KAPITEL 49
Seth und Prynne hatten bald ein Ritual entwickelt. Sie trafen sich zweimal in der Woche. Entweder fuhr er nach Port Townsend, wo sie ihn an der Fähre abholte, oder sie nahm die Fähre nach Whidbey, wo er sie abholte. Wenn sie nach Whidbey kam, probte sie oft mit Triple Threat. Sie passte perfekt in die Band. Doch was Seth am besten an ihr gefiel, war, dass sie ihn verstand. Noch nie hatte er sich in der Gegenwart eines anderen Menschen so selbstsicher gefühlt.
Er hatte das Stadium erreicht, in dem er mit ihr vor seinem gesamten Bekanntenkreis angeben wollte. Deshalb nahm er sie mit zur Smugglers Cove Blumenfarm: Er wollte sie Hayley vorstellen. Er wollte seine Freude über dieses neue Gefühl mit allen teilen: dass er in Hester Prynne Haring verliebt war.
»Ich möchte dir jemanden vorstellen, wenn das okay ist«, erklärte er Prynne, wohin sie fuhren, als er Richtung Westen in die Smugglers Cove Road einbog, nachdem er sie von der Fähre abgeholt hatte. Sie würden durch Waldgebiet und Ackerland fahren und schließlich den natürlich gewachsenen State Park durchqueren, der zwischen zwei Landspitzen gelegen war, Lagoon Point und Bush Point, von wo aus man einen weiten Ausblick auf den Meeresarm der Admiralty Bay hatte und auf die nördlich gelegene Halbinsel Olympic mit ihren schneebedeckten Hügeln.
Prynne sah ihn verwundert an, sagte aber: »Klar, ich lerne gerne deine Freunde kennen. Du hast tolle Freunde. Das spricht für dich.« Sie lächelte und zeigte auf die Augenklappe. »Soll ich lieber Mister Glasauge einsetzen? Ich hab ihn dabei.«
»Nö, lass mal«, winkte er ab.
Sie genossen die Fahrt in geselliger Stille, und auch das mochte Seth an Prynne: Sie redete gerne, aber sie war auch gerne still. Sie sprach nicht mehr viel, bis sie an der Smugglers Cove Blumenfarm angekommen waren. Seth setzte den Blinker, um in die zerfahrene Auffahrt einzubiegen, und Prynne sah sich um: »Coole Farm«, sagte sie.
Er wollte gerade am Hühnerstall vorbeifahren, als er sah, dass die Tür offen stand. Und da er wusste, dass Hayley und ihre Schwestern für die Hühner verantwortlich waren, hielt er neben der Scheune an.
Als er mit Prynne hineinging, sah er, dass Hayley alleine war und Hühnermist zusammenschaufelte. Sie trug Gummistiefel und ein weites, langes Sweatshirt über der Jeans. Ihre Brille war ihr bis zur Nasenspitze hinuntergerutscht, und ihr Gesicht glänzte vor Schweiß.
»Brauchst du Hilfe?«, rief er ihr zu.
Sie sah hoch. »Brooke sollte mir helfen, aber darauf kann ich ewig warten.«
»Hast du noch eine Schaufel?«
»Auf keinen Fall, Seth. Hier drin ist es zu eklig.« Sie kam zu ihnen und sagte: »Du bist Hester Prynne Haring. Ein echt cooler Name, außer wenn die Leute dich fragen, wo dein scharlachroter Buchstabe ist.«
»Deshalb nenne ich mich auch Prynne. Irgendwann ist es nicht mehr lustig.«
»Das verstehe ich«, räumte Hayley ein.
»Wir können dir bei der Arbeit helfen«, schlug Prynne ebenfalls vor. »Echt.«
»Bah. Nein. Ich wunder mich schon, dass ihr den Gestank überhaupt aushaltet.«
»Das ist der Duft der Natur.«
»Das ist das einzig Positive daran.«
Die beiden Mädchen lachten, und Seth strahlte. Hayley fragte, was die beiden vorhatten. Obwohl es schon mitten im Herbst und recht frisch war, war es ein schöner Tag, und Hayley sagte, dass sie auch nichts dagegen hätte, ein bisschen rauszukommen. Seth sagte, dass sie nichts Besonderes vorhätten. »Ein bisschen zusammen abhängen«, meinte er. »Mal sehen, was sich ergibt«, ergänzte Prynne.
