KAPITEL 4
Seth fuhr schließlich zum Haus seines Großvaters. Er hatte zwei Gründe dafür. Erstens wollte er ihm die gute Nachricht mitteilen. Aber das Thunfisch-Sandwich von Mrs Cartwright hatte ihn noch auf etwas anderes gebracht. Er hatte am Küchentisch gesessen und das Sandwich verschlungen, als sein Blick auf die Lokalzeitung fiel, die auf einem Stuhl lag. Er las den South Whidbey Record nie, denn dazu reichten seine Lesekünste nicht aus. Auch jetzt wäre er nicht auf die Idee gekommen, die Zeitung zu lesen, wenn das Foto auf der Titelseite nicht seine Aufmerksamkeit geweckt hätte. Es war keine neue Zeitung, denn es ging dabei um das Feuer auf dem Volksfest. Das Feuer war Mitte August dort ausgebrochen, und jetzt war es bereits Anfang September. Deshalb fragte er sich, warum die Zeitung immer noch hier herumlag. Während er versuchte, darauf eine Antwort zu finden, sah er das Foto.
Darauf waren Becca King, Derric Mathieson und Jenn McDaniels. Es war keine Nahaufnahme, aber sie stachen aus der Menge hervor, weil sie sich vom Feuer entfernten, während die anderen darauf zu liefen. Becca war besonders gut zu erkennen. Er fragte sich, ob sie davon wusste, und deshalb fuhr er zu seinem Großvater.
Becca lebte dort seit letztem November. Davor hatte sie in einem robusten, behaglichen Baumhaus gewohnt, das Seth einmal in Ralph Darrows Wald gebaut hatte. Jetzt wohnte sie in Ralphs Haus selbst und revanchierte sich mit Hausarbeit und Kochen für das Zimmer, das er ihr überlassen hatte. Außerdem sollte sie darauf achten, dass Ralph Darrow ordentlich aß. Denn wenn keiner aufpasste, bestand sein Abendbrot gerne einmal aus Whidbey Island-Vanilleeis mit Schlagsahne, Nüssen und Schokoladensoße.
Seths Großvater lebte auf einem großen Grundstück abseits einer Straße namens Newman Road. Um dorthin zu gelangen, musste man einen Hügel hinauffahren. Dort parkte man auf einem freien Platz gleich hinter dem höchsten Punkt, folgte einem Weg, der um den Gipfel herum verlief, und ging einen Pfad hinunter, der auf eine Wiese führte. Dann stand man vor einem weitläufigen Garten mit Rhododendren, so groß wie Panzer, mehreren Hornsträuchern und einer Sammlung verschiedener Baumarten. Das mit Schindeln bedeckte Haus befand sich am Rand des Gartens und grenzte mit der rückwärtigen Seite an Ralph Darrows Wald.
Um diese Jahreszeit war Ralph fast immer in seinem Garten anzutreffen, so wie jeder andere Mensch mit einem Garten auch. Als Seth hinter Gus den Weg entlanglief, unterbrach Ralph seine Arbeit – er harkte gerade die vertrockneten Rhododendron-Blüten zusammen –, schob seinen breitkrempigen Hut in den Nacken und rieb sich das Kreuz. Er war dreiundsiebzig Jahre alt, und als er sich umsah, erkannte Seth an ihm den gleichen Blick, den auch Hayley hatte, als sie die Farm ihrer Familie überblickte. Wie soll ich das bloß alles schaffen? Der einzige Unterschied bestand darin, dass Hayley gar nicht die Verantwortung für die Farm ihrer Eltern hatte. Das glaubte sie bloß.
