KAPITEL 55

Auf der Smugglers Cove Blumenfarm blieb Seth ein paar Mi-
nuten lang in seinem VW sitzen. Er hatte noch nie den Tod eines Menschen miterlebt. Der Feuerwehrhauptmann hatte ihnen gesagt, dass Isis vermutlich auf der Stelle tot gewesen war, als ihr Auto gegen den Telefonmast knallte, und nicht einmal mitbekommen hatte, dass sie in einem Feuerinferno gefangen war. Aber das war nur ein schwacher Trost.

Die Löschfahrzeuge waren innerhalb von zehn Minuten eingetroffen. Während die Leute, die im Wald entlang der Sills Road wohnten, ihre ungepflasterten Auffahrten hinuntereilten, um zu sehen, was der ganze Aufruhr bedeutete, löschten die freiwilligen Feuerwehrleute das Feuer. Derrics Dad war angekommen, und ein Krankenwagen war eingetroffen. Und während der ganzen Zeit zerbrach sich Seth den Kopf, ob er irgendetwas hätte anders machen können.

Eine Menge Wenns gingen ihm durch den Kopf. Wenn sie nicht in Maxwelton gewesen wären und nach der Kette gesucht hätten. Wenn Jenn, Squat und Becca nicht die Straße blockiert hätten. Wenn sie Isis einfach hätten vorbeifahren lassen, ganz gleich, wohin sie unterwegs war. Wenn er und Derric nicht beschlossen hätten, ihr hinterherzujagen.

Jetzt musste er es Hayley sagen. Isis Martin war ihre Freundin gewesen, und Seth wollte nicht, dass Hayley morgen in der Schule davon erfuhr. Deshalb öffnete er schweren Herzens die Wagentür und stapfte den Weg zur Eingangstür des Farmhauses hoch. Es war schon sehr spät am Abend, aber die Lichter waren noch an, und er fand die Familie im Wohnzimmer, wo sie gerade Cluedo spielten. Hayley war nicht bei ihnen – zu viele Hausaufgaben –, aber sie kam nach unten, als ihre Mom nach ihr rief.

Als Seth fragte, ob er sie sprechen könne, sah sie ihn besorgt an. Sie konnte es wohl seinem Tonfall anmerken, dachte er sich. Sie fragte: »Was ist los? Ist mit deinem Großvater alles in Ordnung?«

»Grandad geht’s gut«, erwiderte er. »Es ist was anderes.«

Er zeigte mit dem Kopf auf den hinteren Teil des Hauses. Hayley folgte ihm auf die Veranda. Sie zitterte, aber nicht vor Kälte, vermutete er. Als sie das hintere Ende der Veranda erreichten, das die Felder und die Hühnerfarm darunter überblickte, sagte er es ihr. Er erzählte ihr alles, was er von Becca, Derric, Squat und Jenn erfahren hatte und später von einem durchgedrehten und heulenden Aidan Martin. Er wusste nicht, wie viel sie bereits wusste, wie viel Isis ihr erzählt hatte oder was Isis behauptet hatte. Deshalb fing er bei Aidan und der Wolf Canyon Academy an, und als sie ihm sagte, dass sie das alles wisse und auch warum man Aidan dorthin geschickt hatte, ging er direkt zu der Sache mit dem Ring über. Wie sich herausstellte, wusste sie darüber ebenfalls Bescheid. Also erzählte er ihr von Beccas Schlussfolgerungen, dass sie nach der Kette suchen mussten, an welcher der Ring gehangen haben musste und die während der Maxwelton-Party gerissen sein könnte.

»Wir haben sie gefunden. Und dann ist Isis aufgetaucht«, sagte er. »Jenn hat ihr gegenüber den Mund zu weit aufgerissen, und Aidan ist aus dem Auto gesprungen.«

»Aidan war dort?«, hakte Hayley nach.

»Ja klar. Warum?«

Sie erzählte ihm, dass Isis behauptet hatte, ihr Bruder wäre davongelaufen, weil er Angst hatte, dass seine Eltern auftauchten, um ihn abzuholen. Sie schloss mit: »Glaubst du, er ist die ganze Zeit da gewesen? Zu Hause bei seiner Großmutter?«

»Vielleicht wollte sie nur, dass du denkst, dass er weggelaufen ist. Um dich noch mehr auf ihre Seite zu ziehen. Weil, das würde ihn schuldig aussehen lassen, oder? Wir sind nur noch nicht dahintergekommen, warum.«

»Warum was?« Hayley ging zur Balustrade der Veranda und blickte hinaus in die Dunkelheit, wobei das Licht des Hauses nur auf ihr Haar fiel.

