KAPITEL 57
Becca sagte sich, dass, auch wenn Laurel geplant hatte, nach Nelson zu fahren, nichts dagegen sprach, dass sie auf dem Weg dorthin einen anderen Ort entdeckt hatte, der ihr ebenso sicher erschien. Und wenn dem so war, konnte Laurel jeden Augenblick auf Whidbey Island auftauchen und Becca in die schöne neue Welt mitnehmen, die sie für sich und ihre Tochter bereitet hatte. Doch wenn sie ehrlich zu sich war, ergab diese Möglichkeit nicht sehr viel Sinn.
Dass sie nach Nelson wollte, hatte nämlich einen gewichtigen Grund gehabt. Den hatte Laurel ihr zwar nie mitgeteilt, aber Becca war sicher, dass sie sich dort aufhielt. Sie nannte sich bloß nicht mehr Laurel. Und wenn sie die Lokalzeitung nicht las, wie sollte sie dann erfahren, dass Becca versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen?
Becca wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte, also recherchierte sie die aktuelle Situation von Jeff Corrie. Auf Connor Wests Auftauchen hin waren alle möglichen Artikel in der Tageszeitung von San Diego zu dem Thema erschienen. Wie es darin hieß, zeigte sich Jeff »äußerst kooperativ«, und das bedeutete wohl, in Zusammenarbeit mit der Polizei von San Diego, dem Finanzamt, dem FBI und allen anderen, die ihm Fragen über seine Investmentfirma stellen wollten. Zuvor hatte er sich einen Anwalt besorgt, weil er fürchtete, nach Connors Verschwinden verdächtigt zu werden. Nun, da Connor gefunden worden und nach San Diego zurückgekehrt war, lagen die Dinge anders. »Wenn man den Lebenswandel der beiden Männer vergleicht«, brachte sein Anwalt an, »sieht man sofort, wer die größte Verantwortung für die kriminellen Aktivitäten bei Corrie West Investments trägt. Mr Corrie hat sein Haus zum Verkauf angeboten und das Gleiche mit seinem zweiten Haus im Ski- und Wandergebiet Mammoth Lakes getan. Er hat seinen Porsche verkauft und all seine Aktien, Pfandbriefe und Anlagefonds auf ein Treuhandkonto eingezahlt. Er ist bereit, auf jede nur mögliche Weise finanzielle Wiedergutmachung zu leisten.«
Dabei war sein Motiv weder edel noch uneigennützig, dachte Becca und lächelte zynisch. Er tat nur alles, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Der einzige positive Aspekt an der ganzen Sache war, dass Jeff Corrie eine Weile in San Diego beschäftigt sein würde.
Und Becca? Sie konnte nur abwarten.
In einer Sache hatte die Warterei jedoch ein Ende, nachdem die Ermittlungen über die Brände abgeschlossen waren. Derric erklärte, dass er bereit war, Freude zu treffen. Sein Flüstern verriet ihr, dass Isis’ Tod und ihr Versuch, ihrem Bruder die Brandfälle anzuhängen, ihn tief erschüttert hatten. Bruder und Schwester sollten einander liebhaben, schien er zu denken. Becca hoffte, dass sie sein Flüstern in diesem Fall richtig interpretierte.
»Super«, sagte sie.
Vermutlich klang sie ein wenig zu überschwänglich, denn er hielt die Hände hoch und bremste sie: »Ich will sie erst mal nur treffen, sonst nichts.«
»Klar. Nur treffen.« Sie hatte die Adresse und Telefonnummer der Broad Valley Züchter seit dem Tag mit sich herumgetragen, als sie sie bekommen hatte. Sie setzte ihren Rucksack auf dem Boden neben dem Spind ab, leerte ihn aus und durchwühlte ihre Sachen, bis sie den Zettel in ihrem Geometriebuch fand. Den reichte sie ihm und sagte: »Bitte schön.« Danach presste sie die Lippen zusammen, um nicht zu fragen, wann, wo und wie er es anstellen wollte … was immer er vorhatte.