Ralph sah erst Seths Hund und dann Seth selbst und sagte: »Seth James Darrow. Was führt dich hierher an diesem wunderschönen Nachmittag, mein Lieblingsenkel? Und halt deinen Hund fern von meiner Blumenrabatte, sonst kriegt er einen mit der Schaufel.«
Da rief Seth: »Gus, nein. Hierher, Junge«, und er ging zur Veranda, auf der Ralph einen Haufen Rinderknochen für den Labrador in einer Holzkiste aufbewahrte. Er holte einen heraus, und Gus machte sich begeistert daran, an ihm herumzuknabbern, sodass Seth in Ruhe mit seinem Großvater sprechen konnte.
Er erfuhr, dass Becca King nicht zu Hause war. Sie war morgens mit Derric weggefahren und noch nicht wieder zurückgekommen. Ralph sagte ihm, er habe ihr aufgetragen, Gemüse, Eier, Käse, reife Pfirsiche zum Marmelademachen und Brot auf dem Wochenmarkt zu besorgen. Wo sie danach hin war … keine Ahnung! Derric hatte sie angehimmelt und sie hatte zurückgehimmelt, also konnten sie inzwischen überall und nirgendwo sein. »So ist das, wenn sich zwei Jugendliche lieben«, schloss Ralph.
»Du hast Grandma doch auch mit fünfzehn kennengelernt«, bemerkte Seth.
»Deshalb kenn ich mich damit auch so gut aus.« Sein Großvater nickte in Richtung einer zweiten Harke, die am Verandageländer lehnte. »Hilf mir, Enkel. Was willst du von Miss Becca?«
Seth konnte Ralph nicht von dem Foto im South Whidbey Record erzählen, denn sonst hätte er noch weiter ausholen müssen. Deshalb sagte er stattdessen: »Ich wollte ihr was erzählen. Und dir auch.« Dann berichtete er von seiner bestandenen Prüfung und der Einladung, auf dem Djangofest zu spielen.
Da lächelte sein Großvater und warf die Harke weg. »Das ist wohl ein Grund zum Feiern«, sagte er.
Seth wusste, dass »Feiern« immer auch Vanilleeis und Schokosoße einschloss, und überlegte schon, wie er ihn davon abbringen könnte. Doch das erledigte sich von selbst, denn von der Spitze des Hügels hallte ein »Hallo« zu ihnen herunter, und der Ausruf »Hey! Ralph Darrow!« kündigte einen Besucher an.
Seth folgte der Stimme und sah, dass eine Frau im Overall und mit grauem, zerzaustem Haar zu ihnen unterwegs war, das sie mit einer französischen Baskenmütze im Zaum hielt, die ein wenig aus der Form geraten war. Neben ihr trottete ein Junge her, der entweder gelangweilt oder genervt war. Es war schwer zu sagen, was ihn tatsächlich bewegte. Sein Haar war schwarz gefärbt, und er trug Koteletten, mit denen er aussah, als käme er aus einem anderen Jahrhundert. Er war groß und schlaksig, seine Schuhe waren so lang wie die Kelle eines Hockeyschlägers und seine Jeans hing so weit herunter, dass der Schritt fast auf Kniehöhe war. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Der Junge hatte ein Skateboard dabei und sah sich um, als wollte er sagen: »Hier kann ich bestimmt nirgendwo fahren.«
Seth kannte beide nicht, aber er ging davon aus, dass sein Großvater wusste, wer sie waren. Denn Ralph Darrow kannte jeden auf dem südlichen Teil der Insel, vor allem, wenn es sich um ältere Semester handelte, und diese Frau sah aus wie ein Uralt-Hippie, der irgendwann in den späten 60ern nach Whidbey gekommen war und damals wahrscheinlich schon das Gleiche getragen hatte wie jetzt: Sandalen, ein Batik-T-Shirt, Jeans und Socken, die ganz offensichtlich selbstgestrickt waren. Als sie bei ihnen angekommen war, lächelte sie und sagte: »Da bist du ja, Ralph Darrow«, und Seth bemerkte, dass ihr ein paar Zähne fehlten.
