KAPITEL 56
Hayley kannte den Ausdruck »das Herz schlug ihr bis zum Hals«, aber sie hatte nie wirklich darüber nachgedacht, was er genau bedeutete, bis sie ihre Mutter dabei beobachtete, wie sie mit Ronda Mathieson telefonierte. Als Seth sie wegen Brooke angerufen hatte, war sie zuerst wütend auf ihn gewesen. Doch sie war auch davon ausgegangen, dass Seth mit Brooke noch vor ihr wieder auf der Farm sein würde. Als Brooke immer noch nicht zurück war, als ihre Mom vom Putzen nach Hause kam, drehte es Hayley vor Angst den Magen um.
Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, was sie ihrer Mom sagen sollte, aber das spielte keine Rolle, weil keine zehn Minuten, nachdem Julie Cartwright durch die Tür gekommen war und bevor sie sich überhaupt fragen konnte, wo Brooke war, Rhonda Mathieson anrief. Hayley ging ans Telefon. Als sie ihrer Mom den Hörer reichte, packte sie eiskalte Furcht.
Julie stand da und sah den Hörer an, nachdem sie aufgelegt hatte. Sie ließ die Schultern hängen.
Hayley fragte sie: »Was ist los?«
»Rhonda glaubt, dass Brooke ein blutendes Magengeschwür hat. Sie müssen im Krankenhaus ein paar Untersuchungen machen, und sie braucht einen Termin bei einem Gastro … einem Gastro- … was weiß ich.«
Hayley setzte sich auf einen Küchenstuhl und murmelte vielmehr zu sich selbst als zu ihrer Mom: »Aber warum hat sie nicht … warum hat sie denn nicht … Kein Wunder.«
»Ja. Kein Wunder«, stimmte Julie Cartwright zu.
Rhonda Mathieson fuhr Brooke nach Hause. Sie brachte sie persönlich zurück, anstatt es Seth zu überlassen, weil Brooke »es sich selbst ein wenig schwer machte«, wie Rhonda es ausdrückte.
Brooke rannte die Treppe hoch, als sie ins Haus kam, und Rhonda sah ihr nach. Julie ging zu Rhonda. Sie drückte Rhondas Oberarme in einer Art Halbumarmung und sagte: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Rhonda tätschelte ihr die Hand. »Können wir uns irgendwo hinsetzen? Ist Bill hier? Er möchte vielleicht auch …«
»Ich habe es ihm noch nicht erzählt.« Julie Cartwright zeigte auf das Wohnzimmer und sein uraltes Sofa. »Es ist momentan alles ein bisschen schwierig.«
Hayley beobachtete das alles von der Küchentür aus und wollte am liebsten losbrüllen und auf die Wand einschlagen. Ein bisschen schwierig?, wollte sie ihre Mom anschreien. Aber stattdessen bot sie Rhonda Mathieson das Einzige an, was sie Gästen anbieten konnten, nämlich eine Tasse Tee oder Pulverkaffee oder ein Glas Wasser. Rhonda lächelte sie an, sagte, sie brauche nichts, aber trotzdem vielen Dank, und ging zum Sofa. Sie setzte sich und wartete darauf, dass Hayleys Mom dasselbe tat. Um ihrer Mom keine Wahl zu lassen, ging Hayley ins Wohnzimmer und pflanzte sich auf den Schaukelstuhl, den ihr Vater nicht mehr benutzen konnte.
Rhonda klopfte neben sich aufs Sofa, damit Julie sich neben sie setzte. Sobald Hayleys Mom das getan hatte, teilte Rhonda ihnen die Neuigkeiten mit. Zunächst einmal, sagte sie, sei Brooke unglaublich aufgebracht darüber, dass Seth Darrow sie gegen ihren Willen zur Praxis gebracht habe. Deshalb habe Rhonda ihr nicht viel erzählt, weil sie das Mädchen nicht noch mehr unter Druck setzen wollte. Außerdem könnten im Moment nur weitere Untersuchungen die genaue Ursache des Problems bestimmen. Aber ihre Symptome wiesen auf ein blutendes Magengeschwür hin, es handele sich also um einen medizinischen Notfall.
