KAPITEL 2

Hayley Cartwright sah sich nach ihrer Schwester Brooke um, die sich eigentlich nur vom Familienstand auf dem Wochenmarkt von Bayview entfernt hatte, um kurz zur Toilette zu gehen. So eine Lügnerin. Sie war jetzt schon eine halbe Stunde weg und Hayley und ihre Mutter konnten sehen, wie sie alleine zurechtkamen, denn an dem Stand gab es mindestens Arbeit für drei. Brooke packte normalerweise das Gemüse ein und wog es, Hayley wickelte die Blumen in Papier und steckte den Schmuck in kleine Schachteln, und ihre Mutter kassierte und gab Wechselgeld heraus. Jetzt, da Brooke weg war, sprang Hayley von einer Seite des Stands zur anderen, um alles im Blick zu behalten – vor allem den aus Meerglas gefertigten Schmuck, der gar nicht so leicht herzustellen war und gleichzeitig ihre Haupteinnahmequelle darstellte.

Nicht dass irgendjemand die Cartwrights bestehlen würde – jedenfalls niemand, der sie kannte. Den Cartwrights auch nur einen Cent zu stehlen wäre genauso schlimm gewesen wie ihnen ihr jämmerliches Bankkonto leerzuräumen, und alle Bewohner des südlichen Teils von Whidbey Island, die die Familie kannten, wussten das auch. Deshalb stellten sich die Leute geduldig in die Schlange, um für die Blumen und das Gemüse zu bezahlen, welche die Cartwrights auf der Smugglers Cove Blumenfarm züchteten. Sie plauderten miteinander in der warmen Septembersonne, tätschelten die unzähligen Hunde, die die Marktbesucher begleiteten, und lauschten der Musik der hiesigen Marimba-Bands, die sich wöchentlich abwechselten.

An diesem Tag aber war Hayley ein Mädchen aufgefallen, das sie nicht kannte und das mindestens zehn Minuten lang ihre Ketten, Armbänder, Ohrringe und Haarspangen betatschte. Und nicht nur das; sie probierte sie auch an. Sie war hübsch, hatte breite Schultern wie eine Profischwimmerin und wohlgeformte Arme und Beine, die ihr Tanktop und ihre Shorts gut zur Geltung brachten. Ihre Haare erinnerten ein bisschen an Kleopatra – wenn Kleopatra hellblond gewesen wäre –, und ihr Pony hing ihr fast in die Augen, die von solch einem intensiven Kornblumenblau waren, dass es eigentlich nur von farbigen Kontaktlinsen stammen konnte.

Sie sah, wie Hayley sie beobachtete, während sie sich eine dritte Kette um den elfenbeinfarbenen Hals legte. Sie hatte bereits vier Armbänder an und griff nach einem Paar Ohrringe, das aufwändig gemacht war, so als wäre es das Normalste von der Welt, sich wie ein Schmuckbaum zu behängen.

Dann sagte sie zu Hayley: »Ich kann mich nie entscheiden, wenn ich alleine bin. Klamotten anprobieren ist die Hölle. Meine Großmutter ist hier irgendwo …« Sie sah sich flüchtig auf dem überfüllten Markt um. »… und ich könnte sie ja fragen, aber sie hat so einen grauenvollen Geschmack … Was will man von einer erwarten, die mit Holzschnitzen ihr Geld verdient? Das heißt nicht, dass ich was gegen Holzschnitzen hätte. Ich bin übrigens Isis Martin. Das ist ägyptisch. Der Name, meine ich. Isis war irgendeine Göttin. Ich vergess immer, was für eine, aber ich hoffe, sie war die Göttin der Lust, denn mein Freund zu Hause ist so was von heiß, sag ich dir. Aber egal. Woraus sind die, und was meinst du, welche stehen mir am besten?« Währenddessen hatte sie eine vierte Kette umgelegt, und das war komisch, denn sie trug bereits eine Kette aus Gold mit länglichen Elementen, die in ihrem Tanktop verschwand und sicher ein Vermögen gekostet hatte. Sie sah in einen Standspiegel, den Hayley ihr hingeschoben hatte, und unterbrach ihre Selbstbetrachtung, um ihren Lippenstift aufzufrischen, den sie aus einer geflochtenen Handtasche hervorgekramt hatte.

