KAPITEL 53
Becca fand Derric im Cliff Motel, wo er gerade seinen wöchentlichen Großer-Bruder-Nachmittag mit Josh Grieder verbrachte. Sie waren im Wohnzimmer hinter dem Motel-Büro und bauten einen furchteinflößenden Tyrannosaurus Rex aus Legosteinen.
Josh, der Becca gegenüber immer großzügig war, wenn sie uneingeladen während seiner Derric-Zeit auftauchte, sagte, dass sie sich natürlich Derric ausleihen könne. Aber nur für fünf Minuten, weil sie viel Arbeit vor sich hätten.
Derric strich Josh über den Kopf und ging mit Becca durch das Büro nach draußen, wo sie sich unter den Überhang der Veranda stellten. Es hatte angefangen zu regnen. Der Winter war im Anmarsch. Die Tage wurden kürzer, kälter und nasser.
»Wir müssen nach Coupeville fahren«, teilte sie ihm mit.
»Was?«
»Wir müssen zum Büro deines Dads fahren. Wir müssen uns die Akte mit den Beweismitteln zu dem Feuer am Strand von Maxwelton ansehen.«
Derric nahm ihren Arm und führte sie an der Reihe Zimmer vorbei ganz bis ans Ende der Veranda, welche die Camano Street und das Kunst- und Kulturzentrum auf der anderen Seite überblickte. »Raus mit der Sprache«, sagte er.
Becca erzählte ihm, es sähe so aus, als würde bei dem Maxwelton-Brand ein Ring eine Rolle spielen. »Ich höre immer wieder davon«, drückte sie es aus. »Hayley und Isis reden ununterbrochen davon, Derric.«
»Du glaubst, eine von den beiden hat die Feuer gelegt? Nicht gerade Hayleys Stil, Becca. Damit bleibt Isis übrig. Aber warum?«
»Keine Ahnung. Hayley sagt, sie hätte einen scharfen Freund in Palo Alto. Vielleicht will sie, dass Aidan zurück nach Utah geschickt wird, damit sie zu ihm zurück kann.«
»Oder vielleicht legt Aidan die Feuer, damit sie im Knast landet.«
»Oder vielleicht ist es Parker, weil er mit Isis geschlafen hat und nicht weiß, wie er sie sonst loswerden soll. Wir müssen also herausfinden, ob eines der Beweisstücke tatsächlich ein Ring ist. Deshalb müssen wir nach Coupeville fahren.«
»Ich könnte einfach meinen Dad fragen …«
»Dein Dad wird dir nichts erzählen, bis der Fall gelöst ist. Und vielleicht nicht mal dann, weil es einen Prozess geben wird, oder? Deshalb müssen wir zu seinem Büro fahren und an die Akten rankommen. Ich habe keine Ahnung, wie wir das hinkriegen sollen, aber wir müssen es versuchen. Die Frage ist: Können wir es bald tun?«
»Ach, da habe ich eine bessere Idee«, erwiderte Derric.
Josh kam nach draußen. Er stemmte die Hände in die Hüften, genau wie seine Großmutter, wenn sie verärgert war. Er schimpfte: »Hey, ihr zwei! Fünf Minuten sind fünf Minuten!«
»Komme, Bro«, sagte Derric. »Lass mich nur kurz mein Mädchen küssen!
»Igitt! Das will ich nicht sehen.« Josh verschwand wieder im Haus.
Derric lächelte und drehte sich wieder zu Becca. Er sagte: »Ich rufe Mom an. Du kommst zum Abendessen. Dad loggt sich nach der Arbeit immer in seinen Computer ein. Er sagt, das hilft ihm, den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Wir locken ihn irgendwie aus seinem Arbeitszimmer …«
»Und wie? Indem wir ein Feuer legen?«, fragte Becca trocken.
»Ich lass mir was einfallen. Aber du musst dich bereithalten, wenn es so weit ist. Dann gehst du in sein Arbeitszimmer und liest die Akte, und wir wissen Bescheid. Es wird schon klappen, glaub mir. Es gibt da bestimmte Dinge, von denen er sich nur zu gerne ablenken lässt. Ich muss nur überlegen, was das Beste ist.«
Wie sich herausstellte, ließ er sich am liebsten mit Mexican Train Domino ablenken. Um seinen Vorschlag, nach dem Abendessen ein Turnier mit fünf Runden zu spielen, noch unwiderstehlicher zu machen, erklärte Derric, dass er eines der beiden Familienautos auf Hochglanz polieren würde, sollte Dave am Ende des Spiels die wenigsten Strafpunkte haben. Sein Dad rieb sich die Hände und sagte: »Junge, Junge! Bau das Spiel auf und ruf mich, wenn du so weit bist«. Danach verschwand er in seinem Arbeitszimmer, genau wie Derric vorhergesagt hatte.
