KAPITEL 50

Becca hatte beschlossen, Derric von seiner Schwester zu erzählen, weil sie fair zu ihm sein wollte. Er hatte ein Recht, es zu erfahren.

Zuerst wollte sie es ihm am Telefon sagen. So hätte sie keine Möglichkeit, sein Flüstern zu hören. Aber dann fand sie das feige. Also wartete sie, bis sie beide mehr oder weniger allein waren, damit er sehen konnte, dass sie nicht versuchte, ihn zu irgendetwas zu drängen.

Und das ging nur zu einer bestimmten Tageszeit: früh am Morgen im Kraftraum der Schule. Dort machte Derric nicht nur Gewichtstraining, sondern auch Übungen, um sein Bein zu stärken, das er sich im Jahr zuvor gebrochen hatte.

Als Becca in den Kraftraum kam, war nur noch ein anderer Junge dort, ein Football-Spieler, der Kopfhörer auf und einen iPod an die Shorts geklemmt hatte, während er stöhnend sein Hanteltraining absolvierte. Derric trainierte Bankdrücken. Er hatte niemanden, der ihm Hilfestellung gab, was nicht sehr schlau war, aber darüber wollte Becca jetzt nicht mit ihm diskutieren.

Sie ging zu ihm und sah auf ihn hinab. Sie empfand, was sie immer empfand, wenn sie ihn zum ersten Mal am Tag sah: eine Wärme, die ihren gesamten Körper durchdrang. Und sie dachte, was sie immer dachte: Womit habe ich Derric verdient? Ihre Großmutter hätte ihr gesagt, es läge an der Chemie. Bei manchen funkte es, bei anderen nicht. Zwischen Derric und ihr hatte es direkt am ersten Tag gefunkt. Und sie wusste noch immer nicht, warum.

Sie sagte: »Sieht gut aus. Wie läuft’s? Was macht das Bein?«

Er lächelte. »Wie kommst du so früh hierher?«

»Mit dem Fahrrad, mit dem Bus und wieder mit dem Fahrrad.«

»Warum hast du nicht angerufen? Dann hätte ich dich abgeholt. Und wir hätten irgendwo kurz Pause machen können. Du weißt schon«, erklärte er grinsend. »Nur fünf Minuten. Oder zehn. Oder eine Stunde.«

»Dadurch wird dein Bein aber nicht besser.«

Er hängte die Gewichte über sich ans Gestell, setzte sich hin und stellte die Beine auf den Boden. Dann griff er nach seinem Handtuch, wischte sich den Schweiß ab und sagte: »Mein Bein vielleicht nicht. Aber meine Lippen könnten auch ein wenig Training gebrauchen.«

Sie lachte und setzte sich neben ihn. Der beste Weg war, es direkt anzusprechen. Deshalb sagte sie leise: »Derric. Ich habe Freude gefunden. Sie lebt auf einer Farm in La Conner. Die Farm heißt Broad Valley Züchter, und Freude ist schon seit vielen Jahren dort. Wahrscheinlich ist sie mit vier oder fünf dorthin gekommen. Sie wurde adoptiert, genau wie du, nur, dass ihre Familie insgesamt fünf oder sechs Kinder hat. Es ist Freude. Ich habe sie selbst gesehen.«

Er sagte kein Wort. Becca wusste weder, was er fühlte, noch was er dachte, und war stark versucht, den Stöpsel der AUD-Box aus dem Ohr zu nehmen, um zu erfahren, was in ihm vorging. Doch sie hielt sich an ihren Vorsatz und tat es nicht, um ihm seine Privatsphäre zu lassen.

Dann sagte er: »Wie …?«

Und sie erzählte ihm alles. Von der Nachricht, die Ralph Darrow aufgeschrieben hatte, und dass er sich nicht mehr erinnern konnte, für wen die Nachricht bestimmt war, dass sie mit Seth hingefahren war, um herauszufinden, ob jemand mit ihr, mit Parker oder mit Seth Kontakt aufnehmen wollte, oder ob sie vielleicht etwas mit den Feuern auf der Insel zu tun hatte, aber dass keiner auf der Farm etwas von dem Telefonanruf wusste. Das war zwar noch nicht alles, doch mehr wollte sie ihm nicht sagen. Nichts über Laurel, Jeff Corrie und Connor West und über das Chaos, das sie in San Diego angerichtet hatte. Dass sie ihm von Freude erzählt hatte, war genug.

»Sie kam mit den anderen Kindern aus der Scheune gelaufen«, schloss Becca. »Derric, ich wusste sofort, dass es Freude war. Sie sieht genauso aus wie du, nur als Mädchen.«

Er sagte immer noch nichts. Sie dachte, dass er vielleicht versuchte, seine Wut zu zügeln, weil sie sich schon wieder eingemischt hatte. Aber das hatte sie diesmal ja gar nicht, und das hätte sie ihm am liebsten gesagt. Doch sie tat es nicht. Stattdessen fügte sie hinzu: »Nachdem ich sie gesehen habe, bin ich zu Reverend Wagner gegangen.« Sie konnte sehen, wie sich sein Ausdruck veränderte und seine Gesichtszüge härter wurden. »Ich hab nicht viel gesagt. Ich wollte nur wissen, ob er derjenige war, der bei Mr Darrow angerufen hat. Und er hat Ja gesagt.« Sie erzählte ihm auch, wie Reverend Wagner Freude über die amerikanischen Niederlassungen des Children’s Hope-Waisenhauses aufgespürt hatte.

