KAPITEL 45

Trotz Isis’ Entschuldigung und ihrer schrecklichen Geschichte über den Tod ihres kleinen Bruders fühlte sich Hayley weiterhin in ihrer Gegenwart unwohl. Und sie war sich völlig im Klaren darüber, warum. Es hatte mit Parker zu tun. Deshalb loggte sich Hayley nur zwei Abende, nachdem Isis auf die Farm gekommen war, in den Familiencomputer ein und warf einen Blick auf die Facebook-Seite des Mädchens. Isis war – wie Hayley mittlerweile wusste – der indiskreteste Mensch, den sie je kennengelernt hatte. Daher war dort vermutlich in den schillerndsten Farben dokumentiert, was genau zwischen ihr und Parker abging.

Hayley stellte sehr schnell fest, dass Isis’ Version von ihrer Baumhausbegegnung mit Parker Natalia ziemlich genau so abgelaufen war, wie sie behauptet hatte. Denn da waren jede Menge Bilder von Isis und Parker – unter anderem ein paar Schnappschüsse, die im Baumhaus gemacht worden waren. Besonders fiel ihr ein Foto von Parker ins Auge, in dem er mit nacktem Oberkörper am Rand derselben Pritsche saß, auf die er Hayley so liebevoll gelegt hatte. Unübersehbar war auch ein gemeinsames Bild von Isis und Parker, in dem sie so posierten, dass man kein Experte sein musste, um sich zu denken, dass sie so gut wie nichts anhatten. Und dann waren da noch die Fotos von der Maxwelton-Party, in denen Isis wie eine Klette an ihm klebte, sowie Bilder von ihnen im Pub in Langley und neben Parkers Auto.

Natürlich waren diese Fotos alle gemacht worden, bevor sich Hayley mit Parker eingelassen hatte, aber darum ging es nicht. Es ging um Parker selbst und um »pass auf den Typen auf« sowie darum, was das Hayleys Ansicht nach eigentlich bedeutete. Okay, na schön, dachte sie sich. Jetzt weiß ich Bescheid. Auch wenn Isis offenbar nur deshalb Bilder mit ihm postete, um Brady zu Hause in Palo Alto eifersüchtig zu machen, legte Hayley großen Wert auf solche Dinge. Denn es war ihr wichtig, wer der Mann war, mit dem sie das erste Mal schlief, und es war ihr wichtig, sich nicht zum Narren halten zu lassen.

Wie es der Zufall so wollte, rief Parker sie am selben Abend an – sie hatte schon seit mehreren Tagen nichts von ihm gehört. Er sagte: »Hey. Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich hätte anrufen sollen, aber ich habe darauf gewartet, dass diese …«

»Ich kann jetzt nicht reden«, unterbrach sie ihn.

Am anderen Ende war es still. Dann fragte er: »Stimmt was nicht? Geht es deinem Dad gut? Ich denke ständig an dich, aber jedes Mal, wenn ich anrufen will, kommt mir was dazwischen.«

»Ich hab ’ne Menge Hausaufgaben«, erklärte sie.

»Oh. Alles klar. Es wird nicht lange dauern, weil, ich hab mich gefragt, ob du …«

»Ich bin superbeschäftigt, Parker.« Sie legte auf. Ihr war klar, dass das nicht ganz fair von ihr war, doch sie wollte sich jetzt nicht von seiner warmen, sanften Stimme einwickeln lassen.

Fünf Minuten, nachdem sie aufgelegt hatte, hörte sie, wie es an der Haustür klingelte. Dreißig Sekunden später platzte Cassidy in ihr Zimmer. »Unten im Wohnzimmer redet ein Mann mit Dad, aber er will mit dir sprechen«, sagte sie. Im selben Augenblick rief ihre Mom die Treppe hoch: »Hayley? Parker hat etwas für dich.«

Hayley stand von ihrem Schreibtisch auf. Bei dem Gedanken, ihn zu sehen, hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. Aber es blieb ihr in diesem Moment keine andere Wahl, als sich ihm zu stellen.

Sie ging nach unten. Er wartete vor dem Wohnzimmer auf sie. Zum Glück schien ihre Familie nicht daran interessiert, ihrem Treffen mit ihm beizuwohnen, weil außer ihm niemand sonst herumstand. Er hatte eine CD in der Hand. Er reichte sie ihr.

»Ich war am Ende eurer Auffahrt, als ich angerufen habe«, gestand er mit einem verlegenen Lächeln. »Ich weiß, dass du viel zu tun hast, aber ich wollte dir das hier geben.«

Das war Musik von BC Django 21. Als Hayley die CD entgegennahm und das Cover betrachtete, sah sie, dass sein Gesicht auch darauf war.