Er erfuhr, dass sie eine gewisse Nancy Howard war, und der Junge ihr Enkel Aidan Martin. Er lebte schon eine Weile auf der Insel, nachdem er mit seiner Schwester von Palo Alto in Kalifornien hierhergezogen war, und hatte schon »alles Mögliche probiert, um Freunde zu finden, sogar an der Highschool, und dass du ja die Wahrheit sagst, junger Mann«. Also hatte ihn seine Großmutter Nancy »zwangsweise ins Wohnmobil verfrachtet«, um an der Situation etwas zu ändern. Sie hatte gehört, dass bei Ralph Darrow ein Teenager wohnte, und Aidan sollte ihn kennenlernen. Nancy sah zunächst Seth erwartungsvoll an, als wäre er die besagte Person. Doch dann schienen ihr Zweifel zu kommen. Seth war zu alt, um noch zur Highschool zu gehen, und das sah man ihm auch an.
»Sie meinen Becca King«, stellte er die Situation richtig.
»Sie ist unterwegs«, klärte Ralph Nancy Howard auf. Er streckte dem Jungen seine Hand hin und sagte: »Ralph Darrow, Mr Aidan Martin. Dieser junge Mann ist mein Enkel Seth: Bauarbeiter, Zimmermann und erstklassiger Musiker.«
Aidan schien sich nicht groß für die ihm vorgestellten Menschen zu interessieren, aber das schreckte seine Großmutter nicht ab. »Lernt euch erst mal kennen«, sagte sie. »Keine Widerrede. Ich will mich jetzt mit Ralph über seine Rhododendren unterhalten.« Sie drehte sich um und zog Ralph mit sich zu seinen kostbaren Neuseeland-Pflanzen.
Und Seth musste sich wohl oder übel mit Aidan befassen. Er rief Gus und sagte zu dem Jungen: »Soll ich dir mal den Teich zeigen?« Aidan zuckte mit den Schultern. Er steckte sich das Skateboard unter den anderen Arm und schlurfte hinter Seth her, als auch Gus angelaufen kam, der den Knochen im Maul hielt wie ein Jagdhund, der eine abgeschossene Ente brachte.
Der Teich war alt, aber nicht natürlich entstanden. Ralph hatte ihn etwa zur gleichen Zeit aus der Erde gehoben, in der er das Haus gebaut hatte. Er war groß und lag in einer Bodensenke, der Rasen wuchs auf seiner dem Haus zugewandten Seite ganz nah an seinen Rand heran und auf der entgegengesetzten Seite ragte ein dunkelgrüner Nadelwald empor. Von dieser Seite aus führten Wege in den Wald. Auf einem gelangte man zu Seths Baumhaus, und die anderen drehten lange Schleifen in andere Richtungen. Gus steuerte automatisch auf den Weg zum Baumhaus zu, aber Seth holte ihn zurück, indem er einen Ball in eine andere Richtung warf. Nach Knochenabnagen war nämlich Ballfangen Gus’ zweite Lieblingsbeschäftigung. Damit ist er erst mal abgelenkt, dachte sich Seth, während er dem Jungen den Teich zeigte.
Doch Aidan schien nicht sehr beeindruckt. Er starrte mit gelangweiltem Blick auf den Teich und sagte nur: »Ja. Toll.« Mehr kam nicht. Er gab einem nicht gerade viel zum Anknüpfen.