Er sah das Stück Papier an, faltete es zusammen und steckte es in seine Brieftasche. Er suchte ihre Augen auf seine typische Art und sagte: »Du brauchst mich nicht zu beschützen oder so, aber ich hätte gerne, dass du dabei bist, wenn ich sie treffe.«
Als sie das hörte, freute sich Becca sehr. »Klar. Gerne«, antwortete sie. »Sag mir einfach, wann du hin willst.«
Zu ihrer Überraschung sagte er sofort: »Samstag?«
»Ist notiert.«
»Ich könnte schreien«, beschrieb Derric seinen Gemütszustand, als sie am Samstag um zwei Uhr schon ganz in der Nähe der Tulpenfarm waren. Sie hatten nicht vorher angerufen, denn Derric hatte nicht die Nerven dazu gehabt. Er wollte sein Glück so versuchen. Falls sie dort war, gut, falls nicht, würden sie ein andermal wiederkommen.
Die Farm war für Thanksgiving hergerichtet. Nachdem sie den Wagen geparkt hatten und ausgestiegen waren, sahen sie, dass die Veranda herbstlich geschmückt war und überall Kürbisse in allen Formen und Farben herumlagen. Auf einem großen Schild an der Straße stand: WIR NEHMEN KUCHENBESTELLUNGEN ENTGEGEN. Der Duft der Kuchen lag in der Luft, ebenso wie der Geruch von heißem Apfelwein, der von den Bäumen zu kommen schien.
So wie beim ersten Mal kamen sofort die Hunde aus dem Haus gelaufen, gefolgt von Darla Vickland. Sie konnte sich an Beccas Gesicht erinnern, aber nicht an ihren Namen. »Hallo, Mädchen aus Whidbey. Ich habe gesehen, wie ihr die Auffahrt hochgekommen seid.« Sie sah Derric freundlich und neugierig an.
Becca und Derric hatten sich vorher geeinigt, dass Becca das Reden übernehmen würde. »Becca King. Ich war schon mal mit Seth Darrow und seinem Hund hier.«
»Gus«, sagte Darla. »Schlimm, oder? Den Namen des Hundes wusste ich noch, aber deinen nicht.«
Becca lächelte. »Gus kann man nicht so leicht vergessen. Jedenfalls, als ich das erste Mal hier war, habe ich gesehen, dass Ihre Kinder …« Sie hielt inne, weil sie nicht wusste, wie sie sich ausdrücken sollte.
Darla sprach den Satz für sie zu Ende. »Sie sind eine bunte Mischung, was? Wenn wir in die Kirche gehen, sehen wir aus wie eine Delegation der Vereinten Nationen. Und ich glaube, ich weiß auch, worauf du hinauswillst.« Sie nickte Derric zu und fragte: »Aus welchem Teil von Afrika kommst du?«
»Aus Uganda«, antwortete er und nannte auch seinen Vornamen. »Aus Kampala.«
Darla riss die Augen auf. »Im Ernst?«
Und Derric fuhr fort: »Becca hat mir erzählt, dass ein Mädchen bei Ihnen lebt, das auch aus Afrika kommt. Das hört sich vielleicht komisch an, aber ich lebe auf Whidbey Island … im Süden der Insel … Und da gibt es nicht viele Menschen aus Afrika.«
»Whidbey Island ist nicht gerade ein Schmelztiegel der Kulturen«, sagte Becca. »Und als ich Ihre Tochter gesehen habe …«
»Du sprichst von Freude, oder?«, fragte Darla. »Sie ist auch aus Kampala. Sie wurde uns von einer unserer Kirchengruppen vermittelt.«
»Ich dachte, Derric könnte sie vielleicht kennenlernen«, schlug Becca vor.
Darla warf Derric einen kurzen Blick zu. »Sie ist noch zu jung, um was mit Jungs zu haben. Meine Mädchen dürfen erst mit Jungs ausgehen, wenn sie sechzehn sind. Ich bin da vielleicht altmodisch, aber ich will mir keinen Ärger einhandeln.«
Da warf Derric rasch ein: »Ich will nichts mit ihr anfangen. Becca und ich … wir sind zusammen.«
»Seit einem Jahr«, ergänzte Becca.
Darla musste lächeln. »Wenn das so ist, spricht ja wohl nichts dagegen, wenn ihr euch kennenlernt.«
»Ist sie zu Hause?«, fragte Becca.
»Gerade eben«, antwortete Darla und nickte in Richtung Auffahrt. »Die Kinder hatten heute Morgen einen Termin beim Augenarzt in La Conner. Aber sie kommen gerade wieder zurück.«
Derric und Becca sahen, wie ein alter verbeulter Transporter aufs Farmgelände einbog. Er hielt mit einem Ruck an, und während der Motor noch ratterte, ging schon die Tür auf.