»Es ist ein unbehandeltes Geschwür«, erklärte Rhonda. »Wenn man sich nicht bald darum kümmert, könnte es die Magenschleimhaut durchstoßen. Dann besteht die Gefahr, dass unverdautes Essen und Magensäure in die Bauchhöhle gelangen.« Rhonda legte eine Hand auf ihren Magen, als wolle sie es demonstrieren. »Wenn das passiert, wird das Problem akut.«
Julie verschränkte die Hände im Schoß. »Sie hat sich in den letzten Monaten verändert. Aber ich habe es auf ihr Alter geschoben. Dreizehn, und du weißt ja, wie schwierig Kinder werden, wenn sie das Teenager-Alter erreichen, und ich dachte … Sie hat ständig nur gegessen.« Julie räusperte sich. Hayley wusste genau, dass ihre Mom nicht vor Rhonda Mathieson weinen wollte. Nach einem kurzen Augenblick fuhr Julie fort: »Sie hat nie etwas gesagt. Ich habe als Mutter völlig versagt.«
Rhonda umfasste schnell Julies verschränkte Hände. »Brooke wollte nicht, dass du es weißt. Sie selbst kennt das Ausmaß des Problems nicht, denn ich bin mir ja auch nicht ganz sicher. Wie ich schon gesagt habe, können nur weitere Untersuchungen Gewissheit bringen, aber das mit dem Essen ist ein Hinweis … Mit einem gefüllten Magen hat man weniger Schmerzen.«
»Was für Untersuchungen?«, fragte Hayley.
»Man nennt es Endoskopie. Da kann der Chirurg sehen …«
»Muss sie operiert werden?« Julies Stimme zitterte.
Rhonda rutschte näher heran und legte Julie einen Arm um die Schulter. Sie wartete einen Moment, bevor sie weitersprach: Man würde einen Plastikschlauch mit einer Sonde in Brookes Magen einführen; mit der Sonde könne man sehen, ob das Geschwür blute; der Chirurg würde dann die Blutung durch Kauterisierung, Laser oder mit Klammern stoppen und mit einem medizinischen Kleber die Gefahr auf ein Minimum reduzieren, dass es in Zukunft zu einer erneuten Blutung kam. Es könnte jedoch eine Operation vonnöten sein, falls die Blutung so nicht gestoppt werden könne.
»Aber«, fügte Rhonda schnell hinzu, als sie Julies entsetztes Gesicht sah, »dazu würde es nur im Extremfall kommen. Das Wichtige ist, dass wir jetzt präventiv handeln. Ich würde gerne für morgen einen Termin vereinbaren. Sie könnte jetzt gleich zur Notaufnahme in Coupeville gehen, aber ich glaube, wir können bis morgen warten.«
»Das könnt ihr vergessen.«
Sie drehten sich alle zu Brooke um, die wieder die Treppe heruntergekommen war. Sie war leichenblass.
»Das mach ich auf keinen Fall«, teilte sie ihnen mit.
»Schätzchen«, sagte Rhonda sanft. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn wir nicht …«
»Ich hab gesagt, das könnt ihr vergessen, und wenn ihr euch auf den Kopf stellt.«
Julie stand auf und ging auf sie zu. Sie sagte: »Du hättest es mir sagen sollen. Brookie, das ist gefährlich, und ich verstehe nicht, warum …«
»Es ist völlig egal!«, schrie Brooke.
Julie blieb abrupt stehen. »Wie kannst du nur so etwas sagen …«
»Ihr könnt mich nicht zwingen. Ich mach’s nicht«, kreischte sie. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon, während sie schrie: »Lasst mich einfach sterben!«
Rhonda schwieg. Hayley spürte, wie ihr die Tränen kamen. Dreizehn Jahre alt, dachte sie. Und dann fasste sie einen Entschluss: Es reichte jetzt.
»Mrs Mathieson.« Hayley wusste nicht, ob sie es konnte, doch sie wusste, dass sie es tun musste. Rhonda wandte sich zu ihr und blickte verwirrt, wirkte aber offen und bereit zuzuhören. Hayley hoffte, dass sie auch bereit war, mehr zu tun. »Mein Dad«, setzte sie an.
»Nein«, ging Julie dazwischen.
Hayley fuhr fort. »Mein Dad hat ALS, also Amyotrophe Lateralsklerose, Mrs Mathieson. Lou-Gehrig-Syndrom? Er wird sterben. Unsere Familie hat keine Krankenversicherung. Und wir brauchen Hilfe.«
Es gab keine weitere Diskussion darüber, was zu tun war. Die Cartwrights würden tun, was getan werden musste. Das Problem war nur: Wie sollten sie dafür bezahlen? Die Familie lebte jetzt schon von der Hand in den Mund und hielt sich mit Almosen und viel zu viel Stolz über Wasser. Rhonda erklärte ihnen, dass es verschiedene Möglichkeiten gäbe. Um Himmels willen, sagte Rhonda, selbst wenn die Regierung ihren Antrag auf Beihilfe in dieser offensichtlichen Notlage ablehnen würde – und das war höchst unwahrscheinlich –, lebten sie doch auf South Whidbey, einem Ort, wo Leute einander halfen, wo jede Woche irgendwelche Spendenaktionen stattfanden und wo – »Herrgott noch mal, Julie« – es seit Langem eine Organisation gab, die Leuten half, ihre Arztrechnungen zu begleichen. Es sei an der Zeit, dass die Cartwright-Familie den Stier bei den Hörnern packte und sich den Tatsachen stellte, ob es ihnen gefiel oder nicht.
