Kurz nach Sonnenaufgang am Freitag, dem 19. Mai 1536, verließ Sir William Kingston, Constable of the Tower of London, seine Wohnräume nahe der östlichen Festungsmauer und umrundete die Westseite des White Tower. Durch das Coldharbour Gate, das Heinrich III. um 1240 hatte errichten lassen, um den Zutritt zu den königlichen Gemächern zu sichern, gelangte er in den innersten Burghof. Bei den Räumlichkeiten der Königin angekommen, stieg er die Treppe am Südende des Gebäudes empor und durchquerte das kürzlich umgebaute Audienzzimmer. An der Tür zu der intimeren privy chamber klopfte er leise.[1]
Eine Hofdame öffnete, und hinter ihr stand eine schlanke, fünfunddreißig oder sechsunddreißig Jahre alte Frau von mittlerer Statur mit dunklen, blitzenden Augen und einem langen, schlanken Hals – Königin Anne Boleyn, die zweite Frau König Heinrichs VIII. Es war nicht das erste Mal, dass Kingston sie zu dieser Stunde besuchte. Sie hatte bereits ganz früh am Donnerstagmorgen nach ihm geschickt, nachdem sie seit zwei Uhr morgens eine unruhige Nachtwache gehalten und mit ihrem getreuen Almosenier John Skip im Gebet gekniet hatte. Als zum Tode Verurteilte hatte sie Kingston kommen lassen, während sie das Heilige Sakrament der Messe gereicht bekam und ihre Unschuld in Bezug auf die scheußlichen Verbrechen, derer man sie bezichtigte, beteuerte: Inzest, vierfacher Ehebruch und eine Intrige, um ihren Ehemann zu ermorden. Sie schwor zweimal auf das Sakrament, dass sie Gottes Wahrheit spreche, und erklärte, sie sei «eine gute Frau» und niemals untreu gewesen. Weil sie glaubte, sie werde kurz nach acht Uhr morgens sterben, der üblichen Stunde für solche Hinrichtungen, hatte sie in jener Nacht viele lange Stunden des Wartens verbracht, um sich mit dem, was ihr bevorstand, abzufinden und sich für den Gang aufs Schafott zu stählen.[2]
Sie hatte sich vorbereitet, weil eine der vier früheren Hofdamen, die ihr Ehemann jetzt zu ihren Wächterinnen ernannt hatte und die sie verabscheute – vielleicht ihre Tante Lady Elizabeth Boleyn –, sie davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie an jenem Tag sterben werde. Es war ein grausames Missverständnis. Tag und Zeitpunkt der Hinrichtung waren noch gar nicht festgelegt.[3] Als nichts geschah, wuchs ihre Verzweiflung ins Unendliche. Und so sandte sie noch einmal nach dem Constable und sagte: «Master Kingston, ich höre, dass ich nicht vor Mittag sterben werde, und das tut mir sehr leid, denn ich glaubte, dann tot und über allen Schmerz hinweg zu sein.» Sie konnte nicht wissen, dass Heinrich ihren Hinrichtungsbefehl erst später an jenem Donnerstag billigen würde. Als der Erlass an Kingston schließlich gesiegelt war, hieß es darin: «Sofort bei Erhalt dieses Schreibens bringt Ihr die besagte Anne auf den Rasenplatz innerhalb Unseres Tower von London und schneidet den Kopf der besagten Anne ab, und verabsäumt dabei nichts.»[4]
Für die Verzögerung gab es noch andere Gründe. Bei Tageslicht standen die Tore des Tower offen, um Besuchern den Zugang zum äußeren Hof zu ermöglichen. Thomas Cromwell, der wichtigste Sekretär und Urteilsvollstrecker des Königs, wollte keinen Verdacht erregen, war aber eifrig bemüht zu verhindern, dass unabhängige Berichte über die genauen Umstände von Annes Tod ins Ausland gelangten. Deshalb hatte er Kingston befohlen, etwa dreißig Ausländer, die sich dort aufhielten, aus dem Bereich um den Tower zu vertreiben, bevor die Hinrichtung beginnen konnte. Cromwell beauftragte seinen loyalen Verbündeten, den Kaufmann und Bankier Richard Gresham, der (obgleich einer der meistgehassten Männern der Stadt) bald Lord Mayor von London werden sollte, sich um die Sicherheit zu kümmern und dafür zu sorgen, dass nur diejenigen, die nach dem Wunsch des Königs seine Ehefrau sterben sehen sollten, Zutritt bekamen – «wegen [der] Fragen der Leute». Gleichzeitig wollte Heinrich, der stets alles von langer Hand bis ins kleinste Detail plante, dass alle wirklich wichtigen Leute anwesend waren. In Anbetracht der anfänglichen Unsicherheit in Bezug auf Tag und Uhrzeit sorgte sich Kingston: «Wenn wir keine genaue Stunde in London bekannt geben, werden, so glaube ich, nur ein paar Menschen dasein, und ich halte eine angemessene Zahl für das Beste.» In dieser Hinsicht hätte er sich keine Sorgen machen müssen.[5]
Da er nicht ganz frei von menschlichem Mitgefühl war, versuchte Kingston Annes Aufmerksamkeit vom chaotischen Zeitplan abzulenken. «Es sollte nicht schmerzen», versuchte er zu trösten, «es ist kaum zu spüren.»
