KAPITEL 1
Das dritte Feuer brach im August auf der Festwiese von Whidbey Island aus, und es war das erste, das ernsthaft Beachtung fand. Die ersten beiden waren nicht groß genug gewesen. Das erste Feuer war in einem Abfallcontainer draußen vor einem Lebensmittelladen in Bailey’s Corner losgegangen, einer bewaldeten Gegend weitab vom Schuss, weshalb sich die Inselbewohner nicht viel dabei dachten. Vermutlich hatte jemand zum Spaß eine brennende Wunderkerze hineingeworfen, die noch vom 4. Juli übriggeblieben war. Und als das zweite Feuer an der Schnellstraße direkt neben einem schlecht besuchten Wochenmarkt ausbrach, waren sich alle einig, dass irgendein Idiot seine Zigarette aus dem Autofenster geworfen haben musste – ausgerechnet in der trockensten Zeit des Jahres.
Beim dritten Feuer war es anders. Nicht nur, weil es auf der Festwiese ausbrach, die wenige Meter von der Schule und nur knapp einen halben Kilometer vom Dorfeingang von Langley entfernt war, sondern weil das Feuer während des Volksfestes ausbrach, als Hunderte von Menschen auf dem Rummelplatz umherliefen.
Ein Mädchen namens Becca King war auch unter ihnen, zusammen mit ihrem Freund und ihrer besten Freundin: Derric Mathieson und Jenn McDaniels. Die drei hätten unterschiedlicher nicht sein können. Becca war blond und schlank vom vielen Fahrradfahren, trug eine Brille mit dicken Rändern und so viel Make-up, als wolle sie sich für ein Revival der Rockband Kiss bewerben. Derric war ein hochgewachsener, gut gebauter und gut aussehender junger Mann afrikanischer Herkunft mit kahlgeschorenem Kopf. Und Jenn war drahtig und wirkte so, als sollte man sich besser nicht mit ihr anlegen. Ihr Haar war kurzgeschnitten wie bei einem Jungen, und sie war braungebrannt vom intensiven Fußballtraining im Sommer. Die drei saßen auf einer offenen Tribüne auf der gegenüberliegenden Seite einer Freilichtbühne, wo sich eine Band namens Time Benders auf ihren Auftritt vorbereitete.
Es war Samstagabend, und es waren mehr Menschen als an jedem anderen Abend auf dem Jahrmarkt, weil das Unterhaltungsprogramm – wie Jenn es formulierte – »nicht ganz so deprimierend war wie an den anderen Tagen.« Da traten nämlich Stepptänzer, Jodler, Zauberkünstler, Fiedler und eine Ein-Mann-Band auf. Am Samstagabend stellten ein Elvis-Imitator und die Time Benders die Highlights des Volksfestes dar.
Für Becca King, die ihr ganzes bisheriges Leben in San Diego verbracht hatte und gerade einmal ein knappes Jahr in Puget Sound wohnte, war es wie alle anderen Dinge auch, die sie nach und nach auf Whidbey Island entdeckt hatte: eine Miniaturausgabe. Die farmhausroten Buden sahen aus, wie man sie sich vorstellte, nur dass sie winzig waren im Vergleich zu denen, die sie von der Del-Mar-Rennbahn kannte, auf der die San Diego County Fair stattfand. Das Gleiche galt für die Ställe der Pferde, Schafe, Rinder, Alpakas und Ziegen. Und der Vorführring, wo die Hunde gezeigt und die Pferde geritten wurden, war nur halb so groß wie der in San Diego. Das Essen aber war genau das gleiche wie auf Jahrmärkten weltweit, und während die Time Benders nach Elvis’ letzter Verbeugung – bei der ihm fast die Perücke vom Kopf fiel – langsam auf die Bühne kamen, stopften sich Becca, Derric und Jenn mit Schmalzgebäck und Popcorn voll.
