KAPITEL 44

Becca hatte ein Problem mit der Anwendung. Diana sagte, dass man erst etwas lernt und es dann im Leben anwendet. Aber wie sollte sie das anstellen, wenn die Hälfte dessen, was sie lernte oder erfuhr, über das Flüstern anderer Leute zu ihr gelangte, und sie jetzt wusste, dass sie diesem Flüstern nicht trauen konnte? Und konnte sie den Erinnerungsbildern trauen, die sie seit Kurzem empfing? Wahrscheinlich nicht. Becca hatte mehr denn je das Gefühl, dass ihre Gabe kein Segen, sondern ein Fluch war. Da hatte sich das Schicksal einen großen Scherz mit ihr erlaubt, der ihr Leben kaputtmachen konnte und das Leben vieler anderer auch.

Aus ihrer Erfahrung mit Jeff Corrie und Connor West wusste Becca nun, dass sie keinen der Gedanken, die sie täglich hörte oder jemals gehört hatte, für bare Münze nehmen konnte. Sie hatte so viele Schlussfolgerungen aus diesem bruchstückhaften Geflüster gezogen, die sie nun alle wieder in Frage stellen musste. Außerdem musste sie überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Geduldig darauf zu warten, dass die Eingebung wie ein Blitzschlag vom Himmel kommen würde, stand nicht zur Diskussion.

Sie konnte also weder dem Flüstern noch den Erinnerungen der anderen trauen, in die sie ebenfalls seit Kurzem gelegentlich Einblick bekam. Sie hoffte, dass sie einen guten Instinkt hatte, denn er war das Einzige, auf das sie sich noch verlassen konnte.

Sie und Seth verabredeten sich, um zur Farm der Broad Valley Züchter zu fahren. Sie lag außerhalb von La Conner, einer Stadt am Swinomish Channel, der sich wie ein Fluss in die Skagit Bay ergoss. Die Stadt lag auf dem Festland nördlich von Whidbey und östlich von der Insel Fidalgo. Die Inseln waren im Norden mit dem Festland durch Brücken verbunden. Die erste lag etwa achtzig Kilometer von Langley entfernt, und Seth hatte sich bereit erklärt, sie dorthin zu fahren. Also wartete sie am vereinbarten Tag auf ihn, und ihr war ein wenig unwohl, weil sie keine Ahnung hatte, was sie auf der Tulpenfarm erwartete.

Sie wartete im Haus. Sie hatte etwas zu essen fertig gemacht und stand am Fenster mit dem Blick auf Ralph Darrows Garten, Wiese, Rhododendron und Bäume. Sie beobachtete Ralph dabei, wie er unter den Bäumen das Laub zusammenharkte. Er bewegte sich sehr langsam. Er machte häufig Pausen und sah sich dann um, so als wüsste er nicht genau, was er als Nächstes tun sollte. Dann schien es ihm wieder einzufallen, und er harkte weiter. Wenn er so langsam weiterarbeitete, würde Ralph Tage brauchen, bis er das ganze Laub zusammengeharkt hatte.

Plötzlich erschien Gus auf der Bildfläche, der vom Parkplatz auf der Anhöhe über die Wiese gelaufen kam. Ralph begrüßte den Hund, nahm ihm den Ball aus dem Maul und warf ihn Richtung Teich. Da wirkte er wieder völlig normal. Die Hände in die Hüften gestemmt sah er zu, wie der Hund dem Ball hinterherlief. Dann schob er seinen breitkrempigen Gartenhut in den Nacken und winkte Seth zu, der auf das Haus zukam.

Becca sah noch einmal nach, ob Ralphs Mittagessen auch dort war, wo er es finden konnte, nahm ihre Sachen und ging hinaus. Sofort schnappte sie ein Flüstern auf, das wie Glasauge klang, aber es hätte auch etwas anderes sein können. Sie war nicht sicher, ob das Flüstern von Seth oder von seinem Großvater kam. Außerdem traute sie ihren Ohren diesbezüglich ohnehin nicht mehr, und da das Flüstern für sie überhaupt keinen Sinn ergab, holte sie genervt ihre AUD-Box aus der Tasche. Die Box steckte sie sich an den Bund ihrer Jeans und den Kopfhörer ins Ohr.