«Ich habe gehört», antwortete sie, «der Henker sei sehr gut, und ich habe ja einen dünnen Hals.» Dabei «umfasste sie ihn mit ihren Händen und lachte herzhaft». Ihr ganzes Leben lang hatte es ihr nicht an Mut gefehlt, und er verließ sie auch jetzt nicht. «Ich habe die Hinrichtung vieler Männer und auch Frauen miterlebt», ließ Kingston Cromwell wissen, «und sie alle waren in tiefer Sorge, und meines Wissens hatte diese Dame viel Freude und Vergnügen am Tod.» Nachdem ihre Ehe und ihr guter Ruf ruiniert waren, setzte Anne ihren Glauben in Christus, den Erlöser.[6]
Freitagmorgen war alles bereit. Anne, zu erschöpft, um zu schlafen, hatte eine zweite Nacht mit Skip im Gebet kniend verbracht. Bei Morgengrauen erschien Kingston erneut, um ihr zu melden, dass sie an jenem Tag sterben werde, und um ihr einen Beutel mit 20 Pfund zu überreichen, die sie der Tradition folgend vor ihrem Tod als Almosen verteilen sollte. Irgendwann nach acht Uhr morgens kehrte er zurück: Es war so weit.[7]
Anne kleidete sich mit größter Sorgfalt für ihren letzten Auftritt in der Öffentlichkeit. Als junges Mädchen am Hof von Königin Claude von Frankreich hatte sie einiges über die Macht und die Symbolik schöner Kleider gelernt. Die Gelegenheit erforderte Nüchternheit, nicht Flamboyanz, und so wählte sie ein pelzgefüttertes Gewand aus grauem Damast, über dem sie einen Hermelinumhang trug. Ihre Wahl ist bezeichnend, weil Seide und Satin in dunklen oder unauffälligen Farbtönen selten einen Platz in ihrer Garderobe fanden. Nie hatte sie Grau oder Schwarz getragen: Diese Farben war zu eng mit ihrer Vorgängerin als Königin, Katharina von Aragon, verbunden. Dann band sie ihr noch immer glänzendes dunkelbraunes Haar hoch, über dem sie eine englische Giebelhaube trug, eine weitere ungewöhnliche Wahl, weil sie die moderneren und schmeichelhafteren französischen Hauben bevorzugte. Die Bedeutung ihrer Kopfbedeckung sollten wir nicht übergehen. Anne hatte alles Französische von Kindesbeinen an geliebt: Ihr Geschmack und ihre Werte unterschieden sich radikal von denen früherer Königsgemahlinnen – doch dies war eine Gelegenheit, ihre treue Verbundenheit mit England zu zeigen.[8]
Begleitet von Lady Boleyn und den drei anderen Damen trat sie ein letztes Mal vor die Tür ihrer privy chamber und stieg die Treppe hinab. Sie überquerte den inneren Hof vor den Gemächern der Königin, ging durch das Coldharbour Gate und um den White Tower herum bis zum Tower Green vor dem House of Ordnance. Hier übten sich die Soldaten des Königs sonst oft im Schießen mit Pfeil und Bogen oder mit Feuerwaffen. Jetzt war in aller Eile ein «neues Schafott» auf dem Gras errichtet worden – heute sollte hier tatsächlich jemand den Tod finden.[9]
Das Schafott war gerade mal einen Meter hoch, vier oder fünf Stufen führten hinauf.[10] Eigentlich sollte es in schwarze Leinwand gehüllt sein, doch ob die für den Tower Verantwortlichen dies rechtzeitig geschafft hatten, ist unklar. Rundherum standen hastig aufgebaute Sitzreihen für die wichtigeren Zuschauer, allen voran Annes Stiefsohn, der siebzehnjährige Henry Fitzroy, Duke of Richmond, der illegitime Sohn des Königs, der hier vielleicht seinen Vater vertreten sollte. Anne hatte Fitzroy schlecht behandelt, und er genoss es sicherlich, sie sterben zu sehen. Ganz in seiner Nähe nahmen der Duke of Suffolk, Lordkanzler Sir Thomas Audley, Cromwell und die meisten Kronräte Platz, begleitet von Mitgliedern des Oberhauses. Hinter ihnen saßen der Lord Mayor und die Aldermen von London mit den Anführern der Gilden, zuvorderst der Master und die Ältesten der Mercers’ Company, die sich ordentlich strecken mussten, um etwas sehen zu können.[11] Ein Verantwortlicher bemerkte, viele Vertreter der Stadt hätten ihre Frauen mitgebracht und trotz des strengen Verbots sei es einigen «Fremden» gelungen, durch die Absperrung zu kommen.[12] Ein späterer Diener Cromwells sagte mit entschuldbarer Übertreibung, dass eine tausendköpfige Menge Einlass gefunden habe. Es waren wohl eher etwa halb so viele.[13]