»Hast du deine Geige dabei?«, fragte Hayley. »Denn ich …«
In diesem Augenblick kam Parker Natalia in die Scheune gestapft. Er wirkte aufgewühlt, und das gefiel Seth gar nicht. Doch er schien sich zusammenzureißen, als er näherkam. Seth und Prynne begrüßten ihn. Hayley sagte nichts, und Seth bemerkte ihren versteinerten Gesichtsausdruck.
»Kann ich mit dir sprechen«, fragte Parker Hayley. Und mit einem Seitenblick auf Seth fügte er hinzu: »Allein?«
Seth sah von einem zum anderen und spürte, wie Prynne seine Hand nahm. Sie sagte: »Wir gehen dann mal. Hayley, falls du heute noch nach Langley fährst … Wir spielen vielleicht im Gemeindezentrum. Stimmt’s, Seth?«
»Ähm … klar.« Seth ließ sich von Prynne sanft mit zur Tür ziehen. Hinter sich hörte er Parker: »Wir haben ein paar Sachen zu besprechen«, und Hayley antwortete: »Ich wüsste nicht, was.«
Dann hörte Seth, wie Parker fluchte, und seine Alarmglocken gingen los. Kaum waren sie draußen, sagte er zu Prynne: »Warte kurz hier, okay?«, und zeigte dabei mit dem Kopf Richtung Stacheldrahtzaun, der das Feld neben der Scheune säumte.
»Bist du sicher?«, fragte sie. »Ich glaub, das ist was Persönliches zwischen den beiden.«
»Das ist es ja gerade.«
Als Seth zum Scheunentor zurückging, hörte er, wie sich die beiden drinnen stritten. Hayley sagte: »Oh, bitte. Die Zigarette war in deinem Schlafsack, und vielleicht guckst du dir gelegentlich mal ihre Facebook-Seite an.«
»Darum geht’s also? Ich mache eine Dummheit mit der durchgeknallten Blondine, die mich angemacht hat, als wär ich der letzte Mann auf der Welt, und das war’s?«
»Es geht nicht darum, was du mit Isis gemacht hast. Es geht darum, dass du gelogen hast. Was du wo und wie oft mit Isis gemacht hast, ist mir völlig egal. Aber Lügner kann ich nicht ausstehen, und ich will keinen Lügner in meinem Leben.«
»Hast du deshalb den Sheriff angerufen? Der mich dann nach Coupeville mitgenommen hat, um …«
»Ich hab den Sheriff nicht angerufen!«
»Ach, wirklich? Wer war es dann?«
Da betrat Seth die Scheune. »Ich«, sagte er. »Und ich habe den Sheriff nicht angerufen, sondern bin zu ihm gefahren.«
Parker wirbelte herum. Sein Gesicht war knallrot vor Wut, und er rief aus: »Was zum Teufel …«
»Ich hab ihm gesagt, er soll dich überprüfen, weil du schon so lange auf der Insel bist. Du warst bereits hier, als das erste Feuer ausgebrochen ist. Der einzige Fehler, den Hayley begangen hat, war, dass sie sich in dich verknallt hat.«
Parker starrte erst Seth und dann Hayley an, und dann schüttelte er den Kopf. »Oh, Mann. Ich hau ab.« Und damit stapfte er aus der Scheune.
Hayley und Seth sahen sich an. Hayleys Wangen glühten. Sie hielt immer noch die Schaufel fest, mit der sie zugange war, als er und Prynne hereingekommen waren. Jetzt stützte sie ihren Kopf auf den Griff.