Als sie über die Wiese zu ihnen kam, unterhielten sich Seth und Ralph gerade. Gus kam vom Teich zurück und war begeistert, auf einen weiteren Menschen zu treffen, der für ihn den Ball werfen konnte. Sie nahm den Ball und tat ihm den Gefallen, und als sie Enkel und Großvater erreicht hatte, konnte sie sehen, dass sie sich stritten.

Ralph sagte gerade: »Verdammt noch mal, Seth. Wenn ich drei Dinge auf einmal machen muss und der Kamin raucht, während ich eine Nachricht aufschreibe, weil das Ofenrohr verstopft ist, dann ist es ja wohl normal, wenn ich das eine oder andere Detail vergesse.«

Daraufhin fragte Seth: »Grandpa, hältst du dich auch an deine Diät? Die Sache mit dem Cholesterin …«

»Jetzt hör mir mal zu«, unterbrach Ralph ihn aufgebracht. »Ich bin über siebzig Jahre alt geworden, ohne dass ihr mir bei jedem Schritt über die Schulter geguckt habt. Ich hab die Nase voll.« Und als er Becca sah, fügte er hinzu: »Steckst du etwa hinter dem Verhör, Miss Becca? Bist du jetzt meine persönliche Mata Hari?«

»Mata wer?«, fragte sie ahnungslos und Ralph antwortete: »Was bringen sie euch heutzutage eigentlich in der Schule bei?« Doch noch während er sprach, spiegelte sich Angst in seinen Augen.

»Okay, Grandpa«, sagte Seth. »Hab verstanden. Becca und ich wollen jetzt eh los nach La Conner, um zu gucken, worum es da ging.« Er rief Gus und fragte Becca: »Bist du so weit?«

»Ihr spinnt ja«, warf Ralph ein. »Die rufen doch sicher noch mal an, wenn es was Wichtiges ist. Wartet doch einfach so lange.«

Das geht nicht, dachte Becca.

Seth zuckte als Antwort mit den Schultern und sagte seinem Großvater, dass es ein schöner Tag für einen Ausflug wäre und Becca noch nie im Skagit Valley gewesen wäre. Ralph winkte missmutig ab, brummte »Kinder« vor sich hin und kehrte zu seiner Arbeit zurück.

Während sie den Hügel hinauf zu Seths Auto gingen, murmelte Seth leise: »Ich weiß nicht, Beck. Ich glaube, er wird einfach alt.«

»Kann sein. Aber seine Handschrift …« Sie setzte ihren Rucksack ab. Sie hatte die Nachricht nicht weggeworfen, die Ralph geschrieben hatte, und durchwühlte jetzt den Rucksack danach. Als sie sie gefunden hatte, zeigte sie Seth den Zettel, denn er würde am ehesten erkennen, wenn sich Ralphs Schrift verändert hatte.

Das tat er ganz offensichtlich, denn er sah von dem Zettel hoch und drehte sich zu Ralph um, der noch im Garten arbeitete. Dann sagte er zu Becca: »Misst er auch immer regelmäßig seinen Blutdruck?«

»Ich lege ihm das Gerät jeden Morgen hin, aber manchmal sagt er, er will es später machen.«

»Meinst du, er versteckt irgendwo Junkfood? Chips, Käse, Flips? Geht er heimlich Burger und Pommes essen?«

»Nicht, dass ich wüsste. Und falls er irgendwo Essen aufbewahrt, wüsste ich nicht, wo ich suchen sollte. In seiner Werkstatt habe ich noch nicht nachgesehen, und im Geräteschuppen auch nicht. Und wenn er was im Wald versteckt, werde ich es sowieso niemals finden.«