Sobald Anne am Schafott angekommen war, führte Kingston sie die Stufen hinauf. Inzwischen war es fast neun Uhr, und er gab ihr, wie es das Protokoll vorsah, die Gelegenheit für letzte Worte. Das Publikum hatte eine feste Vorstellung davon, was zum Tode Verurteilte sagen sollten. Sie sollten Frieden mit ihren Anklägern und der Welt machen, indem sie ihre Verfehlungen zugaben, auf die Gnade Gottes vertrauten, die Menge baten, für sie zu beten, und dann tapfer starben. Gehorsam gegenüber dem Willen des Königs und Unterwerfung unter seine Rechtsprechung wurden erwartet. Niemand durfte die Rechtmäßigkeit seines Urteils in Frage stellen oder den König angreifen – es war sogar üblich, ihn als einen gerechten und gnädigen Herrn zu preisen. Vor allem sollten die Verurteilten anerkennen, dass sie Sünder waren, wie alle Sterblichen vor Gott, und dass sie den Tod verdienten.[14]
Anne war niemand, der blind den Regeln folgte, wenn sie nicht den Eindruck hatte, dass sie richtig waren. Gerade einmal drei Wochen zuvor war sie noch die einflussreichste Frau im ganzen Land gewesen. Sie trat «mit sanft lächelnder Miene» an den Rand des Schafotts, um sich an die Menge zu wenden, und sprach die Sätze, die sie sorgfältig vorbereitet hatte:
Gute christliche Leute, ich bin hierher gekommen, um zu sterben, denn gemäß dem Gesetz und durch das Gesetz wurde ich verurteilt zu sterben, und daher werde ich nicht dagegen sprechen. Ich bin hierher gekommen weder, um einen Menschen anzuklagen, noch irgendetwas darüber zu sagen, weshalb ich angeklagt und zum Tod verurteilt wurde. Aber ich bete: Gott schütze den König. Möge er noch lange über euch herrschen. Denn einen sanftmütigeren und nachsichtigeren Fürsten als ihn gab es nie. Mir war er stets ein guter, freundlicher und gnädiger Herr. Und wenn irgendeine Person sich in meine Sache einmischt, so verlange ich von ihr, aufs Beste zu urteilen. Und so nehme ich meinen Abschied von der Welt und Euch allen, und ich wünsche mir herzlichst von Euch, für mich zu beten. O Herr, habe Gnade mit mir, Gott empfehle ich meine Seele.[15]
Was die Menge verblüfft verstummen ließ, war nicht das, was sie sagte, sondern das, was sie nicht sagte. Sie räumte keine Sünde ein, bekannte nicht, dass sie ihrem Ehemann ein Unrecht angetan hatte, deutete nicht einmal an, dass sie womöglich der Verbrechen gegen Gott und die Natur schuldig war, wegen derer sie die königliche Justiz verurteilt hatte. Ein Leser des 17. Jahrhunderts, der ihre Worte in der Oxforder Bodleian Library transkribiert hatte, gab ihnen die Überschrift «Die orakelhafte und vieldeutige Rede der Königin».[16]
Nach ihrer Rede nahmen Annes Damen ihr den Umhang ab, ließen ihr jedoch das Gewand. Dies war möglich, weil der modisch tiefe quadratische Ausschnitt den Hals nicht bedeckte. Nachdem sie selbst ihre Giebelhaube abgenommen hatte, steckte sie ihr Haar unter eine Bundhaube. Dann befestigte sie «ihre Kleider um ihre Füße», um sicherzustellen, dass ihre Beine nicht zu sehen waren, wenn ihre Röcke sich bewegten. Schließlich «ging sie auf ihre Knie nieder». Ihre einzige sichtbare Gefühlsregung waren einige Blicke über die Schulter.[17] War dies ein verständlicher Moment der Angst, vielleicht, dass der Scharfrichter zuschlagen würde, bevor sie bereit war? Oder war es etwas Schmerzlicheres? Gegenüber Kingston hatte sie zuvor erklärt, sie sei während der Haftzeit schlecht behandelt worden: «Ich glaube, der König tut dies, um mich zu prüfen.»[18]
