KAPITEL 58
Seth kam aus dem Krankenhaus und sah sich um. Er entdeckte Prynne, die auf einer Bank unter einem Zuckerahorn auf der einen Seite des Parkplatzes saß, und ging zu ihr. Sie stand auf, sobald er bei ihr war.
Seine Kehle war so zugeschnürt von all dem Kummer, den er in sich aufstaute, dass es wehtat. Er wollte jetzt auf keinen Fall anfangen zu weinen, deshalb konzentrierte er sich auf Prynne. »Ist dir nicht kalt? Warum bist du nach draußen gegangen?«
»Bessere Energie hier draußen«, antwortete sie. »Ich wollte ihm so viel schicken wie möglich. Was passiert jetzt?«
»Dad ruft die ganze Familie an. Meine Schwester, meine Tante, alle meine Großonkel. Nichten, Neffen, einfach alle. Sie kommen hierher.«
Prynne sah hoch in sein Gesicht. »Aber er atmet noch, oder? Becca hat gesagt, er hat geatmet. Sie hat gesagt, seine Augen waren offen und dass … Oh Seth, es tut mir so leid. Er hatte einen Schlaganfall, oder?«
Seth nickte. Er setzte sich auf die Bank und starrte auf den Boden. »Ich will nicht, dass er stirbt«, sagte er.
Prynne setzte sich neben ihn. Sie legte den Arm um ihn und küsste ihn auf die Schläfe. »Das wird er nicht. Was passiert jetzt?«
»In vierundzwanzig Stunden wissen sie mehr, haben sie uns gesagt. Wenn er durchkommt, wird er … Oh Gott, wenn er zur Reha muss, gibt er sich die Kugel. Oder … Was, wenn er nicht mehr alleine zu Hause leben kann? Prynne, er lebt da seit über vierzig Jahren. Wenn sie ihn zwingen, sein Haus aufzugeben, wird es ihn kaputtmachen. Es wird …«
»Jetzt wart erst mal ab«, sagte Prynne. »Ihr dürft jetzt nichts überstürzen. Eins nach dem anderen. Meinst du nicht?«
Seine Augen trafen ihren aufrichtigen Blick. »Ja. Du hast recht.«
Seth holte seine Schwester Sarah tags darauf am späten Vormittag vom Sea-Tac-Flughafen ab. Sie hatte gleich den ersten Flug von San Jose genommen. Prynne war immer noch bei ihm, und er stellte sie einander vor, aber Sarah nahm kaum wahr, dass Prynne eine junge Frau und vermutlich Seths Freundin war, weil sie mit ihren Gedanken ganz bei ihrem Großvater war. Er würde kämpfen, versicherte ihr Seth.
»Alle sind zu Hause«, sagte er.
Er meinte das Haus seiner Eltern. Es war größer als Ralphs, und sie brauchten ein großes Haus, weil Seths und Sarahs Tante Brenda eingetroffen war. Und Tante Brenda brauchte viel Platz, um gebührend auf den Zustand ihres Vaters reagieren zu können. Und ihre Reaktion bestand bisher vor allem darin, herumzuschreien und darauf zu beharren, dass sofort »Pläne« gemacht wurden. Alle Großonkel, Ralphs vier Brüder, waren zusammen mit ihren Frauen anwesend. Mit Seths Eltern platzte das Haus beinahe aus allen Nähten.
Jeder einzelne von ihnen wusste am Besten, was als Nächstes geschehen sollte, aber Brenda bestand darauf, dass »als das älteste Kind des betroffenen Patienten« ihre Meinung in dieser Angelegenheit Vorrang habe. Sie hatte lautstark für dauerhaftes betreutes Wohnen plädiert. Sie müssten Ralph Darrows Besitz verkaufen, damit er für den Rest seines Lebens versorgt sei, sagte sie.
»Du bist nicht mehr ganz bei Trost«, hatte Seths Dad darauf erwidert. Ralph Darrows Brüder stimmten ihm zu. »Für solche Entscheidungen ist es noch zu früh.«
Brenda ließ sich von diesem Argument nicht beeindrucken und sprach davon, die Vormundschaft für ihren Vater zu erstreiten. Davon ließ sich wiederum Seths Dad nicht beeindrucken, der vorschlug, dass sie einen Blick in Ralphs Bankschließfach in Freeland warfen, für das er – und nicht Brenda – zeichnungsberechtigt sei. Darüber regte sich Brenda dermaßen auf, dass sie anfing, Anwälte ins Gespräch zu bringen. Seths Vater beschwerte sich, dass man mit seiner Schwester noch nie hätte reden können, und stürmte aus dem Haus. In diesem kritischen Moment waren Seth und Prynne aufgebrochen, um Sarah abzuholen. Und er hatte keine große Lust, dorthin zurückzufahren.