Unter den Zuschauern, die jedes Jahr kamen, um sich die Time Benders anzuhören, machte sich langsam aufgeregte Vorfreude breit. Es war unwesentlich, dass sie wieder das gleiche Programm spielen würden wie im letzten August und auch im August davor. Die Time Benders waren Publikumslieblinge, was nicht weiter verwunderte, wenn man bedachte, dass die Einwohner dieses Ortes das nächstgelegene Einkaufszentrum nur mit der Fähre erreichen konnten und noch nie in ihrem Leben eine Filmpremiere gesehen hatten. Deshalb war der Auftritt einer Band, die Rock’n’Roll die Jahrzehnte rauf und runter spielte und dabei immer wieder die Perücken und Kostüme wechselte, um die größten Hits seit 1950 authentisch wiedergeben zu können, beinahe vergleichbar mit einer Wiederauferstehung Kurt Cobains – vor allem, wenn man ein wenig Fantasie besaß.
Jenn nörgelte in einer Tour. Die Time Benders hören zu müssen, war schon schlimm genug. Aber noch dazu das fünfte Rad am Wagen neben dem Liebespaar Derric und Becca zu sein, war unerträglich.
Becca lächelte und sagte nichts. Jenn nörgelte für ihr Leben gern. Dann fragte sie: »Wer sind die Jungs eigentlich?«, wobei sie sich auf die Band bezog, griff in die Popcorntüte und lehnte sich an Derrics Arm an.
»Oh, Mann. Was glaubst du wohl?«, lautete Jenns nicht gerade hilfreiche Antwort. »Auf anderen Volksfesten treten Musiker auf, die mal was konnten und noch mal alles geben, bevor sie die Musik endgültig an den Nagel hängen. Bei uns treten Leute auf, von denen noch nie jemand gehört hat und die diese ehemaligen Musiker nachmachen. Willkommen in Whidbey. Und hör endlich auf, an ihr herumzufummeln, während ich danebensitze, Derric«, sagte sie zu dem jungen Mann.
»Ich darf doch wohl noch ihre Hand halten«, erwiderte dieser unbekümmert. »Und wenn du Fummeln sehen willst …« Er warf Becca einen anzüglichen Blick zu, woraufhin sie lachte und ihn scherzhaft schubste.
»Ich hasse das«, sagte Jenn ihrer Freundin und bezog sich damit wieder auf ihre fünftes-Rad-am-Wagen-Situation. »Ich hätte zu Hause bleiben sollen.«
»Aller guten Dinge sind drei«, sagte Becca.
»Ach ja?«
»Denk an … Dreiräder.«
»Oder Drillinge«, ergänzte Derric.
»Oder diese dreirädrigen Kinderwagen, mit denen manche joggen gehen«, fügte Becca hinzu.
»Vögel haben drei Zehen«, warf Derric ein. »Oder?«, fragte er an Becca gewandt.
»Ganz toll.« Jenn nahm sich ein großes Stück Schmalzgebäck und stopfte es sich in den Mund. »Ich bin also eine Vogelzehe. Das muss ich gleich mal twittern.«
Was Jenn McDaniels schwergefallen wäre, denn Derric war der Einzige von ihnen, der einigermaßen mit elektronischen Geräten ausgestattet war. Jenn hatte weder ein iPhone noch ein iPad noch einen Laptop, denn ihre Eltern waren so arm, dass sie sich gerade mal einen Farbfernseher aus dritter Hand leisten konnten, der so groß war wie ein Jeep und den ihnen der Verkäufer im Secondhandladen fast umsonst mitgegeben hatte. Was Becca betraf … Nun, sie hatte viele Gründe, sich von elektronischen Geräten fernzuhalten; vor allem wollte sie um keinen Preis auffallen – und auch die beiden anderen taten besser daran, sich bedeckt zu halten.
Da kamen endlich die Time Benders auf die Bühne und stellten sich neben Verstärkern auf, die so groß waren wie Banktresore. Ihre Perücken, Karottenhosen, weiße Socken und Petticoats ließen erahnen, dass sie – genau wie letztes Jahr auch – mit den 50ern anfangen würden. Die Time Benders gingen immer chronologisch vor.