Becca spürte, wie Derric ihre Hand nahm. Sie sah ihn an und drückte die seine. Dann wandte sie sich wieder dem Transporter zu. Die Kinder waren herausgesprungen, sprachen wild durcheinander und lachten. Freude war auch dabei. Sie hatte sich ein Halstuch wie einen Turban um den Kopf gewickelt. Außerdem trug sie einen Lichtschutz, wie man ihn vom Augenarzt bekam, nachdem er eine Pupillenerweiterung vorgenommen hatte. Ihre Brüder und Schwestern trugen auch einen, ebenso wie ihr Vater. Und das schien der Grund der allgemeinen Erheiterung zu sein.
Sie gingen aufs Haus zu, doch dann hielt Freude inne. Sie blieb stehen und starrte Becca und Derric an. Eigentlich starrte sie nur Derric an. Und Derric starrte zurück.
Becca hörte ihn leise murmeln, sodass nur sie es hören konnte: »Ich habe eine Schwester.«
»Das hast du.«
Auf dem Rückweg machten sie einen Zwischenstopp in Coupeville. Die kleine viktorianische Stadt erstrahlte von unzähligen Lichtern. Ihre bunten Häuser und Geschäftsgebäude wirkten wie Weihnachtsgeschenke vor dem Hintergrund der Landschaft, die zum länglichen Schatten von Penn Cove abfiel, wo Austern und Muscheln gezüchtet wurden, für die die Stadt berühmt war. Zu dieser Tageszeit war kaum jemand auf den Straßen, außer vielleicht in den Restaurants. Ebenso wie in Langley wurden auch in Coupeville nach fünf Uhr nachmittags die Bürgersteige hochgeklappt. Danach spielte sich das Leben hinter geschlossenen Türen ab – in den Frühstückspensionen, in der einzigen Bar vor Ort, dem alten Toby’s, und in den Restaurants.
Die Anlegestelle reichte weit in die Bucht hinein und Derric parkte seinen Subaru ganz in der Nähe. Sie liefen den Kai entlang, der immer wieder von Straßenlaternen erleuchtet wurde, während sich die Vögel auf die Nacht vorbereiteten und eine steife Brise vom Wasser her den Geruch von Salzwasser herantrug. Auf der anderen Seite der Bucht sahen sie die Lichter der Häuser. Irgendwo war ein Feuer angezündet worden, und der Rauch drang scharf durch die Abendluft.
Sie gingen auf das Café am Ende des Kais zu. Beide wollten noch nicht nach Hause. Becca hatte Ralph Darrow etwas vorgekocht, das er sich in der Mikrowelle warmmachen konnte, und Derrics Eltern wussten, dass er eine Verabredung hatte. Deshalb hatten sie noch ein paar Stunden Zeit, und die wollten sie nutzen, um über das zu sprechen, was bei den Broad Valley Züchtern vorgefallen war.
Nachdem Freude beim Anblick von Derric, der ebenso aus Afrika stammte wie sie selbst, überrascht innegehalten hatte, hatte sie gelächelt und war auf sie beide zugerannt. Sie lief an ihren Geschwistern vorbei und auf Derric zu. »Der Saxophonspieler!«, rief sie. »Du warst in der Kapelle. Und du hattest immer so ein breites Grinsen im Gesicht. Wir sind immer auf dir herumgeklettert. Vor allem Kianga und ich. Und du hast uns gelassen. Du hast uns nie weggestoßen. Aber … ich weiß deinen Namen nicht mehr.«
»Derric«, sagte er. »Ich kann mich auch an dich erinnern.«
Sie lachte fröhlich. »Oh, Mann, ist das cool!« Dann bemerkte sie Becca und erinnerte sich: »Du warst schon mal hier. Mit dem Hund und dem Typen mit den Ohr-Plugs.«
»Becca King«, stellte diese sich vor. »Als ich dich gesehen habe, dachte ich mir, dass du aus Afrika stammst und dass Derric dich vielleicht gerne kennenlernen würde.«
»Ist das cool!«, wiederholte Freude begeistert. »Mom, hast du gewusst …?«
Darla Vickland schüttelte den Kopf. »Die beiden sind gerade erst gekommen.«
Und ihr Vater sagte: »Darauf müssen wir jetzt erst mal Kuchen essen.«
Da entgegnete eines der anderen Kinder: »Das sagt Papa immer.«
Alle fingen an zu lachen. Darla bat Derric und Becca ins Haus, und Freude hakte sich bei dem Jungen unter, ohne zu wissen, dass er ihr Bruder war. »Vielleicht taucht Kianga ja auch irgendwann auf«, sagte sie.