Er wusste, wie sie sich fühlte, doch er wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Also sagte er: »Verdammt, tut mir echt leid, Hayl. Ich hab’s wohl für dich vermasselt.«
Sie schüttelte den Kopf, schaute aber nicht hoch. »Er hat es sich selbst vermasselt.« Und sehr viel leiser fuhr sie fort: »Ich bin so müde.«
Seth ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Komm, ich helf dir«, schlug er vor.
»Nein. Kümmer dich lieber um Prynne.« Dann sah sie hoch. »Danke, dass du sie mitgebracht hast, Seth. Sie ist toll. Mach es nicht kaputt.«
Er nickte, doch er fühlte sich ihr gegenüber noch immer verpflichtet, und das würde sich wahrscheinlich auch nie ändern. Er würde etwas tun, um Hayleys Situation zu verbessern, das schwor er sich.
Draußen stand Prynne am Zaun, stützte sich mit den Händen auf einen Pfosten und sah hinaus aufs Feld, das zu dem großen Wald hin, der sich hinter dem Teich jenseits des Grundstücks erstreckte, sanft, aber merklich anstieg. Als Seth sich neben sie stellte, bemerkte sie: »Das ist so ein tolles Anwesen. Warum machen sie nichts daraus? Pferde züchten, Schafe, Kühe oder Ziegen. Oder auch Ackerbau. Für Getreideanbau wäre das ideal.«
Seth war nicht sicher, wie er sich ausdrücken sollte, und entschied sich schließlich für: »Hayleys Dad geht es nicht gut, und Hayley, ihre Mom und ihre kleinen Schwestern schaffen gerade mal das Nötigste, um die Farm weiter zu betreiben. Aber das ist nicht so leicht. In den letzten paar Jahren ist alles irgendwie den Bach runtergegangen.« Er seufzte. »Ich wünschte, ich wüsste, wie ich ihnen helfen kann.«
Prynne sah wieder nachdenklich aufs Feld hinaus. Seth wusste, dass sie etwas ausheckte. Aber sie wollte nichts sagen. Stattdessen warf sie ihm von unten einen Blick zu und fragte: »Sie ist deine Ex, oder?«
Zunächst sagte Seth nichts, doch er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er hatte sich nichts dabei gedacht, als er Prynne mit zu Hayley genommen hatte, aber plötzlich sah er ein, wie sie diesen Ausflug zur Smugglers Cove Blumenfarm auslegen könnte. Doch vor dem Hintergrund von Hayleys Streit mit Parker wollte er auf jeden Fall die Wahrheit sagen. »Schon lange nicht mehr. Sie ist schon lange nicht mehr meine Freundin, meine ich.«
Prynne lächelte. »Kein Problem. Kann verstehen, dass du mich ihr vorstellen wolltest. Aber nächstes Mal sagst du vorher Bescheid, ja? Ich mag es nicht, überrumpelt zu werden. Denn das passiert einem oft, wenn man nur ein Auge hat.«
Sie zeigte auf ihre Augenklappe und lachte. Seth nahm sie bei den Schultern und drückte ihr einen dicken Kuss auf den Mund.
Auf dem Weg nach Langley sahen sie Brooke Cartwright etwas außerhalb von Freeland. Sie hatte einen großen Sack dabei, den sie neben der Schnellstraße abgestellt und auf den sie sich gesetzt hatte. Sie befand sich nicht weit vom größten Geschäft für Landwirtschaftsbedarf auf der ganzen Insel. Das erklärte, wo sie gewesen war, aber nicht, warum sie am Straßenrand saß.
»Was macht die da?«, fragte Seth und fuhr an die Seite. Er hielt den Wagen kurz hinter ihr an.