Seth ging weiter und Gus lief ihnen voraus zum Wagen. Er sagte nichts mehr, bis sie den Wagen erreicht hatten und eingestiegen waren und Gus hechelnd auf dem Rücksitz saß. Und dann: »Ich will Grandpa nicht meinem Vater ausliefern. Dann kommt er her und macht Grandpa die Hölle heiß, und das wird nicht schön.«

»Er weiß jedenfalls, dass ich aufpasse. Das gefällt ihm nicht, und ich kann es ihm nicht verübeln.«

Seth startete den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein. »Vielleicht machen wir ja aus einer Mücke einen Elefanten. Es war doch bloß eine Nachricht. Und es ist erst einmal passiert. Außerdem war er in Eile, wie er gesagt hat.«

Aber Becca hatte bemerkt, dass Ralphs Flüstern sich auch verändert hatte. Seine Gedanken waren wie zerrissen und bestanden aus einzelnen Wörtern, die selbst zum Teil abgebrochen waren, und das war vorher nicht so gewesen. Vorher hätte sie sich ernste Gedanken darüber gemacht, aber im Augenblick zweifelte sie alles an. Sie wusste nicht, wie sie sonst damit umgehen sollte. Trotzdem machte sie sich Sorgen um Seths Großvater, ebenso wie um die Akzeleration und was er damit zu tun haben könnte.

Die Fahrt nach La Conner dauerte ziemlich lange. Seth fuhr zum äußersten nördlichen Ende von Whidbey Island, wo das Wasser rasch durch eine Meerenge namens Deception Pass floss und fünfzig Meter unter einer zweispurigen Brücke in die Meerenge Juan de Fuca mündete. Über die Brücke fuhren sie auf Fidalgo Island, und da es ein sonniger Tag war, trafen sie auf unzählige Touristen, die sich auf der Brücke vor dem Hintergrund der vielen kleinen Inseln in der Meerenge fotografieren ließen.

Von Fidalgo Island aus gelangte man auf einer größeren Schnellstraße aufs Festland. Hier tat sich ein riesiges Tal auf, das nicht enden zu wollen schien und nur gelegentlich mit kleinen Wäldchen, einem Bauernhof oder einer Scheune gesprenkelt war. Ansonsten reihte sich nur ein Feld an das nächste, auf denen aber zu dieser Jahreszeit nichts zu wachsen schien. Seth erzählte Becca, dass die Pflanzperiode bald beginnen würde. Denn sie waren hier im Tulpenland, das im Frühling von Millionen von Blumen erstrahlte, so dass man meinen konnte, in Holland zu sein.

Seth schlug vor, erst ihren Proviant zu verzehren, bevor sie zu den Broad Valley Züchtern weiterfuhren. Becca konnte es nicht erwarten, zur Farm zu kommen, aber da Seth sie hergefahren hatte, geduldete sie sich noch und willigte ein.

Er fuhr sie durch die Stadt. La Conner lag direkt an dem flussartigen Kanal, und von hier aus konnte man auf eines der vielen Indianerreservate hinunterblicken, die es in diesem Staat gab. Die Gegend war nun dicht bewaldet, und man gelangte über eine orangefarbene Brücke dorthin, in dessen Nähe Seth parkte. Sie stiegen aus, Gus sprang fröhlich ins Wasser und Becca erfuhr den Grund, warum Seth erst eine Pause machen wollte, bevor sie zu den Broad Valley Züchtern weiterfuhren.

Er hatte ein Mädchen kennengelernt. Sie hieß Prynne und war eine »absolut geniale« Geigerin. Er versuchte, sie dazu zu bringen, bei Triple Threat einzusteigen. Doch so, wie er von ihr erzählte, ahnte Becca sofort, dass mehr dahintersteckte als der Versuch, eine Geigerin für seine Gypsy-Jazz-Band zu bekommen.

»Super, Seth!«, rief sie aus. »Wann kann ich sie kennenlernen?«

»Weiß nicht«, gab er wortkarg zurück. Doch sie wusste, dass er sich über ihre Anteilnahme freute. Dann fügte er hinzu, dass das Mädchen bei Auftritten eine Augenklappe trug, weil sie als Kind an Krebs erkrankt war und ein Auge verloren hatte. Sie hatte ein Glasauge, aber wenn sie Geige spielte, trug sie das nicht.