Am Ende des Kais in Coupeville betraten Derric und Becca das Café. Während der Autofahrt hatten sie nicht viel miteinander geredet. Zwar gab es viel zu sagen, aber Becca wusste, dass das warten konnte. Als die Kellnerin kam, bestellten sie Burger, Süßkartoffelfritten und Cola. Die Kellnerin ging, um ihre Getränke zu holen, und Derric sah Becca an.
Er sagte: »Du bist mir näher, als es je irgendjemand sein könnte.«
»Das ist doch gut, oder?«
»Und ob. Und ich will, dass es nie zu Ende geht. Das Problem ist bloß, dass ich oft Mist baue.«
»Das tun wir beide ab und zu, meinst du nicht?«
»Ich will keine Geheimnisse mehr zwischen uns, Becca. Nicht nach dem, was heute passiert ist. Wenn du nicht gewesen wärst und mich nicht zu bestimmten Dingen gedrängt hättest, hätte ich sie nie gefunden. Das habe ich nur dir zu verdanken.«
Er sah sie so ernst und liebevoll an. Und Becca dachte, wie gut es ihm tun würde, alles von A bis Z über sie zu erfahren. Aber wie konnte sie es ihm erzählen, wenn alles mit dem Flüstern begann, mit dem auch der größte Fehler ihres Lebens begonnen hatte? Außerdem hatte sie keine Ahnung, wie es mit ihr weitergehen würde. Was würde sie noch über sich selbst erfahren? Das Flüstern begleitete sie schon viele Jahre. Die Erinnerungsbilder waren neu. Und dann war da noch die Sache mit der Akzeleration. Wie sollte sie das bloß erklären?
Also sagte sie: »Viele Dinge ergeben sich von selbst, meinst du nicht? Wir müssen nur aufpassen und da sein, wenn es passiert.«
Derric nickte. Doch er sah sie noch immer an. Es war, als wollte er in ihre Seele blicken, und in diesem Moment wünschte sie sich, sie würde den Kopfhörer der AUD-Box nicht tragen. Doch sie musste ihrem Vorsatz treu bleiben, Derric den Freiraum zu lassen, sich mit seinen Gedanken allein auseinanderzusetzen.
Dann sagte er: »Ich muss dir etwas erzählen. Es geht um Courtney Baker. Du weißt schon. Als ich letztes Jahr mit ihr zusammen war. Als wir zwei Schluss gemacht hatten.«
»Du musst mir das nicht erzählen«, erklärte Becca. »Außerdem weiß ich schon, was du mir sagen willst.«
Er schwieg und sah an ihr vorbei durchs Fenster auf die Straße, wo sich die Lichter der Straßenlaternen wie eine Kette aneinanderreihten und den Kai säumten. Er schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, und Becca wollte ihm versichern, dass schon genug gesagt worden war. Doch er fuhr fort: »Ich wünschte, mein erstes Mal wäre mit dir gewesen. Du hättest diejenige sein sollen, aber zu dem Zeitpunkt habe ich das nicht begriffen.«
»Irgendwann werde ich es sein.«
Er sah sie an. »Wann?«
»Wenn ich keine Angst mehr habe, dass sich unsere Beziehung dadurch verändert.« Sie dachte an ihre Mutter und an ihre vielen Stiefväter und daran, wie Laurels Hunger nach Liebe und ihr Bedürfnis, von einem Mann versorgt zu werden, ihrer beider Leben beeinträchtigt hatte. »Denn so ist das, Derric«, fuhr sie fort. »Sex verändert alles.«
»Das muss aber nicht so sein.«
»Ich bin sicher, dass es so ist. Nichts bleibt so, wie es war. Sex sollte etwas ganz Besonderes zwischen uns sein. So hätte ich es zumindest gerne. Nicht auf dem Rücksitz deines Subaru oder so. Und nicht übereilt, ohne über die Folgen nachzudenken. Die Entscheidung müssen wir gemeinsam treffen. Dann fange ich an, die Pille zu nehmen, und wir beschließen wie zwei erwachsene Menschen, den nächsten Schritt zu gehen.«
Er dachte darüber nach. Einen Moment lang fürchtete Becca, er würde sagen, dass er nicht warten könne, dass er schließlich siebzehn sei und ob sie eine Ahnung hätte, was es bedeutete, siebzehn Jahre alt und ein Junge zu sein. Doch zu ihrer Überraschung sagte er: »Es war nur einmal mit Courtney. Und danach habe ich mich gefühlt … Ich fühlte mich richtig leer. Wir hatten es nicht geplant. Wir waren vorher bei ihrer Bibelgruppe gewesen, und ich dachte, wir würden darüber sprechen, dass wir es noch nicht tun. Aber ich wollte eigentlich doch, und sie – glaube ich – auch. Aber danach … Ein paar Tage später haben wir Schluss gemacht. Sie dachte, es war, weil ich bekommen hatte, was ich wollte, aber so war es nicht.«
Becca spürte, dass seine Worte sie nicht so sehr verletzten, wie sie befürchtet hatte. Sie nickte und war bloß dankbar, dass er in diesem Augenblick keine Stellungnahme von ihr erwartete.