Sarah sagte: »Bring mich zu Großvaters Haus.«
Das tat Seth nur zu gerne. Er wollte sowieso sehen, wie es Becca ging. Sie hatte am vorherigen Abend die Familie ins Krankenhaus begleiten wollen, aber Seth hatte sie gebeten, in Ralphs Haus zu bleiben und auf Gus aufzupassen. Er wusste nicht, wie lange er im Krankenhaus bleiben würde und könne daher den Hund nicht mitnehmen.
Als sie Ralph Darrows Haus erreichten, kam Gus aus dem Garten gestürmt. Becca hatte ihn zusammen mit Derric Mathieson von der Veranda aus im Auge behalten. Sie standen von ihren Stühlen auf und gingen zur Vordertreppe.
Die arme Becca sah aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Sie trug immer noch die Kleider vom Vorabend, und ihr Haar war ungekämmt und stand zu allen Seiten ab. Sie fragte: »Wie geht es ihm? Was …?«, schien aber nicht weitersprechen zu wollen. Sie hatte ihren Hörer im Ohr und zog ihn offenbar aus Frust heraus, erschauderte dann aber aus irgendeinem Grund und steckte ihn wieder hinein. Seth stellte sie und Derric seiner Schwester vor. Dann erklärte er: »Sein Zustand hat sich nicht verändert. Aber das ist wohl okay, weil er nicht … du weißt schon.«
Becca sagte: »Ich hätte da sein sollen. Ich hätte nicht wegfahren sollen. Ich meine, er wusste, dass wir nach La Conner fahren, und ich hatte sein Abendessen vorbereitet, und er hat es aufgewärmt, wie ich es ihm gesagt habe. Und er hat es auch gegessen, weil ich den Teller auf dem Boden neben seinem Sessel gefunden habe. Aber wenn ich zu Hause gewesen wäre …«
»Du hättest in deinem Zimmer sein können, um zu lernen«, erwiderte Seth. »Du hättest schon schlafen können. Du hättest mit Derric auf der Veranda sitzen können. Ja klar, wenn du mit ihm im Wohnzimmer gewesen wärst, hättest du das Telefon nehmen und den Notarzt rufen können, aber wie wahrscheinlich wäre das gewesen, Beck? Mach dir keine Vorwürfe.«
»Was passiert jetzt?« Becca richtete die Frage an alle, aber Seth war derjenige, der antwortete.
»Momentan streiten sie sich alle. Mein Dad, meine Tante, Großvaters Brüder. Sie haben alle unterschiedliche Meinungen, was als Nächstes passieren soll.«
»Was wird also passieren?«
»Erst mal nichts. Mein Dad wird auf keinen Fall zulassen, dass Tante Brenda das Haus verkauft und …«
»Verkauft?«
»Das hat sie vor.«
»Aber bisher weiß doch niemand, was für Folgen der Schlaganfall für ihn haben wird«, wandte Derric ein.
»Das ist auch der Grund«, sagte Sarah voraus, »warum es im Darrow-Clan zu einem Riesenstreit kommen wird.«
An diesem Nachmittag lief Seth Hayley über den Weg. Er und Prynne kamen gerade aus dem Krankenhaus, nachdem sie Sarah an Ralph Darrows Krankenbett zurückgelassen hatten. Genau wie Seths war Sarahs Haltung eindeutig: Niemand würde Ralph Darrow irgendwohin schicken.