Glasauge, dachte Becca. Also hatte sie sich doch nicht verhört. Zum ersten Mal, seit sie erfahren hatte, dass sie Jeff Corries Flüstern damals in San Diego falsch interpretiert hatte, war sie erleichtert.

Sie blieben noch eine Weile am Fluss und warfen ein paar Mal den Ball für Gus, denn der wäre bestimmt nicht wieder in den VW geklettert, ohne vorher seinen Spaß gehabt zu haben. Dann fuhren sie weiter, und Becca wurde langsam nervös, als ihr klar wurde, dass sie kurz davor waren, zumindest eines der vielen offenen Rätsel zu lösen.

Wo sich die Broad Valley Züchter befanden, hatten sie leicht herausgefunden, da sie sowohl eine Website betrieben als auch eine Facebook-Seite. Deshalb wusste Becca, an welcher Straße die Farm lag. Doch bis sie kurz davor standen, hatte sie keine Ahnung gehabt, wie nahe sie an der Fernstraße war. Auf dieser Straße war sie nämlich mit ihrer Mutter hergefahren. Erst nach Norden mitten durch Kalifornien hindurch, und dann durch Oregon und Washington. Von dort aus führte sie weiter zur kanadischen Grenze. Als Becca das sah, begann ihr Herz wild zu klopfen, denn nun konnte sie sich endlich vorstellen, wie sich alles zugetragen haben musste: Ihre Mutter hatte sie in Mukilteo abgesetzt, wo sie die Fähre nach Whidbey nehmen sollte, während ihre Mutter auf der Fernstraße weiter Richtung Norden fuhr. Vielleicht war sie müde geworden und wollte Rast machen, oder sie hatte Hunger oder brauchte Hilfe mit dem Auto. Jedenfalls war sie aus irgendeinem Grund bei den Broad Valley Züchtern abgestiegen.

Und da sie Internet hatten, konnte sie die Ereignisse online verfolgen. Sie würde wissen, dass Connor West noch lebte und wohlauf war. Sie wäre sauer auf Becca – und das konnte diese ihr nicht verdenken –, weil sie Jeff Corries Flüstern falsch gedeutet hatte. Aber wenn sie erst wieder zueinander gefunden hätten, wäre sicher bald alles vergeben und vergessen.

Gus schien Beccas wachsende Unruhe zu spüren und fing vom Rücksitz aus an zu winseln. Seth sah zu ihr herüber und lächelte. »Alles klar?«, fragte er. Sie nickte.

Die Farm war riesig. Hier schienen nicht nur Tulpen gezüchtet, sondern im Frühling auch diverse Aktivitäten für Touristen angeboten zu werden, die herkamen, um die Farbenpracht zu bewundern. Die Einfahrt überspannte ein Bogen, und von da aus gelangte man nicht auf den Hof des Farmgeländes, sondern auf einen Parkplatz für mindestens fünfzig Autos. Auf der einen Seite des Parkplatzes stand die größte Scheune, die Becca je gesehen hatte. Sie war weiß und frisch gestrichen, ihr großes Tor stand halb offen und aus dem Innern drang Rap-Musik nach draußen. Der Scheune gegenüber stand ein ebenfalls weiß angestrichener Bauernhof mit einer großen Veranda. Er wurde von einem Ahornbaum beschattet, dessen rot-oranges Laub sich farbenfroh vom wolkenlosen blauen Himmel absetzte.

Seth parkte näher am Bauernhof als an der Scheune, und sie stiegen aus. Gus tat es ihnen gleich und sprang aus dem Wagen. Sie hatten ihm zwischendurch etwas Auslauf gegönnt, aber offenbar nicht genug, denn er begann sofort, um das Haus herumzutollen. Er schnüffelte und fing an zu bellen, als er ein Hühnergehege entdeckte. Während er darauf zu lief, kam ein bellender Dalmatiner von der Veranda geschossen. Ihm folgten zwei Dackel.