Hayley gefiel die Tasche, aber sie sagte nichts, aus Angst, einen weiteren Redeschwall bei dem Mädchen auszulösen. »Das ist Meerglas. Ich mache das selbst. Ich meine, den Schmuck.«

»Meerglas?«, fragte Isis verwundert. »Aus dem Meer? Und kriegst du es … ich meine, tauchst du? Ich hab das mal gelernt. Mein vorheriger Freund und seine Familie sind total viel tauchen gegangen und einmal haben sie mich in den Osterferien zur Spitze von Niederkalifornien mitgenommen. Sie wollten mir das Tauchen beibringen, aber das war eigentlich ein Witz, denn ich bin total klaustrophobisch.«

»Ich finde es am Strand«, warf Hayley ein, als Isis kurz Luft holte. Sie sah an ihr vorbei, um nach Brooke Ausschau zu halten. Aber ihre Schwester war nirgendwo in Sicht, das hieß, sie musste weitermachen mit Einpacken und Abwiegen. Sie blickte sich um: Die Schlange geduldiger Kunden wurde immer länger, und inzwischen hatte ihre Mutter mit dem Einpacken begonnen. Sie wirkte ziemlich gestresst und warf Hayley einen flehenden Blick zu.

»Am Strand? Wie cool ist das denn!«, rief Isis aus. Sie griff sich die fünfte Kette. »Ich liebe den Strand. Kann ich vielleicht mal mitkommen? Ich hab auch ein Auto. Meine Eltern mussten mir schließlich einen fahrbaren Untersatz spendieren, damit ich überhaupt hierher komme. Allerdings könnte ich dir nicht groß beim Suchen helfen. Ohne meine Kontaktlinsen bin ich nämlich blind wie ein Maulwurf, und am Strand trage ich sie nicht, weil einem der Sand so leicht in die Augen fliegt, weißt du?«

»Ich fahre immer zum Strand hinter Port Townsend«, erklärte Hayley ihr. »Und man geht am besten im Winter hin, nach einem Sturm oder so.«

»Was ist da?« Isis betrachtete sich im Spiegel und lachte. »Ach, du meinst, wo du das Glas findest. Ich bin so ein Schussel. Ich vergesse immer, wovon ich gerade gesprochen habe. Wo ist denn Port Townsend? Lohnt es sich, da hin zu fahren? Haben die gescheite Läden?« Sie reichte Hayley eine sechste Halskette, die sie nicht anprobiert hatte. Außerdem entschied sie sich für ein Armband, das sie bereits am Arm trug, ein Paar Ohrringe, die sie gar nicht im Spiegel betrachtet hatte, und eine Haarspange, die zu keinem der drei anderen Teile passte. »Ich glaub, das war’s. Hast du mir schon gesagt, wie du heißt? Ich weiß gar nicht mehr. Ich bin so trottelig.«

Sie fing an, die Ketten zu entwirren, die sie anprobiert hatte, während Hayley sagte, dass ihr Name Hayley Cartwright sei und dass es in Port Townsend tatsächlich ein paar coole Läden gäbe, wenn man sich die Preise dort leisten konnte. Hayley konnte es nicht, aber das behielt sie für sich. Sie addierte die Preise für Kette, Armband, Ohrringe und Haarspange und half dem Mädchen, alles andere abzunehmen. Sie sagte Isis, was es zusammen kostete, und das Mädchen holte eine dicke Brieftasche aus ihrer geflochtenen Handtasche. Darin war alles Mögliche: Zeitungsausschnitte, zusammengefaltete Zettel mit aufgekritzelten Notizen, Kaffee-Bonus-Kärtchen, Fotos und Bargeld. Und zwar viel Bargeld. Isis zog ein Bündel Scheine heraus und reichte es ihr abwesend.

Dabei sagte sie: »Würdest du …? Nimm einfach, was du brauchst.« Dann lachte sie. »Ich meine natürlich, nimm, was es kostet!« Dann legte sie sich die neue Kette um und steckte sich die Spange ins Haar. Letzteres tat sie mit sehr viel Geschick. Sie mag vielleicht ein Spatzenhirn haben, dachte Hayley, aber wenn es um ihr Aussehen geht, hat sie es voll drauf.

Hayley nahm sich das Geld für den Schmuck und gab ihr die restlichen Scheine zurück. Isis bewunderte die Spange in ihrem Haar. Die Meerglaskette an ihrem Hals war tatsächlich eine gute Wahl, denn sie passte farblich exakt zu ihrer Augenfarbe.

