KAPITEL 3

Als sie auf der Smugglers Cove Blumenfarm ankamen und lang-
sam die Auffahrt zu den roten Farmgebäuden hinaufzuckelten, sahen sie Hayleys Dad zusammen mit Cassidy auf der Veranda. Sie saßen auf der Schaukel und blickten hinaus auf den Hof. Cassidy hielt eines der Kätzchen, die auf dem Hof lebten, im Würgegriff. Und Bill Cartwright hielt mit ebenso festem Griff die Kette fest, an der die Schaukel hing.

Er kämpfte sich mühsam auf die Beine, während die anderen so taten, als bemerkten sie es nicht – so wie immer. Aber es zu ignorieren wurde immer schwerer, weil er inzwischen eine Gehhilfe benutzte. Während seine Frauen aus dem Wagen stiegen, arbeitete er sich langsam zum Rand der Veranda vor und rief: »Hayley, sag dem jungen Mann, er soll das Gemüse in Ruhe lassen. Ich konnte ihn nicht davon abhalten.« Hayley wandte sich zu den Gemüsebeeten um, die sich – kurz vor der Herbsternte – üppig vor ihrem Auge erstreckten.

Doch sie sah Seth Darrows 1965er VW, bevor sie ihn selbst sah. Der hergerichtete Käfer parkte neben der Scheune. Seth selbst hockte nicht weit von ihr im Süßkartoffelbeet. Er kümmerte sich bestimmt um das Bewässerungssystem, entschied sie. Damit hatten sie schon den ganzen Sommer lang Ärger gehabt. Wahrscheinlich war er zufällig vorbeigekommen, und ihr Vater hatte das Problem vermutlich im Gespräch erwähnt. Und es war typisch für Seth, dass er sich direkt an die Arbeit gemacht hatte.

»Ich habe ihm gesagt, dass ich mich morgen darum kümmere«, sagte Hayleys Vater.

»Ach, du kennst ja Seth«, bemerkte ihre Mutter leichthin. »Brooke, frag ihn bitte, ob er ein Thunfisch-Sandwich möchte.«

»Von wegen. Ich will selbst ein Thunfisch-Sandwich.« Brooke stapfte die Treppe hoch, fegte über die Veranda, sagte: »Willst du die blöde Katze zerquetschen?« zu Cassidy, ging ins Haus und knallte die Tür mit dem Fliegengitter hinter sich zu.

Julie Cartwright seufzte. »Ich hab gehofft, der Hund würde sie ablenken.« Damit sie nicht immer nur ans Essen denkt … fügte sie vermutlich in Gedanken hinzu. Brooke hatte nämlich in letzter Zeit ganz schön zugelegt, und zwar mehr als normal, aber das war auch ein Thema, über das niemand redete.

Der Hund, von dem sie sprach, war Seths Labrador Gus, der gerade ausgiebig die Kürbisse beschnüffelte.

»Ich frag ihn«, sprang Hayley ein.

»Sag Seth, das Sandwich wartet auf ihn«, sagte ihre Mutter. Mit anderen Worten: nachdem er mit der Arbeit fertig ist. Das überraschte Hayley, denn normalerweise nahmen sie keine Hilfe von Außenstehenden an. Und Seth war zwar ihr Exfreund, gehörte aber nicht zur Familie.

Seth war so in die Reparatur der Bewässerungsanlage vertieft, dass er das Eintreffen der anderen Mitglieder der Familie Cartwright gar nicht wahrgenommen hatte. Er sah nicht einmal auf, bis Gus Hayley auf dem Weg zwischen den Beeten entgegenlief, als sie das Tor im Zaun durchschritt, der die Beete vor den räubernden Rehen und Kaninchen der Insel schützen sollte.

Hayley sah, dass er Arbeitskleidung trug. Sonst hatte er immer seine weite Jeans, Sandalen mit Socken, T-Shirt und den schwarzen Filzhut an. Heute trug er einen Overall, schwere Arbeitsschuhe und eine Baseballkappe, aus der hinten sein langer Pferdeschwanz herausguckte. Aber Hayley hätte auch so gesehen, dass er von der Arbeit kam, denn seine Ohr-Plugs waren voller Sägemehl und seine Hände hatten Kratzer und Macken von der Arbeit auf dem Bau.

»Hey«, begrüßte er sie und unterbrach seine Arbeit, um seine Baseballkappe leicht hochzuschieben. »Ich bin vorbeigekommen, weil ich dir was erzählen wollte, und da sagte dein Vater …« Dabei machte er eine Kopfbewegung zu der Stelle hin, wo er gerade gearbeitet hatte.

»Danke, Seth«, sagte Hayley. »Mom macht dir ein Sandwich für nachher.« Sie beugte sich hinunter, um Gus zu streicheln, der um ihre Beine strich und um ihre Aufmerksamkeit buhlte.