Die vier Hunde bellten nun alle wild durcheinander, und Seth rief: »Gus! Nein! Bei Fuß!« Da erklang lautes Glockenläuten. Becca und Seth wirbelten herum: Das Geräusch kam von der Veranda. Eine Frau war aus dem Haus gerannt gekommen und versuchte offenbar, mithilfe der Glocke für Ruhe zu sorgen.

Und es funktionierte. Drei der vier Hunde waren sofort still und zogen sich zurück. Aber Gus bellte weiter. Da ging Seth zu ihm, packte ihn am Halsband und schimpfte: »Böser Hund! Wann fängst du endlich an zu gehorchen?« Zu der Frau, die aufgehört hatte, die Glocke zu läuten, sagte er: »Tut mir leid. Er ist ein bisschen dämlich, aber er tut Ihren Hunden nichts.« Dabei nickte er den anderen Hunden zu, wobei er vor allem die Dackel meinte, die sich auf die Veranda zurückgezogen hatten und die Eindringlinge knurrend aus der Distanz beobachteten.

Die Frau hatte ein Geschirrtuch an ihrer Schürze hängen. Offenbar hatten sie sie beim Backen gestört, denn ihre Hände waren voller Mehl. Sie fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Sie klang sehr nett, und das beruhigte Becca schon einmal. Sie nahm den Stöpsel aus dem Ohr, um etwaiges Flüstern aufzuschnappen, das von ihr kommen würde.

Sie hörte komischer Typ … und was es für Leute gibt … Das sagt Jeff auch immer. Als sie Jeff hörte, tat Becca einen Satz zurück, als hätte sie der Schlag getroffen.

Sie sagte: »Lass uns lieber wieder gehen, Seth«, und sie wäre am liebsten sofort zum Auto zurückgelaufen, aber Seth sah sie nur verwundert an und fragte: »Hm? Was?« Und dann: »Schon gut, Beck, er hat sich beruhigt«, und das schien sich auf Gus und sein Verhalten zu beziehen. Momentan hatte sie keine Möglichkeit, ihm mitzuteilen, was sie wirklich meinte.

»Seth Darrow«, sagte Seth zu der Frau, indem er auf sich selbst zeigte. »Und das ist Becca King.«

»Darla Vickland«, antwortete sie freundlich.

»Das klingt jetzt sicher komisch«, setzte Seth an, »aber jemand hat von dieser Farm aus meinen Großvater auf Whidbey Island angerufen. Aber er kann sich nicht mehr erinnern, wer es war und was er wollte. Deshalb sind wir hergekommen.«

Was soll das denn … und tickt wohl selbst nicht ganz richtig …, gefolgt von muss es Jeff sagen … und ist bestimmt ein Trick … veranlassten Becca, sich den Stöpsel wieder ins Ohr zu stecken. Darla Vickland schien verwirrt: »Verstehe ich das richtig? Sie beide sind den ganzen Weg von Whidbey Island hergefahren wegen einer unklaren Telefonnachricht?«

»Er wusste auch nicht, für wen die Nachricht war«, klärte Seth sie auf. »Sie hätte für Becca sein können, für einen gewissen Parker Natalia oder sogar für meinen Großvater selbst, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, und da es vielleicht wichtig war, vor allem, wenn es für Becca bestimmt war … Das klingt jetzt alles vollkommen bescheuert, was?«

Grauenvoll, dachte Becca. Sie kamen rüber wie die letzten Idioten. Da platzte sie heraus: »Wohnt vielleicht jemand bei Ihnen? Zur Untermiete, meine ich? Eine Frau oder auch ein Mann? Und vielleicht haben die Ihr Telefon benutzt, ohne dass Sie es wussten.«