Zuerst dachte Seth, dass Hayley auch wegen seines Großvaters dort war. Aber wie sich herausstellte, war sie wegen Brooke da, um die man sich im Krankenhaus kümmerte. Hayley brachte ihn auf den neuesten Stand. Dann sagte sie mit einem Blick zu Prynne, die mitfühlend zuhörte: »Danke, Seth, dass du sie zur Praxis gebracht hast.«
Er erwiderte: »Ist schon in Ordnung. Sie wollte einfach nur nicht, dass irgendjemand mitbekommt, wie mies es ihr geht. Und ihr habt schon so viel am Hals. Wie solltet ihr da darauf kommen?«
Hayley schien nicht wirklich erleichtert. »Stimmt wohl«, gab sie mit leiser Stimme zurück, worauf Prynne sanft fragte: »Aber was noch, Hayley?«
Hayley lächelte sie unsicher an. Sie führte die Finger an ihre Lippen und sagte hinter ihnen: »Brooke wusste, dass wir keine Krankenversicherung haben. Derrics Mom sagt, dass es auf der Insel eine Organisation gibt, die Leuten hilft, ihre Arztrechnungen zu bezahlen, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, es sei denn wir beantragen … Krankengeld … Sozialhilfe. Dad müsste sich eigentlich berufsunfähig melden, aber er ist so stur. Weil, dann würde er zugeben, dass … ihr wisst schon.«
Seth wollte einwenden, dass er ihr helfen könne, doch er wusste, dass er es nicht konnte, weil das Problem größer war als Brookes blutendes Geschwür und der Gesundheitszustand von Hayleys Dad. Da war auch noch die Farm.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Hayley: »Wir werden sie verkaufen müssen. Es wird meinem Dad das Herz brechen. Die Farm hat schon seinen Urgroßeltern gehört. Aber wir haben keine Wahl. Das Geld reicht vorne und hinten nicht. Ich dachte, wenn ich nicht aufs College gehe …«
»Das kannst du nicht tun, Hayley.«
»… würde es helfen, aber das wird es nicht. Gar nichts wird helfen.«
Prynne legte eine Hand auf Hayleys Arm und sagte: »Ich habe Seth gesagt, dass seine Familie nichts überstürzen soll. Das solltet ihr auch nicht.«
»Dann hat das nie ein Ende«, erwiderte Hayley.
Auf dem Rückweg vom Krankenhaus wollte Seth Prynne eigentlich zur Fähre bringen, damit sie zurück nach Port Gamble fahren konnte. Aber sie bat ihn, sie stattdessen zur Smugglers Cove Blumenfarm zu fahren. »Ich habe eine Idee für die Farm, Seth. Ich glaube, es gibt eine Lösung. Auch wenn sie nicht unbedingt einfach umzusetzen ist«, erklärte sie.
Also brachte er sie dorthin. Aber sie wollte nicht, dass er sie ganz bis zum Haus fuhr. Stattdessen bat sie ihn, neben der Scheune mit den Hühnern anzuhalten. Zuerst dachte er, sie hätte einen Vorschlag, was die Hühner oder vielleicht die Scheune betraf. Aber als Prynne aus dem Auto stieg, ging sie zur östlichen Seite der Scheune. Dann blickte sie hinaus auf die Felder, die seit vierundzwanzig Monaten brach lagen. Momentan waren sie nutzlos, für nichts anderes zu gebrauchen als Gras.
Wie sich herausstellte, war das jedoch genau Prynnes Idee. »Nichts wächst besser als Gras«, sagte sie.
Zuerst dachte Seth, sie hätte sie nicht mehr alle. Wie sollten die Cartwrights davon leben, Gras anzubauen?
Prynne lächelte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Es ist jetzt legal. Und die Nachfrage nach THC ist riesig. Jeden Tag entdecken sie neue Anwendungsmöglichkeiten, Seth. Es wird nicht einfach sein, denn, solange sich die Gesetzgebung nicht ändert, werden sie Treibhäuser brauchen und die Hilfe der örtlichen Regierung, um sicher zu gehen, dass alles gut läuft. Aber das Licht hier … Die Pflanzen kriegen hier bestimmt mindestens zwölf Stunden Sonnenlicht sechs bis acht Monate im Jahr. Wie schwer wird es da sein, Leute zu finden, die in das gewinnbringendste Agrarprodukt investieren wollen, das dieser Bundesstaat je produzieren wird?«
»Jetzt kapier ich’s«, sagte Seth. »Du redest von Marihuana.«
»Jetzt, da es in diesem Bundesstaat völlig legal ist, wird es nicht lange dauern, bis jemand anfängt, es anzubauen. Warum also nicht die Cartwrights?«
Er blickte auf die Felder hinaus. Er konnte sich die zukünftigen Treibhäuser darauf vorstellen, Treibhäuser, bei deren Bau er mithelfen würde. Mit Zustimmung des Staates Washington, und jetzt, da Marihuana legal und die Nachfrage nach medizinischem Cannabis groß war … Prynne hatte recht. Irgendjemand würde mit dem Anbau beginnen. Warum also nicht die Cartwright-Familie?
Er drehte sich um, nahm sie an den Schultern und gab ihr einen langen Kuss. »Ich glaube, dass ich nach Port Townsend gefahren bin, um dich Geige spielen zu hören, war das Beste, was ich in meinem ganzen Leben getan habe«, sagte er.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, gab sie zurück. Sie schmiegte sich in seine Arme und erwiderte seinen Kuss.