»Mom und ich spülen ab«, hatte Derric Becca erklärt, »und in der Zeit sieht er sich seine Fälle durch. Er wird den Computer anlassen und eingeloggt bleiben. Danach bist du dran.«
Becca hielt das für machbar. Sie hatte zwar noch nie Mexican Train Domino gespielt, aber es ließ sich schnell lernen. Sie und Derric bauten das Spiel auf der Glasveranda hinten im Haus auf – so weit wie möglich von Daves Arbeitszimmer entfernt.
Becca stellte fest, dass Derric seinen Dad recht gut kannte. Dave Mathieson war ein Spieler, der keine Gnade kannte. Das traf auch auf Derric zu, und Rhonda hielt gut mit. Eine Menge Gelächter, Herumgeschäker, Geschrei und Streitereien über die Regeln begleiteten jede Runde. Und jede Runde war lang genug, um Becca zu überzeugen, dass es nicht schwer sein würde, einen geeigneten Moment zu finden, um von der Glasveranda und in Daves Arbeitszimmer am anderen Ende des Hauses zu schleichen.
Am Anfang der dritten Runde erklärte sie, dass sie bei diesem Spiel die totale Niete sei. Sie fragte: »Was ist mein Punktestand, Derric?«
Er sah auf den Zettel, auf dem er die Punkte zusammengerechnet hatte. Er zuckte zusammen. »Babe, du spielst in deiner ganz eigenen Liga. Du hast zweihundertvierundzwanzig Strafpunkte.«
»Autsch. Ich sollte lieber eine Runde aussetzen und mir ansehen, was ich falsch mache.«
»So ziemlich alles«, teilte ihr Dave mit. »Setz dich zu mir, wenn du sehen willst, wie ein echter Champion das macht.«
Also setzte sich Becca zu Dave. Sie waren mitten in der vierten Runde, als sie sich entschuldigte: Sie müsse mal für kleine Mädchen. So wie sie alle um den Sieg wetteiferten, war sie ziemlich sicher, dass sie genügend Zeit haben würde, sich die Dateien auf Daves Computer anzusehen.
Wie Derric gesagt hatte, stand der Laptop, den Dave in seinem Dienstwagen mitgebracht hatte, auf dem Schreibtisch. Er war immer noch an, und sie musste ihn nur aus dem Schlafmodus holen.
Eine ganze Liste von Dateien erschien auf dem Bildschirm, nicht nur die eine, die Becca sich ansehen wollte. Sie ließ den Blick so schnell wie möglich darüber schweifen und fand schließlich eine, die den Namen Maxwelton trug. Aber als sie sie öffnete, stellte sie fest, dass sie viel größer war als erwartet. Alle Befragungen waren darin protokolliert. Alle Fotos vom Schauplatz waren enthalten. Soweit sie das sehen konnte, trug nichts den bezeichnenden Namen Beweise oder Indizien. Sie klickte auf die Fotos.
Davon gab es zweihundertvierundfünfzig. Die konnte sie sich unmöglich alle ansehen. Sie murmelte: »Verdammter Mist« und ließ den Blick so schnell sie konnte über die Vorschaubilder schweifen.
»Hey! Beckster!«, rief Dave Mathieson von der Glasveranda. »Bist du ins Klo gefallen? Ich lege gerade ein Spitzenspiel hin, und wenn du lernen willst, wie …«
»Er veräppelt dich nur, Becca«, unterbrach ihn Derric. »Lass dir Zeit, während ich ihn hier plattmache.«
Becca stand von Daves Bürostuhl auf und lauschte angestrengt an der Tür. Das Spiel schien weiterzugehen. Sie ging zurück zum Schreibtisch und zu den Bildern.
Sie hörte Rhonda sagen: »Schau lieber nach, Schatz. Vielleicht geht es ihr nicht gut.«
Und von Dave: »Ist das ein abgekartetes Spiel, ihr zwei? Ich vernichte euch und …«
Mist, Mist, Mist, dachte Becca. Sie hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, Rhonda ihren Namen rief und Derric seine Mom aufzuhalten versuchte. Aber sie wusste, dass sie nur noch ein oder zwei Augenblicke hatte.