Da wandelte sich der Gesichtsausdruck der Frau und sie sagte: »Oh, nein. Ich hoffe nicht, dass es eines der Kinder war, das sich einen Scherz erlaubt hat. Kommen Sie doch mit herein, und ich hole meinen Mann.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Vielleicht könnten Sie Ihren Hund so lange in den Wagen sperren. Ich habe frisch gebackenen Apfelkuchen. Ich will nur eben Jeff holen, der will sicher auch wissen, was los ist.«

Becca zog Seth am Arm und sagte: »Wir müssen aber …«

Doch Seth ignorierte sie: »Apfelkuchen? Gebongt«, und ohne auch nur einen Augenblick lang zu erwägen, dass die Bäuerin vielleicht gar nicht so harmlos war, wie sie aussah, brachte er Gus zum VW und schien sich schon auf den frischen Apfelkuchen zu freuen. Becca folgte ihm widerwillig.

Die Frau lief zur Scheune, und Becca sagte erregt zu Seth: »Wir müssen hier weg. Das ist eine Sackgasse. Oder sogar eine Falle, was wahrscheinlicher ist. Denn sie hat Jeff gesagt. Hast du das gehört?«

Seth machte die Autotür auf, und Gus sprang in den Wagen. Er durchwühlte das Handschuhfach und holte schließlich einen Hundekuchen heraus, den er dem Labrador zu knabbern gab. Gus fing fröhlich an zu kauen und blieb brav sitzen, denn eines war allgemein bekannt: Gus tat für Futter alles, selbst wenn er dafür alleine im Wagen bleiben musste.

Seth schloss die Autotür und drehte sich zu Becca um. Als er ihren Gesichtsausdruck sah, beruhigte er sie: »Keine Angst, Beck. Es gibt mehr als einen Jeff auf der Welt.«

»Nein!«, rief sie. »Ich muss hier weg. Oder ich verstecke mich. Für alle Fälle. Was ist, wenn es wirklich Jeff Corrie ist? Und sie hat was von ›Scherz‹ gesagt. Vielleicht hat er eines der Kinder dazu gebracht anzurufen, denn sie hat doch von Kindern gesprochen, und Jeff war gut darin, Kinder zu allem Möglichen zu überreden …«

»Zu spät.« Seth sah an Becca vorbei zur Scheune hinüber. »Da kommt er schon. Und? Ist das dein Stiefvater?«

Becca hatte Angst, sich umzudrehen und die Wahrheit zu erfahren. Doch es blieb ihr keine andere Wahl. Sie drehte sich langsam um und wusste genau, dass es nach ihrem katastrophalen Versagen die Krönung allen Übels wäre, das sie heraufbeschwören hatte, wenn jetzt tatsächlich Jeff Corrie über den Hof auf sie zugelaufen käme.

Aber … er war es nicht. Es war ein ganz normaler Mann in Jeans und Flanellhemd mit einer großen glänzenden Glatze. Und Becca hätte vielleicht mehr von ihm mitbekommen und herausfinden können, ob er eine Gefahr für sie darstellte, wenn er alleine gewesen wäre oder nur in Begleitung seiner Frau. Doch hinter ihm kamen fünf Kinder unterschiedlichen Alters aus der Scheune gelaufen, die zusammen mit ihm lachten, quasselten und herumblödelten. Und selbst diese Kinder hätte Becca wohl näher unter die Lupe genommen, wenn nicht ein Mädchen darunter gewesen wäre, bei dessen Anblick es ihr geradewegs den Atem verschlug.

Das Mädchen war sehr groß für sein Alter, denn Becca schätzte es auf etwa vierzehn. Es trug Jeans, ein T-Shirt und Gummistiefel. Auf dem Kopf hatte es eine Baseballkappe mit der Aufschrift Indians, und die überschattete sein Gesicht, doch Becca hätte es überall wiedererkannt. Denn die Haut des Mädchens war dunkel wie Zartbitterschokolade, genau wie die seines Bruders. Und hätte es gelacht, dann wäre es ganz sicher auch Derrics Lachen gewesen.

»Freude«, murmelte sie, als ihr die Bedeutung des Telefonanrufs plötzlich klar wurde.