»Ich habe nicht lange nachgehakt, denn das Wichtigste war ja, dass Freude vor langer Zeit adoptiert worden ist.« Sie wollte, dass er etwas sagte. Doch als noch immer keine Reaktion kam: »Wie auch immer.« Und Derrics Schweigen hielt an. »Das wollte ich dir nur sagen. Reverend Wagner wird übrigens nichts davon weitererzählen. Das hat er mir versprochen. Aber eigentlich …« Derric warf ihr einen finsteren Blick zu, und Becca las darin eine gewisse negative Erwartung. Er dachte – und das konnte sie ihm nicht verübeln, nachdem sie so viel in seinem Leben herumgepfuscht hatte –, dass sie jetzt anfangen würde, all die schönen Dinge aufzuzählen, die er nun mit seiner Schwester unternehmen könnte. Doch sie sagte bloß: »Ich wollte nur, dass du aufhörst, dir Sorgen um sie zu machen und dich zu fragen, wo sie ist und ob ihr was Schlimmes passiert ist, denn das ist es nicht.«

Er nickte und schluckte schwer. Sie sagte: »Hey«, und er sah sie an. Sein Gesichtsausdruck traf sie tief, denn sie sah, wie ihm rasch die Tränen in die Augen stiegen. »Eins musst du wissen. Ich liebe dich. Und ich werde immer für dich da sein. Jetzt und in Zukunft.«

Sie hatte sowohl die Telefonnummer als auch die Adresse der Broad Valley Züchter dabei. Doch sie ahnte, dass es der falsche Augenblick war, sie Derric aufzudrängen. Wenn er so weit war, würde er von sich aus danach fragen.

Becca war dabei, Spaghetti und Fleischbällchen zu kochen, als Seth vorbeikam. Ralph war in seiner Werkstatt und reparierte eine Lampe, die ihm eine seiner vielen weiblichen Bekannten gebracht hatte. Diese spezielle Freundin war eine von vielen Künstlerinnen, die auf der Insel lebten, eine dunkelhäutige Glasbläserin in einem riesigen Overall. Sie war ein paar Stunden vorher auf Ralphs Veranda gestapft und hatte gebrüllt: »Darrow! Guck dir mal die Lampe hier an. Komm raus! Ich bin vorhin in Pferdescheiße getreten, und die will ich nicht in deinem Haus verteilen.«

Ralph hatte am Küchentisch gesessen und war dabei, die Post aufzumachen. »Bei meiner Seele«, murmelte er. »Die gute alte Kathy Broadvent spricht wieder mit Engelszungen.« Dann ging er hinaus und begann eine lautstarke Unterhaltung mit der Frau, wobei beide wild mit den Armen gestikulierten.

Als Seth kam, fragte er nach Parker. Er wollte mit ihm sprechen und wissen, ob er zum Abendessen ins Haus kommen würde. Becca hatte ihn nicht gesehen. Aber sein Auto stand auf dem Parkplatz, also ging sie davon aus, dass er im Baumhaus war. Wahrscheinlich würde er zum Abendessen kommen. Außerdem fügte sie noch hinzu, dass Dave Mathieson aufgetaucht war, um mit ihm zu sprechen.

Wie sich herausstellte, wusste Seth darüber Bescheid. Er selbst hatte Dave Mathieson informiert, der daraufhin mit Parker hatte sprechen wollen. Der Grund war, dass Parker kurz vor dem ersten Feuer auf Whidbey Island angekommen war. »Na ja … Und ich hab dem stellvertretenden Sheriff wohl gesagt, wann Parker hergekommen ist.« War vielleicht dumm, vielleicht auch nicht, fügte er in Gedanken hinzu.

Becca musterte ihn. »Du hast es ihm wohl gesagt?«

»Na gut. Ich habe es ihm gesagt. Als mir klar wurde, wie lange er schon auf der Insel ist, hielt ich das für richtig. Aber ehrlich gesagt waren meine Motive nicht ganz uneigennützig. Und er dachte, dass Hayley ihn beim Sheriff angeschwärzt hat.« Das Richtige tun … Prynne würde wollen …

Becca beachtete seine Gedanken nicht. Am liebsten hätte sie ganz aufgehört, das Flüstern anderer zu beachten, also schaltete sie ihre AUD-Box ein und steckte sich den Kopfhörer ins Ohr. »Wegen Isis«, klärte sie ihn auf.