»Ich glaube, du hast doch recht«, sagte er schließlich. »Es verändert die Dinge tatsächlich.« Und dann lächelte er. Es war sein typisches Derric-Lächeln und das gleiche Lächeln, das auch Freude hatte, als sie den Saxophonspieler plötzlich auf dem Hof ihrer Eltern erblickt hatte. »Für ein Mädchen bist du ganz schön clever«, fügte er hinzu. »Können wir heute noch eine Weile zusammen bleiben?«
Das konnten sie.
Ralph Darrows Grundstück war beleuchtet, als Derric und Becca die Auffahrt hochfuhren. Der Weg auf dem Hügel war auch beleuchtet, als sie darauf rangierten. Doch das Haus in der Talmulde war dunkel, und Becca hätte gedacht, dass Ralph nicht zu Hause war, wenn nicht sein Transporter an seinem üblichen Platz gestanden hätte und er um diese Uhrzeit für gewöhnlich längst im Bett war. Auf der Veranda gab sie Derric einen zärtlichen Kuss, winkte ihm noch einmal zu und ging ins Haus.
Wenn Ralph schon schlief, wollte Becca ihn nicht wecken und ließ das Licht aus. Sie konnte ihr Zimmer auch im Dunkeln finden. Außerdem glühte im Kamin noch Asche, was ebenfalls ein Zeichen dafür war, dass Ralph zu Hause war. Sie durchquerte das Zimmer, um zum Flur zu gelangen, über den sie in den hinteren Teil des Hauses kam. Aber sie stieß sich an Ralphs Sessel.
Er saß darin, absolut still und reglos. Sie schrie überrascht auf, sah aber dann, dass er schlief. Er schien sehr tief zu schlafen, da er von ihrem Schrei nicht aufwachte. Doch sie wollte ihn nicht bis zum Morgen so liegenlassen, denn sie wusste, wie brummig er sein würde, wenn er aufwachte und ganz steif wäre. Also knipste sie das Licht neben ihm an, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte seinen Namen, um ihn zu wecken. Aber als das Licht auf sein Gesicht fiel, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.
Seine Augen waren halb geöffnet und sein Gesicht war grau. Die eine Hälfte war leicht nach unten gezogen, wie zu einem spöttischen Grinsen.
»Mr Darrow?«, sagte sie. »Grandpa?« Doch er reagierte nicht.
Dann sah sie, dass er sein Telefon in der Hand hielt. Er hatte sein Abendessen am Feuer gegessen, denn der leere Teller stand neben dem Sessel auf dem Boden. Aber sonst sah sie nichts. Kein Buch, kein Schachspiel, keine Zeitung, gar nichts. Nur das Telefon in seiner Hand. Sie nahm es ihm ab.
Auf dem Display konnte sie erkennen, dass er die ersten Ziffern der Nummer der Notrufzentrale gewählt hatte. Er hatte Hilfe rufen wollen.
Ihr entfuhr ein kurzer Schrei. Dann rief sie sofort einen Krankenwagen. Und danach sagte sie Seth Bescheid.