»Ich würde sie mir gerne mit dir zusammen anhören«, erklärte er ihr. »Aber da du gerade so viel zu tun hast … Vielleicht morgen?«

Sie sah von der CD auf. Offenbar las er das Misstrauen in ihrem Gesicht, denn er senkte die Stimme und fragte: »Stimmt was nicht?«

Na ja, dachte Hayley, wenn du mich schon fragst. Sie sagte: »Komm mal kurz mit raus, bitte«, und ging mit ihm nach draußen auf die Veranda.

Er fragte: »Was ist los?«, als sie sich zu ihm drehte und die Arme über der Brust verschränkte. Draußen war es kälter, als sie gedacht hatte, und sie hätte ein Fleece anziehen sollen, denn sie zitterte. Er machte sich sofort daran, seine Jacke auszuziehen, und aus irgendeinem Grund ließ diese fürsorgliche Geste alles gleichzeitig aus ihr herausbrechen.

»Ich mag keine Leute, die andere ausnutzen«, teilte sie ihm mit. »Ich mag keine Lügner. Es gefällt mir nicht, wenn ich erst mal überprüfen muss, ob mir jemand die Wahrheit erzählt.«

Parker machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Dann sagte er: »Wovon sprichst du?«

»Davon, dass du erst mit Frauen rummachst und sie dann fallen lässt. Von dir und Isis, um genau zu sein.«

Er sah an ihr vorbei und hinaus auf die dunklen Felder hinter dem Haus und wandte ihr dann wieder den Blick zu. »Ich und Isis was

Diese Pause machte sie wütend, weil es völlig offensichtlich war, dass er sich mit der Antwort Zeit gelassen hatte, um sich zu überlegen, wie er sie am besten an der Nase herumführen konnte. »Du und Isis und Sex«, erwiderte Hayley schlicht. »Du warst mit ihr in dem Baumhaus, ihr hattet Sex auf der Liege, und du hattest dasselbe mit mir vor. Aber dann hast du herausgefunden, dass ich Jungfrau bin, und hast es dir anders überlegt, und jetzt …«

Er hob die Hände. »Was ist hier los?«

»Du weißt, was hier los ist«, gab sie zurück. »Du und Isis, und du und ich, und wer weiß, wer sonst noch, weil, mit wem du es treibst, scheint ja keine große Rolle für dich zu spielen.«

»Ich und Isis? Hör mal, ich hab dir doch erklärt, dass diese Dumpfbacke ständig an mir geklebt und sich benommen hat, als … als, keine Ahnung, … als wären wir zusammen, als wären wir wirklich ein Paar. Aber ich habe sie nie ermutigt.«

»Oh, bitte«, erwiderte sie. »Du bist mir nachgestiegen genauso, wie du ihr nachgestiegen bist.«

»Das stimmt doch gar nicht. Ich hab dir gesagt, dass sie nicht im Baumhaus war, als du mich nach ihrer E-Zigarette gefragt hast. Und ich hab dir erklärt, dass ich nicht an ihr interessiert bin. Mann, Hayley. Was ist hier los? Ich dachte, du und ich …«

»Das dachte ich auch. Aber du erzählst eine Geschichte und die Tatsachen eine andere.«

»Was für Tatsachen? Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich dich mit Isis hintergehe? Warum sollte ich das tun?«

»Du willst mir also wirklich erzählen, dass du und Isis es nie gemacht habt? Dass du es nie mit ihr im Baumhaus getrieben hast? Dass du nie Sex mit ihr hattest und dann das Gleiche mit mir vorhattest?«

»Natürlich nicht.«

»Und bei der Geschichte bleibst du, ja?«

»Gibt’s noch ’ne andere Geschichte?«

Die Geschichte, die Isis’ Fotos erzählen, dachte Hayley. Aber sie sprach es nicht aus. Stattdessen gab sie Parker die CD zurück und sagte ihm, er solle sie behalten.

»Das sollte dir nicht so viel ausmachen, Hayley.« Isis hatte vor der Tür des Probenraums gewartet, als Hayley herauskam.

»Ist keine große Sache«, erwiderte Hayley, obwohl das gelogen war. Sie hatte gedacht, sie würde eine Sorge weniger haben, wenn sie Parker den Laufpass gab, doch so war es nicht. Was war bloß los mit ihr?, fragte sie sich. War sie in den Mistkerl verliebt? Es war, als hätte er sich in ihrem Kopf eingenistet.

Da die Türen der Aula verschlossen waren, zog Isis sie in die Mädchentoilette. Sie überprüfte die Kabinen, sah, dass eine besetzt war, und wartete ungeduldig, während ein Mädchen sich fertig machte und ging. Dann drehte sie sich zu Hayley und sagte: »Ich erzähl dir jetzt genau, wie es passiert es.«

»Es interessiert mich nicht, wie es passiert ist. Mich interessiert nur, dass er gelogen hat.«

»Mann, Hayley, hättest du in derselben Situation nicht auch gelogen? Da steht er bei dir auf der Veranda und hofft, mit eurer Beziehung einen Schritt weiter zu gehen, und du redest von mir und dass wir Sex hatten. Was hast du erwartet? ›Ja klar, Isis und ich haben es getan, aber es war keine große Sache im Vergleich zu meinen Gefühlen zu dir.‹ Was hättest du an seiner Stelle getan?«

»Ich hoffe, ich hätte die Wahrheit gesagt«, erwiderte Hayley.