»Wer ist das?«, fragte Prynne. »Hayleys Schwester«, antwortete er, stieg aus dem Wagen aus und rief: »Brooke! Was machst du hier?«
Brooke drehte langsam den Kopf zu ihm um, während Seth näherkam. Er konnte hören, wie Prynne hinter ihm ebenfalls aus dem Auto stieg. »Was machst du hier?«, fragte er noch einmal. »Wartest du auf deine Mom?«
Brooke schüttelte den Kopf. Sie schien schlechter drauf zu sein denn je und sagte: »Ich warte auf den Bus. Hab Hühnerfutter gekauft.«
»Warum hat Hayley dich nicht gefahren? Sie arbeitet im Hühnerstall. Wir waren gerade dort.«
»Hayley ist sauer auf mich. Sie hat gesagt, sie fährt mich nirgendwohin. Dabei habe ich’s doch gar nicht gewusst. Ich mach das doch nicht absichtlich.«
Seth sah fragend zu Prynne hinüber, als könne sie ihm Brookes Worte übersetzen, doch die zuckte nur mit den Achseln. Da sagte Seth: »Komm, steh auf. Prynne und ich bringen dich nach Hause.«
»Dann ist Hayley noch böser auf mich.«
Das arme Mädchen klang so untröstlich, dass Seth die Hand ausstreckte: »Komm, keine Widerrede«, und als sie seine Hand nahm und sich hochziehen ließ, umarmte er sie. Zu seiner großen Überraschung fing sie an zu weinen.
»Hey, hey, hey!«, sagte Seth. »Was ist denn los?«
»D… D… Dad«, schluchzte sie. »Er hat sich den Arm gebrochen. Und Hayley sagt, es ist meine Schuld, weil ich nicht auf ihn aufgepasst habe. Wir mussten ihn ins Krankenhaus bringen, dabei sind wir gar nicht versichert, und ich hab doch gar nicht …« Sie schluchzte herzzerreißend.
Prynne berührte Brookes Schulter und sagte: »Natürlich ist es nicht deine Schuld, und ich wette, das weiß deine Schwester auch. Wahrscheinlich hat sie nur einen Schreck bekommen und sich deshalb so aufgeregt.«
»N… n… nein. Sie hasst mich, und es war meine Schuld, und jetzt sind alle sauer auf mich, dabei versuche ich doch, alles richtig zu machen. Aber sie sagt, ich denk nur an mich, aber das stimmt nicht, denn wenn ich mir Zeug reinstopfe, das ich eigentlich nicht essen soll, mach ich das nur, weil …«
»Schon gut«, sagte Seth. Er nahm den Sack mit dem Hühnerfutter hoch und fügte hinzu: »Du kommst jetzt mit uns mit, Brooke.«
Sie zogen sie zum Auto und mussten sie geradezu nötigen einzusteigen. Auf dem Weg zur Farm erfuhren sie von Brooke, was los war, zumindest was Bill Cartwright betraf. Brooke erzählte die Geschichte mit Pausen und unter Schluchzern, und als Seth in die Auffahrt der Farm einbiegen wollte, bat sie ihn, sie aussteigen zu lassen, damit sie das letzte Stück zu Fuß gehen konnte. Er versuchte, Brooke zu überzeugen, dass Hayley sich bestimmt nicht aufregen würde, wenn sie erführe, dass Seth sie nach Hause gefahren hatte, doch das gelang ihm nicht, und schließlich gab er nach.
Brooke stieg aus, und Seth legte ihr den Sack mit dem Hühnerfutter in den Arm. Er fand, der Sack war viel zu schwer, als dass sie ihn allein zum Hühnerstall tragen konnte, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Also ließ er sie gehen und beobachtete sie, während sie sich der Farm näherte. Sie stolperte einmal, und er musste sich zurückhalten, um nicht loszulaufen und ihr zu helfen. Die ganze Zeit fragte er sich, wie er den Cartwrights helfen konnte.
Prynne stieg ebenfalls aus und stellte sich neben ihn. Auf halbem Weg zur Scheune hielt Brooke inne, stellte den Sack ab, setzte sich darauf und legte das Gesicht in die Hände.
»Fängt sie wieder an zu weinen?«, fragte er seine Freundin.
»Ich glaube, irgendwas stimmt nicht mit ihr, Seth«, befürchtete Prynne. »Ich glaube, es ist schlimm, aber sie will nicht, dass ihre Familie es erfährt.«