KAPITEL 47
Parker verließ mit dem stellvertretenden Sheriff das Haus, kam aber an dem Abend nicht mehr zurück. Becca hatte nicht die geringste Ahnung, wo er und Dave Mathieson hingegangen waren, doch die Tatsache, dass der stellvertretende Sheriff persönlich bei ihnen aufgetaucht war, ließ nichts Gutes für Parker verheißen. Das sollte sie eigentlich beunruhigen, aber sie machte sich viel mehr Sorgen, wie sie jetzt Laurel eine Nachricht übermitteln sollte – Parker war ihre letzte Chance gewesen.
Sie musste warten, bis sich wieder eine Gelegenheit bot, mit ihm zu sprechen. In der Zwischenzeit beschloss sie, seiner Bitte nachzukommen und mit Hayley zu reden.
Sie musste sie nur in einem Moment abpassen, in dem sie mit ihr reden konnte, ohne dass Isis in der Nähe war. Und das war eigentlich nur der Fall, wenn Hayley Dienst am Empfang im Verwaltungsflügel der Highschool hatte.
Becca suchte sie dort auf und musste dafür eine Stunde schwänzen, was sich, wie es aussah, nicht vermeiden ließ. Sie nahm ihren Hörer aus dem Ohr, um sich von Hayleys Flüstern leiten zu lassen.
Hayley war extrem blass. Auch wenn sie von Natur aus sehr hellhäutig war, sah sie jetzt aus, als wäre ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Becca trat an die Empfangstheke und Hayley blickte von irgendeiner Hausaufgabe auf. Sie lächelte schwach. Becca fragte: »Bist du beschäftigt?«
»Statistik«, antwortete Hayley und zeigte auf eine Art Diagramm, das sie gerade zeichnete. »Das und Telefondienst«, fügte sie hinzu. »Momentan ist es so ruhig, dass ich auf der Stelle einschlafen könnte.« Das muss aufhören … er ist immer da … wenn Mom nichts dagegen tut … so ein Schwein … unmöglich … schwirrte in ihrem Kopf herum.
Becca runzelte die Stirn. Es kam ihr so vor, als wären alle Fortschritte, die sie mit ihrer Gabe gemacht hatte, wie weggeblasen, seit ihr klar geworden war, dass sie Jeff Corries Flüstern falsch interpretiert hatte. Sie war sich nicht sicher, wie sie das wieder wettmachen konnte oder ob sie es nicht einfach gleich lassen sollte. Sie sagte: »Parker hat mich gebeten …«
Nein nein nein nein.
Das war deutlich genug, dachte Becca. »… mit dir zu reden«, beendete sie den Satz.
»Das hast du ja jetzt. Damit bist du deiner Verpflichtung nachgekommen«, gab Hayley scharf zurück.