Isis kramte in ihrer Handtasche. Sie holte ihre elektrische Zigarette heraus und sagte: »Ich erzähl dir jetzt, was passiert ist.«

»Ich will es nicht hören …«

»Wenn du dir nicht anhörst, was wirklich war, stellst du dir nur alle möglichen Sachen vor. Wir waren im Baumhaus. Ich weiß nicht, warum er sagt, dass wir nicht dort waren. Wahrscheinlich hat er einfach nur Panik gekriegt, als du mit mir angefangen hast. Aber wir waren dort und haben Gras geraucht. Wir waren richtig high, und er hat mich geküsst, und ich habe ihn geküsst, weil, wenn dieser Typ was kann, dann ist es küssen. Jedenfalls, bevor wir richtig darüber nachdenken konnten … Ich meine, wer denkt schon nach, wenn jemand so scharf ist.«

»Ich will es nicht hören …«

»Du musst aber. Also wir haben uns komplett ausgezogen und haben … du weißt schon … wir haben’s wie die Karnickel getrieben. Und okay, es war klasse, aber das hat nichts zu bedeuten, weil ich es sowieso nur gemacht habe, um mich an Brady zu rächen. Ich weiß, dass er sich meine Facebook-Seite ansieht, weil er sein halbes Leben auf Facebook verbringt. Deshalb war ich sicher, dass er die Bilder von mir mit Parker sehen würde. Aber es hat uns beiden überhaupt nichts bedeutet. Es war einfach nur Sex. Ich wette, er hat die ganze Zeit an dich gedacht. Er ist total verrückt nach dir, und es wäre völlig bescheuert von dir, ihn abzuservieren, nur weil er und ich … Weil, wie ich schon gesagt habe, es ging nicht um ihn und mich. Es ist einfach passiert.«

»Wann?«, fragte Hayley. »Wann wart ihr zwei im Baumhaus?«

Isis dachte darüber nach. »Ich habe ihn gefragt, ob er mit mir ins Pub auf der Second Street gehen will. Ich habe ihn eingeladen. Verstehst du? Er hat mich nicht mal gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will. Und, Hayley, du musst mir das einfach glauben, okay? Ich habe das alles geplant.«

»Was?«

»Du weißt schon. Schau, ich musste dafür sorgen, dass irgendwas passiert, damit ich Brady mit den Fotos auf Facebook eifersüchtig machen kann. Ich glaube, Parker hätte mir nicht mal mein Oberteil ausgezogen. Ich musste es selbst tun. Und okay, er hat sich darauf eingelassen. Ich musste ihn nicht gerade nötigen. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich diejenige war, die …«

Hayley unterbrach sie, denn ihr war etwas eingefallen, das nur indirekt mit dem zu tun hatte, was Isis ihr erzählte. Sie sagte zu Isis: »Was ist mit dem Ring?«

»Was willst du …« Isis verstummte und fing an, zu überlegen. Schließlich ging es ihr auf, und sie fragte: »Meinst du Bradys Ring?«

»Hast du ihn an dem Abend getragen? Hast du ihn abgenommen? Du hättest bestimmt nicht gewollt, dass dir so ein sperriges Ding in die Quere kommt. Oder Parker hätte es nicht gewollt und hat ihn dir vielleicht abgenommen. Isis, was ist mit dem Ring passiert?«

Isis’ Mund bildete ein O. Aber dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Du glaubst doch nicht wirklich, dass Parker ihn genommen hat. Komm schon, Hayley. Dazu ist er viel zu nett.«

»Hattet du den Ring noch, als du das Baumhaus verlassen hast?«

»Ja klar. Muss ich wohl. Denn ich hab ihn, glaub ich, abgenommen, als ich nach Hause gekommen bin. Ich hab geduscht, und ich hätte nicht mit dem Ring geduscht, deshalb hätte ich ihn … Oh, ich bin sicher, dass ich ihn hatte, Hayley.«

»So wie du die hier noch hattest?« Hayley zeigte mit dem Kopf auf Isis’ elektrische Zigarette.

»Bestimmt nicht«, gab Isis zurück. »Er hat den Ring nicht. Denn wenn ich ihn vergessen hätte, hätte er ihn mir doch bestimmt zurückgegeben.« Isis zog an ihrer Zigarette. Ihre Augen trübten sich, und ihr Ausdruck war ernst. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den Ring genommen hat, nur um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Jedenfalls hoffe ich es nicht«, sagte sie.

»Wir wissen, dass er ein Lügner ist, Isis.«