Isis nahm das Restgeld entgegen und stopfte es wieder in ihre Brieftasche. Die Fotoabteilung darin war drei Finger dick. »Oh, du musst ihn dir ansehen«, sagte sie und blätterte zum ersten Bild. »Ist der nicht heiß?« Sie zeigte Hayley das Bild eines Jungen, dessen Haare zu allen Seiten abstanden, wie bei einer Comicfigur, die einen elektrischen Schlag bekommen hat.

»Ähm … Er ist …?« Zu dem Typen fiel Hayley absolut nichts ein.

Isis lachte fröhlich. »Er sieht nicht wirklich so aus. Das hat er nur gemacht, um seine Eltern zu ärgern.« Sie steckte die Brieftasche zurück in die Handtasche. »Hey, hast du Lust, mit mir so’n Rollding zu essen oder wie die heißen? Keine Ahnung, aber die Frau da vorne verkauft sie und die sehen aus, als sollte ich lieber die Finger davon lassen, aber gerade darum werde ich mir zwei oder drei genehmigen. Wie heißen die?«

Hayley musste gegen ihren Willen lachen. Irgendwie hatte diese Isis Martin etwas, das sie faszinierte. »Frühlingsrollen«, sagte sie.

»Genau! Ich seh schon, ich brauche dich, um das mysteriöse Inselleben zu meistern. Ich bin schon seit Juni hier. Habe ich das erwähnt? Ich und mein Bruder …« Sie verdrehte die Augen, und zuerst dachte Hayley, das würde sich auf ihren Bruder beziehen, doch dann korrigierte Isis sich. »Mein Bruder und ich. Großmutter hasst es, wenn ich ›ich‹ zuerst sage, deshalb mache ich es manchmal extra. Dann glaubt sie, ich wüsste nicht, wie es richtig heißt. Ich mag zwar ein Volltrottel sein, aber ich weiß schon, dass es sich nicht gehört, sich selbst an erster Stelle zu nennen. Für wie blöd hält die mich? Willst du jetzt eine Frühlingsrolle, oder zwei oder sechs?«

»Sorry, aber ich kann hier nicht weg …«, sagte Hayley entschuldigend und zeigte auf die Schlange von wartenden Kunden. »Ich kann meine Mutter nicht alleine lassen. Meine Schwester müsste längst wieder da sein, aber sie ist wie vom Erdboden verschwunden.«

»Geschwister sind eine echte Plage. Dann vielleicht ein andermal.«

»Geh ruhig, Hayley.« Das war Hayleys Mutter. Sie hatte ihre Unterhaltung die ganze Zeit verfolgt. »Ich komm schon klar. Und Brooke kommt sicher bald zurück.«

»Schon okay. Ich brauch nicht …«

»Du gehst jetzt, Schatz«, sagte ihre Mutter, keinen Widerspruch duldend.

Hayley wusste, was das bedeutete. Dies war ihre Gelegenheit, »einfach nur Kind« zu sein, und ihre Mutter wollte, dass sie die wahrnahm.

Brooke tauchte erst auf, als sie schon dabei waren, den Stand abzubauen und das übriggebliebene Gemüse für die städtische Essensausgabe fertigzumachen, eine Einrichtung der Insel, von der die meisten Besucher Whidbeys nichts mitbekamen. Die Inseltouristen reisten an, um die einzigartige Atmosphäre zu genießen: die steil vom Strand aufragenden Klippen, muschelübersäte Strände voller Treibholz, glasklares Wasser, in dem man mit dem Krabbenkäfig innerhalb von zwei Stunden fünfzehn Taschenkrebse fangen konnte, tiefe Wälder mit schattigen Wanderwegen, idyllische Dörfer mit Schindeldächern und Küstencharme. Die Obdachlosen und bedürftigen Familien dagegen blieben für die Besucher unsichtbar. Doch die Bewohner der Insel brauchten nicht lange zu suchen, um auf Menschen in Not zu treffen. Viele waren ihre eigenen Nachbarn. Und als Brooke nörgelte, wie »bescheuert es ist, das Gemüse zu verschenken, anstatt es zu verkaufen und Geld damit zu verdienen«, schaute ihre Mutter in den Rückspiegel und sagte: »Es gibt Menschen, denen es noch schlechter geht als uns, Schatz.«

Brookes Antwort »Echt? Wem denn?«, war eigentlich untypisch für sie. Aber das kam in letzter Zeit häufiger vor. Ihre Mutter meinte, das wäre bloß eine Phase. »Das ist die Pubertät. Das weißt du doch auch noch«, sagte sie zu Hayley, so als ob sie als Dreizehnjährige ebenfalls eine unausstehliche Göre gewesen wäre. Hayley glaubte nicht, dass Brookes Haltung etwas mit der Pubertät zu tun hatte, sondern vielmehr mit dem großen Thema, über das in ihrer Familie keiner sprach.