Die Menge jubelte, als die Show begann, und wurde von den blinkenden Lichtern der Glücksspielautomaten und knarrenden Karussells beleuchtet. Die »Best of the 50s« begannen in ohrenbetäubender Lautstärke. Um den Lärm zu übertönen, brüllte Jenn Becca zu: »Deinen Knopf im Ohr brauchst du ja jetzt wohl nicht.«
Damit bezog sie sich auf eine Art Audiogerät, das aussah wie ein iPod mit einem einzigen Ohrstöpsel. Es war eine so genannte AUD-Box, und anders als Jenn dachte, nutzte Becca sie nicht, um besser zu hören. Jedenfalls nicht so, wie Jenn es sich vorstellte. Jenn und alle anderen dachten, die AUD-Box würde Becca helfen zu verstehen, was man zu ihr sagte, indem sie die Hintergrundgeräusche ausblendete, was Beccas Gehirn alleine nicht schaffte. Andere Leute konnten – wenn sie zum Beispiel in einem Restaurant waren – die Geräusche von den Nebentischen ignorieren und sich auf das konzentrieren, was der Tischnachbar zu ihnen sagte. Becca ließ die anderen in dem Glauben, dass sie genau damit Probleme hatte. Und die AUD-Box blendete tatsächlich Geräusche aus. Doch es waren die Geräusche aus den Köpfen der Menschen, die sie umgaben. Ohne die AUD-Box drangen die Gedanken der anderen ungehindert auf sie ein. Und auch wenn es manchmal ganz praktisch sein konnte, die Gedanken anderer zu hören, konnte Becca die meiste Zeit nicht unterscheiden, welcher Gedanke von wem stammte. Deshalb trug sie die AUD-Box schon seit ihrer Kindheit, um ihre »auditive Wahrnehmungsstörung« – wie ihre Mutter ihr beigebracht hatte, es zu nennen – in den Griff zu kriegen. Zum Glück fragte sie keiner, wie das laute Rauschen, das aus der AUD-Box kam, ihr dabei helfen konnte zu unterscheiden, wer gerade sprach. Vor allem aber ahnte keiner, dass sie ohne das Gerät mehr oder weniger Gedanken lesen konnte.
Becca sagte: »Ja, ich schalte es aus«, und tat so, als würde sie das Gerät herunterdrehen. Auf der Bühne spielten die Time Benders »Rock Around the Clock«, während einige der älteren Zuschauer begonnen hatten, Rock’n’roll zu tanzen.
In diesem Augenblick wehten die ersten Rauchwolken über das Publikum hinweg. Dies war angesichts der Tatsache, dass der Jahrmarkt gespickt war mit Imbissbuden, die von Büffelburgern bis Spiralpommes alles anboten, was man sich nur vorstellen konnte, nichts Ungewöhnliches. Aus diesem Grund fiel es den Zuschauern zunächst nicht weiter auf. Doch als die Time Benders eine Pause machten, um sich für die 60er umzuziehen, hörte man von der Straße auf der anderen Seite des Jahrmarkts aus Sirenen, und das hatte nichts Gutes zu bedeuten.
Der Rauch wurde dichter und die Menschenmenge geriet in Bewegung. Aus dem anfänglichen Gemurmel drang ein Aufschrei und man hörte Rufe. Doch bevor Panik einsetzen konnte, betrat der Veranstalter die Bühne und erklärte, dass ein »kleines Feuer« auf der anderen Seite der Festwiese ausgebrochen sei, dass es aber keinen Grund zur Beunruhigung gäbe, denn die Feuerwehr sei bereits vor Ort und »soweit wir wissen, sind alle Tiere in Sicherheit.«
Den letzten Satz hätte er lieber für sich behalten, denn »alle Tiere« umfasste sowohl die Enten als auch die jungen Ochsen, die von den Kindern im Rahmen eines landwirtschaftlichen Jugendprojekts selbst großgezogen worden waren und ihnen am Ende der Messe gutes Geld einbringen sollten. Neben Enten und Ochsen gab es auch ausgefallene Hühnersorten, Wolle produzierende Alpakas, preisgekrönte Katzen, Schafe, die ihr Gewicht in Wolle wert waren, und einen ganzen Stall voller Pferde. Unter den Zuschauern der Time Benders befanden sich auch die Besitzer dieser Tiere, und diese drängten jetzt in die Richtung der Gebäude, wo sie untergebracht waren.
