnte es nicht sein, eine gewisse Rebecca Dolores King aus San Luis Obispo in Kalifornien ausfindig zu machen. Und dann würde er auch bald wissen, dass die echte Becca King mit vierzehn Jahren an Leukämie gestorben war und sich jemand anders ihrer Identität bemächtigt hatte. Zwar müsste er dazu ein wenig suchen, aber jemand, der sich nur ein bisschen mit dem Internet auskannte, konnte so gut wie alles herausfinden.
Die ganze Sache mit den Broad Valley Züchtern im Skagit County könnte also von Aidan eingefädelt worden sein, um auszutesten, wie lange es dauern würde, bis Becca King den Kopf verlor. Aber vielleicht steckten auch Informationen dahinter, die sich als wichtig für sie erweisen konnten – nicht, um herauszufinden, wer Aidan war und was er angestellt hatte, sondern für sie selbst und ihr Leben, das sich so verändert hatte seit dem Moment, als sie ihrer Mutter erzählt hatte, was sie beim Belauschen von Jeff Corries Flüstern erfahren hatte.
Die Broad Valley Züchter konnten jedoch sowohl etwas mit Jeff Corrie zu tun haben als auch mit ihrer Mutter. Oder es war weder das eine noch das andere, und Aidan Martin wollte sie bloß fertigmachen. Aber sie musste sichergehen und herausfinden, ob ihr von der Farm irgendeine Gefahr drohte. Jeff Corrie könnte sich dort verstecken und sie hinlocken wollen. Doch noch einmal anzurufen und zu fragen: »Hey, wohnt ein Typ namens Jeff Corrie bei Ihnen?«, kam nicht in Frage. Herauszubekommen, wo sich Jeff Corrie zurzeit aufhielt, schien dagegen vernünftig.
Becca fuhr nach Langley, um Nachforschungen anzustellen, aber sie wollte weder in die Stadtbücherei noch ins Gemeindezentrum, denn Aidan Martin hatte sie schon an beiden Orten gesehen. Im Jugendzentrum Hub hatte er sie noch nicht überrascht.
Derric fuhr sie in die Stadt. Er war in der Schule auf sie zugekommen und hatte gesagt: »Verdammt … Es tut mir leid, Becca«, was sich darauf bezog, dass er einfach aufgehängt hatte, als sie am Telefon über Freude, seine Eltern und den Psychologen gesprochen hatten. »Dass du zur Kirche gefahren bist und mit Reverend Wagner gesprochen hast …«, fügte er entschuldigend hinzu, »da bin ich einfach durchgedreht.« Er fuhr sich mit der Hand über seinen dunklen, glatt rasierten Kopf, als würde ihn diese Geste beruhigen und seine finsteren Gedanken vertreiben: Denn wenn was Schlimmes mit ihr passiert ist, nachdem das Waisenhaus dichtgemacht hat … Es ist bestimmt was passiert, bestimmt, dabei hätte ich bloß sagen müssen … Das weiß ich auch … Dann fuhr er fort: »Ich wünschte bloß …« Aber auch diesen Satz konnte er nicht zu Ende bringen.
Sie nahm seine Hand und sagte: »Ich weiß.« Denn er hätte bloß irgendjemandem zu sagen brauchen, dass das kleine Mädchen, das sie zusammen mit ihm von der Straße geholt hatten, seine Schwester war, und alles wäre gut.
In der Stadt trennten sich am Hub ihre Wege. Der Hub war vergleichbar mit dem South-Whidbey-Gemeindezentrum, nur dass er nicht für Teenager war, sondern für jüngere Schüler. Er befand sich im Erdgeschoss einer Methodistenkirche mit weißem Kirchturm, die in einer Seitenstraße in Langley stand. Darin gab es Spiele für Kinder, Plätze, wo sie Hausaufgaben machen konnten, und ein paar Computer. An die durfte man nur eine begrenzte Zeit heran, aber eine hilfsbereite ältere Dame in einem lindgrünen Jogginganzug erlaubte Becca, ein paar Minuten zu surfen. Allerdings musste sie erst warten, bis sie dran war.