Sie scrollte wie wild, betrachtete die Bilder und war kurz davor, in Panik zu geraten. Von der Glasveranda kamen die lauten Stimmen der drei Mathiesons, und sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie Derric dafür sorgen würde, dass seine Eltern sich nicht von der Stelle rührten, weil sie unbedingt …
Da fand sie es. Eine Schubkarre lag umgekippt neben dem Holzstapel gegenüber der Fischerhütte. Auf dem ersten Foto sah man sie ganz, auf dem zweiten ihre Griffe, die sich vor einem moderigen Haufen Holz abzeichneten, und auf dem dritten fand Becca schließlich, wonach sie suchte. Es zeigte lediglich das einzelne Rad der Schubkarre, und vor diesem Rad lag unverkennbar ein großer Herrenring.
Derric fuhr sie nach Hause. Sie erzählte ihm genau, wo der Ring gelegen hatte. »Er lag ganz offen da«, sagte sie. »Ganz offen, Derric, nicht so, als hätte ihn jemand verloren. Jemand muss ihn absichtlich dort hingelegt haben.«
»Ich weiß nicht, Babe. Bist du dir ganz sicher, dass es ein Herrenring war?«
»Es sah aus wie … Ich glaube, so groß, wie er war, könnte es ein College-Ring sein.«
»Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass ihn jemand absichtlich dort hingelegt hat, oder?«
»Nicht jemand. Es war nicht einfach irgendjemand. Es muss Aidan oder Parker gewesen sein.«
Er verfolgte diesen Gedanken weiter. »Du hast gesagt, dass er in der Nähe des Holzstapels neben der Schubkarre lag, ja?« Er sah sie an und sie nickte. Er sagte: »Wenn ihn jemand absichtlich dort hingelegt hat, hätte diese Person ihn dann nicht eher in die Nähe der Stelle gelegt, wo das Feuer angefangen hat? Denn so weit weg, wie er von dem Brand lag, könnte das alles Mögliche bedeuten.«
»Und was heißt das dann?« Sie beantwortete ihre eigene Frage. »Dass ein Ring neben einer Schubkarre überhaupt nichts beweist.« Sie ließ sich in den Sitz des Subaru sinken und fuhr fort: »Jetzt sind wir auch nicht schlauer. Es sei denn …« Und da fiel ihr wieder das Bild ein, das sie gesehen hatte, in dem Parker Natalia nach etwas griff, das an einer Kette um Isis’ Hals hing. Es war vor ihrem geistigen Auge so schnell wieder verschwunden, wie es aufgeblitzt war, sodass Becca es völlig vergessen hätte, wenn in Hayleys und Isis’ Flüstern nicht ständig von einem Ring die Rede gewesen wäre. »Derric«, sagte sie, »was ist, wenn da noch was anderes ist?«
»Wo?« Sie fuhren gerade auf der East Harbor Road entlang einer riesigen, stiefelförmigen Bucht namens Holmes Harbor in Richtung Freeland. Dort würden sie auf der Schnellstraße drehen, um zu Ralph Darrows Haus zu gelangen. Es herrschte nur leichter Verkehr, aber es regnete unablässig.
»An der Brandstelle«, erklärte ihm Becca. »Was, wenn es auch eine abgerissene Kette gibt?«
»Als Beweisstück, meinst du?«
»Überleg doch mal. Wenn du eine Kette mit einem Anhänger trägst und die Kette reißt …«
»Dann fällt der Ring ab«, beendete er den Satz, da er verstand, worauf sie hinauswollte.
»Genau. Und dir fällt nicht mal auf, dass die Kette gerissen ist, weil du es eilig hast …«
»Ein Feuer zu legen und zu verschwinden.«
»Aber die Kette könnte in deiner Kleidung hängen geblieben sein. Und wenn der Anhänger schwer genug ist …«
»Fällt er auf den Boden, aber die Kette bleibt, wo sie ist.«
»Zunächst mal. Es würde eine Weile dauern, bis sie runterfällt. Vielleicht lange, nachdem du den Ring verloren hast. Und selbst dann würdest du nicht bemerken, was mit der dämlichen Kette passiert ist, weil überall Polizisten sind, Leute durch die Gegend brüllen und andere Leute versuchen wegzulaufen …«
»Und das bedeutet, wenn es eine Kette gibt, ist sie entweder auf einem anderen Foto als auf dem mit dem Ring …«
»Oder sie ist immer noch irgendwo da draußen. Verstehst du, was ich meine?«
»Du siehst nicht nur gut aus und bist supersexy, du bist auch ein verdammtes Genie«, sagte er ihr.
»Wir müssen nachsehen, ob da eine Kette ist«, erwiderte sie.