Kurz darauf ging das Gerangel los. Derric nahm Becca an die Hand und Becca nahm Jenns Hand, und so hielten sie sich fest, während die Menschenmenge über den Rummelplatz wogte und vorbei an der Scheune, in der Kunsthandwerker ihre Arbeiten vorstellten. Hinter der Scheune verteilte sie sich auf ein offenes Gelände, auf dessen anderer Seite sich der Vorführring und die angrenzenden Gebäude befanden.
Die Ställe hinter dem Vorführring waren nicht betroffen. Wie jedermann sehen konnte, war das Feuer gegenüber auf der Seite des Vorführrings ausgebrochen, die näher an der Straße lag. Hier hatten die Hunde, Katzen, Hühner, Enten und Kaninchen in drei morschen Hütten gedöst, deren alte weiße Farbe auf das extrem trockene Heu blätterte. Und die Hütte, die am weitesten entfernt war, stand in Flammen. Die Wände brannten lichterloh, und die Flammen verschlangen das Dach.
Da sich die Feuerwehrwache genau gegenüber der Festwiese befand, waren die Feuerwehrleute ziemlich schnell zur Stelle gewesen. Aber die Hütte war schon sehr alt, es war seit neun Wochen kein einziger Tropfen Regen gefallen – was für den Nordwestpazifik sehr ungewöhnlich war –, und auf der Nordseite des Schuppens lagen Heuballen. Also konzentrierte sich die Feuerwehr darauf, das Feuer von den anderen Hütten fernzuhalten, und überließ das betroffene Gebäude den Flammen.
Diese Entscheidung kam nicht gut an, denn in der brennenden Hütte waren Hühner und Kaninchen. Dutzende von jungen Tierzüchtern stürmten los, um die Tiere zu retten, und als bekannt wurde, dass jemand sie bereits herausgelassen hatte, waren die Umstehenden noch unruhiger und wollten verhindern, dass die Kleintiere zertrampelt wurden. Bald danach gab es mehr Feuerwehrleute als Schaulustige, aber noch genug Chaos, dass Derric, Jenn und Becca sich in den sicheren Bereich bei den Ställen zurückzogen, der ein wenig weiter weg lag.
»Die werden sich noch gegenseitig tot trampeln«, bemerkte Becca.
»Aber wir sind aus der Gefahrenzone«, erwiderte Derric. »Kommt, hier entlang.« Er nahm Beccas und Jenns Hand, und gemeinsam gingen sie an den Ställen vorbei zu einer bewaldeten Anhöhe, die zu einer Gruppe von Häusern führte, die zwischen den Bäumen versteckt lag. Von hier aus konnten sie das chaotische Treiben verfolgen. Becca nahm den Knopf aus dem Ohr und wischte sich ihr schweißbedecktes Gesicht ab.
Wie üblich konnte sie jetzt die Gedanken ihrer Freunde hören. Jenns waren ausfallend wie immer und Derrics waren gutmütig und besorgt. Doch neben Jenns bildhaftem Geschimpfe und Derrics Sorge um die Sicherheit der kleinen Kinder, die ihre Eltern vom Feuer fernzuhalten versuchten, konnte Becca noch etwas anderes hören, und zwar so deutlich, als würde derjenige direkt neben ihr stehen: Komm schon, los … hol es dir, mach schon.
Sie wirbelte herum, aber um sie herum war alles dunkel. Die hohen Tannen ragten über sie hinweg und die belaubten Äste der Erlen bogen sich schwer Richtung Waldboden. Von ihrer Bewegung aufgeschreckt sah Derric sie an und fragte: »Was?« Dann blickte er sich ebenfalls um und ließ den Blick durch die Bäume um sie herum streifen.
»Ist da jemand?«, fragte Jenn sie beide.
»Becca?«, fragte Derric.
Weg hier, bevor diese … lieferte Becca die Antwort.