»Warum Isis das alles getan hat. Oh Mann, hat sie … hat sie ihn gehasst oder so was?«

»Aidan?« Hayley drehte sich wieder zu ihm. Seth bemerkte, dass ihr Gesicht abgespannt und müde aussah.

»Warum sonst würde sie wollen, dass er wegen ein paar Bränden in den Knast kommt?«

»Weil sie zurück nach Palo Alto wollte«, erwiderte Hayley. »Er hat ihr ganzes Abschlussjahr versaut. Wegen ihm hat ihr Freund mit ihr Schluss gemacht. Ihre Eltern haben sie gezwungen, hierherzukommen, um sicherzugehen, dass er geheilt ist, aber sie wollte unbedingt zurück nach Hause. Wie hätte sie besser …?« Hayley hielt sich die Fingerspitzen vor den Mund.

Seth war nicht sicher, was er tun sollte. Hayleys Reaktion und das, was sie sagte, vermittelten ihm den Eindruck, dass Isis Hayley völlig eingewickelt und hinters Licht geführt hatte. Das tat ihm unendlich leid für sie, aber es war nicht Hayleys Schuld. Sie war einfach nur ein netter Mensch, der versucht hatte, einem Mädchen eine gute Freundin zu sein, das nicht wusste, was Freundschaft war.

Seth suchte Brooke Cartwright auf, weil er etwas unternehmen wollte, das den ständigen Lügen ein Ende setzte. Am nächsten Tag machte er früher Feierabend und fuhr nach Langley. Er fing das Mädchen vor ihrer Schule ab.

Er stand neben seinem Wagen und hatte Gus bei sich. Brooke lächelte, als sie den goldenen Labrador sah. Seth erklärte ihr: »Wir haben einen Termin. Steig ein«, und war erleichtert, als Brooke davon ausging, dass es etwas mit dem Hund zu tun hatte.

Sie war alles andere als erfreut, als er auf den Parkplatz der Gemeinschaftspraxis von Langley auf der Second Street fuhr. Noch weniger gefiel es ihr, als er auf ihre Seite des Wagens kam, die Tür öffnete und sagte: »Gus, du bleibst hier.« Sie verschränkte die Arme und kniff die Augen zusammen. Sie beschuldigte ihn, sie entführt zu haben, worauf er erwiderte: »Ja, Kleine. Ich hab den Job gewechselt. Komm mit und zwing mich nicht, dich reinzutragen, weil, das tue ich nur zu gerne, wenn es sich nicht anders machen lässt. Verlass dich drauf.«

»Ich will nicht …«

»Das geht auf meine Kappe, und niemand wird davon erfahren. Es sei denn, jemand muss es erfahren. Alles klar?«

»Aber …«

»Kein aber.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie. »Ich weiß, du hast Angst. Ich weiß, du willst zu Hause keinen Ärger machen. Aber du musst mir vertrauen. Es wird alles gut werden.«

»Nichts ist gut.«

»Das ist ein erster Schritt, damit es besser wird.«

Seth hatte die Praxis im Voraus angerufen, und Rhonda Mathieson erwartete sie bereits. Sie sah Brooke, sagte: »Da bist du ja! Komm mit mir, junge Frau«, und nahm das Mädchen mit sich.

Da rief Seth Hayley an. Sie fing an zu protestieren. Er unterbrach sie: »Ich bezahle, Hayley. Es ist nicht nur die Pubertät. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Brooke weiß es, aber sie will nichts sagen wegen eurem Dad und dem ganzen Ärger und weil ihr nicht versichert seid und kein Geld habt und … Mann, Hayl. Du weißt das doch alles. Deshalb habe ich Mrs Mathieson gebeten, sie zu untersuchen. Wenn tatsächlich etwas nicht mit ihr stimmt, können wir uns zumindest zusammensetzen und uns gemeinsam überlegen, was getan werden muss. Aber das geht nicht, solange sich deine Familie über alles ausschweigt, was bei euch los ist.«

Er dachte, sie hätte einfach aufgelegt, als ihm lediglich Schweigen entgegenschlug. Doch dann hörte er, wie sie nach Luft schnappte, und wusste, dass sie ein Schluchzen unterdrückte, was ihr sicher unangenehm war. Er sagte: »Es wird alles gut, Hayl. Ich bringe sie später nach Hause.« Aber bei dem ersten Satz war er sich nicht so sicher.