»Was ist wegen Isis?«

»Ihretwegen hat Parker geglaubt, dass Hayley zum Sheriff gegangen ist.« Und dann lieferte sie ihm alle Details: Isis, Parker, das Baumhaus und die Lügen. »Sex«, schloss sie. »Parker und Isis haben miteinander geschlafen.«

»Er hat mit Isis geschlafen und Hayley angelogen?«

»Sieht so aus. Hayley sagt, sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben, aber er will eine zweite Chance und hat mich gebeten, mit ihr zu reden.«

»Heftig«, stieß Seth hervor. »Aber ehrlich gesagt …«

»Was?«

»Wer weiß, wann er sonst noch gelogen hat, Beck.«

Als wollte er die Frage selbst beantworten, trat in diesem Augenblick Parker ins Haus. Er zog seine Jacke aus und kam in die Küche. Als er Seth sah, schien er zu zögern. Er blickte Seth in die Augen, und Becca bemerkte, dass es Seth war, der wegschaute, nachdem sie sich zur Begrüßung kurz zugenickt hatten.

Sie begrüßte Parker mit: »Hey. Hast du Hunger? Ich habe massenweise Spaghetti gekocht.« Sie sprach in freundlichem Ton und versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. »Aber du musst versprechen, es nicht mit dem Essen im Restaurant deiner Eltern zu vergleichen.«

»Klar«, war alles, was Parker antwortete.

Es herrschte eine lange, unangenehme Stille, bis ein Kratzen an der Haustür darauf hindeutete, dass Seth Gus mitgebracht hatte. Und als Parker die Tür aufmachte, sprang der Labrador ins Haus, ohne etwas von der Spannung mitzubekommen, die hier herrschte.

Schließlich brach Seth das Schweigen: »Hör mal. Tut mir leid, dass dich der Sheriff gelöchert hat. Aber die Situation ist ernst. Immerhin ist jemand gestorben, und jemand anders ist dafür verantwortlich …«

»Und du bist es natürlich nicht«, unterbrach Parker ihn spitz.

»Bei zweien der Feuer war ich nicht auf der Insel. Aber darum geht’s nicht, denn richtig ernst ist es erst im August geworden, als es auf dem Volksfest gebrannt hat, und wir wissen beide, dass du seit Juli auf dem Campingplatz in der Nähe der Festwiese im Wagen geschlafen hast. Was hätte ich machen sollen? So tun, als wüsste ich das nicht?«

»Und bloß, weil ich seit Juli dort war, bin ich automatisch ein Brandstifter?«

Er war wütend, und Becca ging dazwischen. »An dem Abend am Strand haben sie von uns allen die Namen aufgeschrieben, Parker. Und sie haben jeden Einzelnen überprüft.«

»Den Eindruck hatte ich nicht«, widersprach Parker. »Aber was soll’s.« Dann ging er zum Tisch und setzte sich hin. Er spielte mit dem Besteck herum und Becca sah, wie aufgebracht er war. Dann fragte er sie: »Hast du mit Hayley gesprochen?«

Da verzog sie den Mund. »Ich hab’s versucht.«

»Scheiß drauf«, sagte er frustriert und atmete laut aus. »Der Sheriff und ich haben uns ›geeinigt‹«. Dabei malte er Anführungszeichen in die Luft. »Ich kann weg. Denn im Gegensatz zu Hayley halten mich die Cops für unschuldig.«

»Dann bist du nicht mehr unter Verdacht?«, fragte Seth. »Gut!«

Parker sah ihn an, und es war klar, dass er Seth ebenso wenig glaubte wie an den Weihnachtsmann. »Was mir geholfen hat, war die Tatsache, dass ich noch nie in meinem Leben in Kalifornien war«, ergänzte er. »Das ist für den Sheriff offenbar ein wichtiger Punkt.«

»Kalifornien?«, fragte Becca. »Was hat das denn damit zu tun …?« Doch langsam wurde ihr klar, was es mit Kalifornien auf sich hatte. Sie drehte sich zum Herd um und rührte in der Soße.

Dann sagte Parker: »Außerdem hat man mich aufgefordert, die USA zu verlassen, denn der Sheriff hat meinen Pass begutachtet und festgestellt, dass ich schon viel länger hier bin, als ich eigentlich darf. Also …« Und dabei sah er Seth und Becca an. »War nett euch kennenzulernen. Euch alle.«

»Du kannst Hayley keinen Vorwurf machen«, gab Seth zu bedenken.

»Was soll’s? Sie hört mir sowieso nicht zu. Ich hab sie angerufen, aber sie hat die ganze Zeit nur von irgendeinem bescheuerten Ring geredet, als hätte ich jemandem einen Heiratsantrag gemacht und sie wollte wissen, wem.«

Becca horchte auf: »Ein Ring?«

»Ob ich einen Ring gefunden habe oder ob mir Isis einen gegeben hat, wo der Ring ist oder wer den Ring hat.« Parker winkte ab, als wollte er das Thema wieder beenden.

»Der scheint ihr wichtig zu sein«, warf Seth ein.

»Ihr vielleicht, aber mir nicht«, erklärte Parker.