Ihr Vater, Bill Cartwright, war sehr krank. Es war ein schleichender Prozess, der an seinen Knöcheln eingesetzt und sich inzwischen die Beine hochgearbeitet hatte, die seinem Gehirn nicht länger gehorchten. Früher war ihr Vater mit ihnen zum Markt gefahren und hatte am Stand verkauft. Früher hatte er auch auf der Smugglers Cove Blumenfarm mitgearbeitet. Damals züchtete Hayleys Mutter Pferde, was sie heute nicht mehr tat, und kümmerte sich um die Blumen, während er Ziegen züchtete und auf dem Gemüsebeet arbeitete, und die Mädchen die Hühner versorgten. Doch damit war es vorbei, und die Frauen verrichteten nur noch die Farmarbeit, die sie gerade eben bewältigen konnten, wobei sich der jüngste Spross der Familie, Cassidy, lediglich am Eiereinsammeln beteiligen konnte. Alles andere wurde einfach nicht mehr gemacht. Aber darüber wurde nicht gesprochen und auch nicht darüber, wie sie ihre Situation eventuell verbessern könnten. Hayley fand diese Art zu leben zutiefst unaufrichtig.

Sie fuhren auf der Schnellstraße Richtung Norden nach Hause, und Julie Cartwright fragte Hayley nach dem »gesprächigen Mädchen, das den Schmuck gekauft hat«. Wer war sie? Eine Tagesbesucherin aus Seattle? Eine Urlauberin? Jemand aus der Schule? Hayleys neue Freundin? Sie kam ihr nicht bekannt vor.

Hayley entging der hoffnungsvolle Tonfall ihrer Mutter nicht. Ihre Frage war zweifach motiviert. Zunächst wollte sie das Thema wechseln, um Brooke abzulenken. Und zweitens wollte sie, dass Hayley ein normales Leben führte. Hayley erzählte ihrer Mutter, dass es sich bei dem Mädchen um Isis Martin handelte …

»Was ist das denn für ein bekloppter Name?«, unterbrach Brooke spöttisch.

… und dass sie seit Juni auf der Insel lebte, und zwar bei ihrer Großmutter, zusammen mit ihrem Bruder … Hayley fiel auf, dass dies alles war, was sie von Isis’ Geplapper behalten hatte, außer, dass sie einen Freund hatte. Isis hatte vier Frühlingsrollen gekauft und schlauerweise beschlossen, nur zwei davon zu verzehren. Die anderen beiden hatte sie Hayley gegeben mit den Worten: »Tu mir einen Gefallen und iss die auf, ja?« Das hatte sie ganz locker und beifällig dahingesagt, und Hayley mochte sie dafür umso mehr.

Nachdem sie gegessen hatten, sagte Hayley, sie müsse zurück zum Stand, und Isis hatte ihre Smartphone-Nummer auf einen Zettel geschrieben und ihr mit der Bemerkung gegeben: »Vielleicht können wir ja Freundinnen sein. Ruf mich an. Oder schreib ’ne SMS. Oder ich ruf dich an. Dann können wir was zusammen machen. Das heißt, wenn du es mit mir aushältst.« Dann zog sie eine riesige Sonnenbrille aus ihrer Flecht-Handtasche, deren Bügel mit Strasssteinchen besetzt waren, und sagte: »Ist die Brille nicht ober-crazy? Hab ich ihn Portland gekauft. Aber gib du mir auch deine Nummer. Falls ich dich nicht schon völlig totgelabert habe. Ich hab ADS. Wenn ich meine Tabletten nehme, kann ich mich zusammenreißen, aber wenn ich sie vergesse … Dann quassel ich wie ein Wasserfall.«

Hayley hatte Isis ihre Telefonnummer gegeben, obwohl ihr Handy so alt war, dass sie damit nicht mal eine SMS schreiben konnte. Sie nannte ihr auch ihre Nummer zu Hause, woraufhin Isis ausstieß: »Wow, eine Festnetznummer!«, und so überrascht klang, als hätte Hayley gesagt, dass sie noch Petroleumlampen benutzen.

»Na ja«, sagte Hayley zu ihrer Mutter. »Sie war ein bisschen schusselig, aber sonst ganz nett.«

»Das ist doch schön«, antwortete Julie Cartwright.