Aber Seth versuchte es: »Boarder, was?«, und nickte in Richtung Skateboard. »Fährst du auch Snowboard?«
»Klar«, antwortete Aidan. »Wird hier Skateboard gefahren? Gibt es hier überhaupt Boarder?«, fragte er, als wollte er unterstellen, dass das Skateboard auf Whidbey Island noch nicht erfunden war. Und er schien auch gar keine Antwort zu erwarten. Stattdessen griff er tief in die Hosentasche und holte ein Päckchen Camel-Zigaretten hervor. »Hast du Streichhölzer?«, fragte er und Seth verneinte. Da fluchte der Junge und stopfte sich die Zigaretten wieder dahin, wo sie hergekommen waren. Er stellte das Skateboard auf den Boden, setzte sich darauf und starrte schlecht gelaunt auf die Teichoberfläche. »Ist das ein Loch hier. Wie hältst du es hier bloß aus? Meine Großmutter hat nicht mal Internet. Habt ihr Internet?«
Seth setzte sich neben ihn auf den Boden. Gus kam mit dem Ball im Maul angelaufen. Seth warf weiter den Ball, damit der Hund beschäftigt war. »Hier?«, fragte er und zeigte mit der Hand auf Garten und Haus. »Nee. Grandpa glaubt nicht ans Internet.«
»Wie kannst du dann … keine Ahnung … dich mit deinen Freunden unterhalten?«
»Ich wohne nicht hier«, sagte Seth. »Da, wo ich wohne, gibt es Internet. Im South-Whidbey-Gemeindezentrum in Langley, wenn du es brauchst. Warst du schon mal da? Da hängen die Kids ab.«
Da sagte Aidan verächtlich: »Großmutter will die Leute aussuchen, mit denen ich was mache. Irgendwelche Kids, die sie nicht kennt oder über die sie nichts weiß …? Das kannst du glatt vergessen. Ich könnte ja in ›Schwierigkeiten‹ geraten.« Dabei zeichnete er Anführungszeichen in die Luft. Er schnaubte. »Sie lässt mich zweimal am Tag zum Strand und wieder zurück laufen«, fuhr er fort. »Isis muss auch immer mit, um auf mich aufzupassen. Sie fährt Fahrrad, damit ich sie nicht abhängen kann.« Er grinste vor sich hin. »Aber ich tue es trotzdem. Ich lauf einfach in den Wald. Was soll sie da machen? Mir hinterher fahren? Wohl kaum. Sie könnte sich ja einen Fingernagel abbrechen. Sie hat sowieso keine Lust, mich zu überwachen. Sie findet es hier genauso scheiße wie ich.«
»Wer ist Isis?«, fragte Seth, da er nicht viel mehr hatte, um darauf eine Unterhaltung aufzubauen, abgesehen von Aidans unangenehmer Art, die er zu ignorieren beschloss.
»Meine Schwester«, antwortete Aidan. »Oder auch Gefängniswärterin. Wie man’s nimmt.« Er sah sich um, mit unveränderter Miene. »Was zum Teufel kann man hier machen?«
Seth wollte ihm schon sagen, dass es auf der Insel eigentlich genauso war wie überall sonst. Wenn man lange genug suchte, konnte man alles machen, was man wollte, außer man wollte zu einer Fast-Food-Kette, denn da gab es nur Dairy Queen auf der Schnellstraße vom Fähranleger. Aber dann dachte er, dass Aidan das schon selbst herausfinden würde.
Seth fragte nach und Aidan erzählte ihm, dass er an der South-Whidbey-Highschool sei. Also brauchte Aidan bloß herumzufragen. Die Schule war zwar klein, aber nicht anders als jede andere Highschool im Land: Es gab Kiffer, Sportler, Streber, Technik-Freaks, Künstler, Loser und Idioten. Alkohol gab es massenweise. Und Drogen aller Art. Es gab auch Partys, wo man beides bekam. Doch Aidan sah weder aus wie ein Drogi noch verhielt er sich wie einer, also sollte er klarkommen, wenn er sich ein wenig umgänglicher gebärdete.
Seth sagte: »Die Kids machen hier das Gleiche wie woanders auch«, woraufhin Aidan spöttisch auflachte. »Ja, klar.«
Und angesichts dieser abfälligen Bemerkung über den Ort, an dem er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, spürte selbst Seth einen gewissen Unmut in sich aufsteigen. Er wollte das gerade zum Ausdruck bringen, als Aidan ihm zuvorkam.
»Tut mir leid, Mann«, schob er rasch hinterher, als hätte er gespürt, dass er zu weit gegangen war. »Ich kann manchmal ein echtes Arschloch sein.«