»Cool«, antwortete er, und zu Gus: »Hör auf damit, Junge.«

»Kein Problem«, sagte Hayley. »Und … danke, Seth. Er schafft es nicht mehr nach hier draußen. Ich meine, er schafft es schon, aber er kann keine harte Arbeit mehr verrichten.«

»Ja, hab ich gemerkt.« Er sah blinzelnd zu ihr hoch und schien abzuschätzen, was wohl passieren würde, wenn er jetzt sagte, was er gerne sagen wollte, und tat es dann trotzdem: »Ich wünschte, ihr würdet es euch nicht so schwer machen, Hayl.«

»Das wünsche ich mir auch.« Sie sah ihm eine Minute lang zu. Er hantierte mit Schraubenschlüsseln, Zangen und Draht, und sie hatte keine Ahnung, was er da machte. Dann sagte sie: »Warum bist du vorbeigekommen? Du wolltest was erzählen?«

»Ich hab die Prüfung bestanden.«

Sie spürte, wie sie anfing zu strahlen. »Super, Seth. Herzlichen Glückwunsch!«

»Meine Nachhilfelehrerin ist so was von erleichtert. Mathe war verdammt knapp. Und sie sagt, ich könnte nicht mal ordentlich lesen, wenn mein Leben davon abhängen würde, und da hat sie wohl recht. Meine Mutter wird vor Freude nackt im Mondlicht tanzen. Ihr könnt alle kommen, aber ich verlange Eintritt. Aber das ist noch nicht das Beste.«

»Nicht?« Hayley konnte sich gar nicht vorstellen, dass es noch bessere Neuigkeiten geben könnte. Seth war in der elften Klasse von der Schule abgegangen und hatte in dem Jahr, das sein Abschlussjahr gewesen wäre, kaum für die Hochschulreife-Prüfung gelernt. Nur in den letzten sechs Monaten hatte er sich zusammengerissen. Dass er sowohl seine Versagensangst als auch seine diversen Lernschwächen überwunden hatte, um die Prüfung zu machen und zu bestehen, darauf war seine ganze Familie sicher sehr stolz.

Seth verkündete: »Triple Threat spielt dieses Jahr auf dem Djangofest.« Er versuchte, gelassen zu klingen, aber Triple Threat war sein Gypsy-Jazz-Trio und das Djangofest ein über fünf Tage laufendes internationales Musikfestival, das der anspruchsvollen Musik des französischen Gitarristen Django Reinhardt gewidmet war. Und es war schon immer Seths Traum gewesen, während des Festivals an einem der vielen Spielorte in Langley aufzutreten.

»Oh, mein Gott! Das ist ja irre, Seth!«, rief Hayley aus. »Hast du es schon deinen Eltern erzählt? Und deinem Großvater? Wo werdet ihr denn spielen?«

»Meine Mutter und mein Vater wissen Bescheid, aber sie sind die Einzigen. Bis auf die anderen Jungs im Trio, natürlich. Leider haben wir keine gute Zeit erwischt: Mittwochnachmittag um fünf in der Highschool. Da werden wahrscheinlich nicht viele Leute auftauchen, aber …«

»Ich komme auf jeden Fall. Und deine Familie auch. Und Becca und Jenn und …«

»Klar. Wahrscheinlich.« Er klang gleichgültig, aber Hayley wusste, dass er sich freute. Dann sagte er: »Jedenfalls sieht das hier schon wieder ganz gut aus.« Dabei zeigte er auf seine Reparaturarbeiten. Dann stand er auf und wischte sich die Hände ab. Die beiden standen sich nun Auge in Auge gegenüber, und diese Nähe war ihr überhaupt nicht angenehm. Sie waren nur noch Freunde, anders als früher. Es ging nicht anders, und das wusste er auch. Doch manchmal spürte sie, dass er sich mehr wünschte.

Sie trat einen Schritt zurück. Und um nicht zu zeigen, dass sie die Nähe zu ihm vermeiden wollte, wandte sie sich zum Haus um, wo ihr Vater am Rand der Veranda stand und zu ihnen herübersah. Sie runzelte die Stirn, als ihr seine Haltung auffiel und sie sah, wie er sich auf die Gehhilfe stützen musste, um aufrecht stehen zu können, und wie er ein Bein hinter dem anderen herzog, um ein paar Schritte vorwärts zu machen.

Seth schien ihre Gedanken zu lesen und sagte: »Nicht gut, was?«

»Ich kann das nicht.«

»Was?«

Sie zeigte auf die Farm um sie herum: auf die weiten Felder, die leere Pferdekoppel und den langen niedrigen Hühnerstall unten an der Straße. »Du weißt schon«, erwiderte sie.

Er verfolgte ihre Geste mit dem Blick, betrachtete die Farm und überlegte, was sie für sie bedeutete. »Hast du schon überlegt, wo du dich bewerben willst, Hayley?«, fragte er schließlich.

Hayley wusste, worauf er hinauswollte, aber sie hatte nicht vor, sich an Universitäten zu bewerben. In ihrer Familie wusste das noch niemand. Und Seth auch nicht. Und dabei wollte sie es belassen, so lange, bis es zu spät sein würde, um noch etwas daran zu ändern.

Darum antwortete sie: »Ich bin nahe dran«, obwohl das eine Lüge war.

»Und wo willst du hin?«

»Weiß ich noch nicht. Ich sage ja, ich bin nahe dran, aber ich hab mich noch nicht entschieden.«

Doch Seth war nicht dumm. Er kannte diesen Klang in ihrer Stimme und sagte: »Mach keinen Quatsch, Hayl. Du hast den nötigen Grips. Also nutz ihn.«

Sie sah ihn an. »So einfach ist das nicht. Das weißt du genau, Seth Darrow.«