Und das Warten dauerte eine Stunde. Als die Reihe dann endlich an sie kam, suchte sie auf Google nach Jeff Corrie. Wie immer tauchten zunächst massenhaft alte Einträge auf, da Corrie schon mehrfach in den Fokus polizeilicher Ermittlungen geraten war. Doch Becca merkte sehr schnell, dass – seit dem letzten Mal, als sie ihn recherchiert hatte – etwas Neues geschehen sein musste, denn er hatte es erneut auf die Titelseite der Tageszeitung von San Diego geschafft. Als sie die Überschrift las, begann ihr Herz bis zum Hals zu schlagen: Corries Behauptungen erweisen sich als wahr.
Sie klickte den Artikel an und dachte schon, dass ihre Mutter nach San Diego zurückgekehrt war. Vielleicht hatte sie gedacht, es sei besser, ihn offen zu konfrontieren.
Während diese Version bereits in ihrem Kopf Gestalt annahm, öffnete sich die Seite mit dem Artikel. Und da geriet ihre Welt vollständig aus den Angeln. Denn in dem Bericht ging es um Jeff Corries Partner Connor West. Und Connor West war offenbar gesund und munter.
Becca hatte Schwierigkeiten zu begreifen, was sie da auf dem Bildschirm las. Sie verstand die Worte, aber nicht den Sinn, und erst recht nicht ihre Konsequenzen.
Connor West war auf einem Schiff aufgegriffen worden. In Acapulco. Und er wurde von der Polizei von San Diego – mit Genehmigung der mexikanischen Behörden – zurück nach Kalifornien eskortiert.
Becca starrte auf den Monitor. Das war unmöglich. Es konnte nicht Connor West sein. Vielleicht sah er ihm nur ähnlich. Oder er hatte Connor Wests Identität angenommen, so wie sie Rebecca Kings Identität angenommen hatte. In San Diego würden sie einen DNA-Test machen oder seine Fingerabdrücke überprüfen oder ihn mit einem Foto des echten Connor West vergleichen, und dann … Aber das war Unsinn. Natürlich war es Connor. Er hatte keinen Zwillingsbruder, der jetzt praktischerweise plötzlich auftauchte. Was für eine blöde Idee! Echt dämlich! Echt …
Becca konnte kaum atmen. Es kam ihr vor, als würde sich der Raum vor ihren Augen drehen. Sie hörte Geschrei, aber das war nur in ihrem Kopf, und dort schrie es du hast dich geirrt du hast dich geirrt du hast dich GEIRRT.
Und doch hatte sie Jeffs Flüstern gehört, damals in San Diego in der Küche. Connor West und tot und … Das hatte sie doch gehört, oder nicht? Doch. Sie war ganz sicher. Und obendrein noch Jeffs verräterisches Flüstern: Sie weiß Bescheid. Im gleichen Augenblick hatte er sie eindringlich angeschaut, und das Flüstern folgte direkt auf die Gedanken über Connor West. Aber was genau hatte Jeff über ihn gedacht? Sie wollte sich an den exakten Wortlaut erinnern. Doch sie wusste nur noch tot, und dann war Connor West verschwunden, ohne jede Spur. Und was läge da näher, als dass ihn jemand ermordet und die Leiche beseitigt hatte? Ihre Mutter hatte ihr geglaubt, denn Connor hatte keinen Grund, sich abzusetzen. Also ergriffen sie die Flucht, denn Jeff war gefährlich. Er hatte seine Stieftochter dazu benutzt, Geld zu veruntreuen, und hatte alte Leute um ihre Ersparnisse gebracht. Es wurden Nachforschungen über ihn angestellt, denn er war ein Lügner, ein Betrüger und ein Mörder.
Doch dieses Bild von Jeff Corrie zersprang in diesem Augenblick vor Beccas Augen in tausend Stücke. Und es gab keine Möglichkeit, die Ereignisse ungeschehen zu machen, die ihre Interpretation von Jeffs Flüstern nach sich gezogen hatte. Vor allem hatte sie keine Möglichkeit, sich mit ihrer Mutter in Verbindung zu setzen.