Als später am Tag das Telefon klingelte, ging Hayley davon aus, dass es ihre Mutter war, um Bescheid zu sagen, was mit Brooke geschehen würde. Doch es war Parker Natalia, der sofort sagte, als er Hayleys Stimme hörte: »Leg nicht auf, Hayley. Ich habe eine Nachricht für Becca, das ist alles.«
Sie wollte ihn fragen, warum er nicht Ralph Darrow anrief, wenn er eine Nachricht für Becca hatte. Besser noch, warum ging er nicht einfach die paar Meter vom Wald rüber zum Haus? Aber wie sich herausstellte, war er wieder in Kanada in seiner Heimatstadt Nelson, wohin er zwei Tage nach Isis Martins tödlichem Autounfall zurückgekehrt war. »Der Sheriff hat mich mehr oder weniger aufgefordert, meine Sachen zu packen«, erklärte er ihr. »Ich hätte mein Visum nicht überziehen sollen.«
Hayley wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Er hatte nach Isis’ Tod einmal angerufen, aber sie hatte ihn nicht zurückgerufen. Ja, sie hatte sich zweifellos zu ihm hingezogen gefühlt. Und wenn sie ihn sehen würde, wäre das vermutlich immer noch der Fall. Aber sie wollte sich im Augenblick nicht zu Parker Natalia hingezogen fühlen. Daher war sie ihm aus dem Weg gegangen.
Doch das konnte sie jetzt nicht und sagte deshalb: »Okay, ich richte es ihr aus.«
Die Nachricht war recht einfach. Er hatte sich bei seinen Freunden, seinen Verwandten und seinen alten Bandmitgliedern umgehört. Niemand kannte Beccas Cousine. »Sag ihr, dass das nicht bedeutet, dass sie nicht hier ist«, fügte er hinzu. »Nelson ist zwar klein, aber um einiges größer als Langley. Ich kann mich also weiter umhören. Ich werde auch die Zeitungsanzeige für sie schalten. Könntest du ihr das ausrichten, Hayley?«
»Mach ich.«
Und dann schien es nichts mehr zu sagen zu geben, aber als sie ihm alles Gute wünschen wollte, sagte er: »Hör mal, ich habe mit Seth gesprochen. Er hat mir erzählt, was mit deiner Familie los ist. Dass es deinem Dad und deiner Schwester nicht gutgeht. Die ganze Sache. Und Hayley, ich möchte einfach, dass du weißt, wie leid es mir tut. Ich habe alles noch schwieriger für dich gemacht, und das war wirklich nicht meine Absicht. Vielleicht kannst du irgendwann … Ich weiß nicht. Vielleicht können wir uns wiedersehen. Irgendwann mal. Nicht jetzt, ich weiß. Aber irgendwann.«
Sie erwiderte: »Ist schon okay. Ich glaube, wir sind beide von Isis benutzt worden. Es ist nicht deine Schuld.«
»Außer, dass ich gelogen habe. Das war ganz allein meine Schuld. Ich hätte ehrlich mit dir sein sollen. Ich hatte nur Angst, du würdest nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, wenn du wüsstest, dass ich mit Isis geschlafen habe.«
Hayley konnte das verstehen. Aber sie war noch nicht bereit für das, was Parker Natalia ihr zu bieten hatte. Mit ihm wäre es nur eine Frage der Zeit, doch momentan konnte sie keine Ablenkung dieser Art gebrauchen, weil sie einen klaren Kopf behalten musste. Sie sagte: »Ich bewerbe mich bei Colleges. Na ja, Unis eigentlich.«
»Gute Sache«, erwiderte er, und es klang, als meine er es ernst.
»Ich hoffe, dass ich einen Platz in einem guten Umweltwissenschaftsstudiengang bekomme.«
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Pack’s an, Hayley.«
Und das war es dann. Sie verabschiedeten sich, wenn nicht unbedingt als Freunde, so doch als ein Mann und eine Frau, die jetzt besser verstanden, wer der andere war.
Und das, beschloss Hayley, war so ziemlich alles, was man vom Leben erwarten konnte: zu verstehen, wer man war und was einem wichtig war, und sich zu bemühen, andere zu verstehen.