Becca wand sich innerlich. Es gefiel ihr nicht, die Vermittlerin zu spielen, und der Grund, warum Parker sie darum gebeten hatte, gefiel ihr erst recht nicht. Aber da sie bereits den ersten Schritt getan hatte, wollte sie nicht einfach so aufgeben. Schlimmer konnte es zwischen den beiden ohnehin nicht werden. Sie sagte: »Es ist nur so, dass er ein total schlechtes Gewissen hat wegen dem, was passiert ist, und er wollte, dass ich …«
»Weißt du, was passiert ist?« Hayley warf den Buntstift beiseite, mit dem sie das Diagramm gezeichnet hatte. »Hat er es dir erzählt? Wenn ja, ist es der absolute Hammer, dass er dich bittet, mir überhaupt irgendetwas auszurichten, okay?«
»Er weiß, dass er Mist gebaut hat. Er will einfach nur eine Chance, mit dir zu reden.«
»Damit er mich dann wegen was anderem anlügen kann. Ich will aber nicht zuhören. Und du hast meine Frage nicht beantwortet. Weißt du, was er getan hat?«
Becca wurde es ganz heiß. Sie sagte: »Isis.«
»Genau. Parker und Isis, und dann hat er gelogen. Ich kann Lügner nicht ausstehen, Becca. Das kannst du ihm von mir ausrichten.«
»Er hofft einfach nur, dass du ihm noch eine Chance gibst. Nur, um zu reden. Ich glaube, er will sich entschuldigen.«
»Super. Es tut ihm leid. Sag ihm, dass du es mir ausgerichtet hast und ich zugehört habe, und damit ist die ganze Sache für mich erledigt, ganz gleich, was er sonst noch zu sagen hat. Schau, du hast Derric. Du kannst dich auf ihn verlassen. Das möchte ich auch. Mich auf jemanden verlassen können. Auf Parker kann man sich aber nicht verlassen. Er ist ein Lügner, was schade ist, und damit war’s das.«
Becca dachte kurz darüber nach, was es bedeutete, sich auf jemanden vollkommen verlassen zu können. Sie wusste, dass man sich nie vollkommen auf jemanden oder etwas verlassen konnte. Daher sagte sie: »Nur manchmal haben Leute … Dinge passieren, die sie nicht wirklich beabsichtigt haben, oder es tut ihnen leid, dass sie es getan haben, oder sie haben nicht richtig nachgedacht. Und wenn das passiert …«
»Wenn was passiert?«, meldete sich eine andere Stimme zu Wort.
Becca wirbelte herum, obwohl sie wusste, wer da sprach. Isis Martin stand da und trug ein riesiges Plakat, auf dem TOILETTENGANGGENEHMIGUNG stand. Sie warf es achtlos auf einen Stuhl im Empfang, kam zur Theke herüber, beugte sich über sie und fragte: »Was ist los?«
»Parker will mit mir reden«, erklärte ihr Hayley. »Er hat Becca vorgeschickt, damit sie mich fragt.«
Isis blickte in Beccas Richtung und schätzte sie mit ihren kühlen blauen Augen ab. Becca dachte, sie würde Hayley davon abraten, aber Isis erwiderte zu ihrer Überraschung: »Du solltest mit ihm reden. Du weißt, dass das zwischen ihm und mir keine große Sache war.« Und dann fragte sie Becca: »Wo ist er? Draußen?«
»Ich glaube, er ist beim Sheriff«, sagte Becca.
»Was?«, entfuhr es Isis.
»Der Sheriff ist gestern Abend vorbeigekommen und wollte mit ihm reden, und dann sind sie zusammen irgendwohin gefahren. Normalerweise kommt er zum Frühstück ins Haus, also Mr Darrows Haus, aber heute ist er nicht aufgetaucht.«
»Wahrscheinlich ist er zurück nach Kanada«, meinte Hayley. »Wahrscheinlich haben sie ihn abgeschoben.«
»Wenn ihr mich fragt, hatte es nichts damit zu tun, dass er zurück nach Kanada musste«, erklärte Becca. »Der Sheriff hat ihm nicht gesagt, dass er seine Sache mitnehmen soll.«
Isis wandte sich an Hayley. »Der Sheriff befragt ihn bestimmt zu den Bränden. Was könnte es sonst sein?«
Der Ring … aber was hätte das mit … überhaupt über ihn weiß? … er hat bestimmt mit der kanadischen Polizei gesprochen, und wenn er etwas herausgefunden hätte … hatte er vor … er hätte gewusst, dass diese Zigarette … wenn er also den Ring hatte … Lügen Lügen Lügen und noch mehr Lügen …
Das Flüstern beider Mädchen schwappte in großen trüben Wellen über Becca hinweg und brachte sie völlig durcheinander. Sie verstand lediglich, dass Parker irgendetwas mit einem Ring zu tun hatte, der entweder irgendetwas mit Isis oder mit Hayley zu tun hatte. Was das aber mit allem anderen zu tun hatte, war ihr ein Rätsel.