Hoffte sie gegen alle Wahrscheinlichkeit auf eine Begnadigung in letzter Minute? Hielt sie Ausschau nach einem Boten? Heinrich konnte Gnade walten lassen – wenn er es denn wollte. Obwohl sie damals in Frankreich gewesen war, hatte sie sicher gehört, dass der König im Jahr 1517 etwa vierhundert Gefangene nach dem sogenannten «Evil May Day»-Aufstand, bei dem die Häuser italienischer und anderer ausländischer Kaufleute in London geplündert und niedergebrannt worden waren, begnadigt hatte. Zwanzig Männer wurden gehängt, die übrigen, mit nichts als einem Hemd am Leib und schon mit der Schlinge um den Hals, knieten vor dem König in seiner ganzen Erhabenheit in Westminster Hall. Als sie um Gnade baten, ließ Heinrich sich überzeugen, diese zu gewähren. Er wartete bis zum allerletzten Moment – so, wie er es auch nur sechs Tage, nachdem Anne das Schafott bestiegen hatte, im Fall eines Bettelmönches, der nur «Peretrie» genannt wurde, tat. Es war schon beschlossen worden, ihn zu begnadigen, doch Heinrich befahl theatralisch: «Das Gesetz soll an ihm vollzogen werden bis zum letzten Punkt der Hinrichtung.» Erst als der Henker schon die Leiter vom Galgen wegtreten wollte, tauchte ein Bote mit dem Gnadenerlass auf. Doch wenn Anne wirklich hoffte, dass ihr früherer Geliebter sie retten werde, kannte sie ihn schlecht.[19]
Ein Block wurde nicht gebracht, da Anne nicht mit einer Axt getötet werden sollte, sondern auf französische Art mit einem zweihändigen Schwert.[20] Damit eine solche Enthauptung reibungslos vonstatten ging, brauchte man jemanden, der den Kopf mit einem einzigen Schlag vom Rumpf trennen konnte. In Heinrichs England schwang der Henker anders als in Frankreich normalerweise eine Axt. Weil diese Männer mehr Erfahrung mit den grausigeren Aufgaben des Hängens und Ausweidens ihrer Gefangenen hatten, bevor sie den Leichen schließlich den Kopf abhackten und sie vierteilten, verpfuschten sie das Enthaupten oft, sodass die sterbenden Opfer sich im Todeskampf wanden, bis ein letzter Schlag sie tötete. Üblicherweise verwendete der Henker seine Axt auch als Fleischerbeil, um unnachgiebige Sehnen durchzuhacken.
Anne musste sich diesen Gräueln nicht aussetzen. Vielleicht als ein letztes Zugeständnis an die Frau, die er einst sweetheart, «Liebling», genannt hatte, oder vielleicht auch als eine zynische Erinnerung an ihre Liebe zu Frankreich hatte Heinrich aus Calais einen Scharfrichter kommen lassen, der angeblich ein Fachmann mit dem Bihänder war. Mit einem Lohn von 100 Sonnenkronen (fast 25.000 Euro nach heutigem Wert) war der Mann nun wirklich kein Schnäppchen.[21]
Während eine ihrer Damen ihr die Augen verband, sprach Anne wieder und wieder: «Christus empfehle ich meine Seele. Jesus, empfange meine Seele.»[22] Das war das Stichwort für den Henker. Sein Schwert sauste durch die Luft und trennte ihren Kopf mit einem einzigen Schlag vom Körper. Sir John Spelman, einer der anwesenden königlichen Richter, der seine Eindrücke seinem privaten Notizbuch anvertraute, sagt: «Er tat seine Arbeit sehr gut … der Kopf fiel zu Boden, während ihre Lippen und ihre Augen sich bewegten.» Ein französischer Bericht ergänzt, der Schlag sei gekommen, «bevor man ein Vaterunser sprechen konnte».[23] Über die Reaktion der Menge wird nichts gesagt, außer der allgemeinen Ansicht, Anne sei «tapfer» gestorben, doch man kann kaum glauben, dass die Menschen nicht den Atem anhielten. Wer Zweifel hegte, musste sie verbergen. Niemand wagte die tote Königin zu betrauern, um nicht ihr Schicksal zu teilen. Heinrichs Gewissen war rein: Sie hatte völlig zu Recht für ihre Schlechtigkeit und ihren Verrat bezahlt.[24]
Sobald ihr Kopf abgeschlagen war, warf eine der Hofdamen ein Tuch darüber, während die anderen den Leib in ein Laken hüllten.[25] Sie trugen den Leichnam und den Kopf etwa sechzig oder siebzig Meter in die Kapelle St Peter ad Vincula im nordwestlichen Teil der Festungsanlage. Dort wurde Anne entkleidet – das kostbare Tuch beanspruchten Beamte im Tower als Lohn –, bevor die Frauen die Tote in eine Kiste aus Rüster legten, die einst für Irland bestimmte Bogenstäbe enthalten hatte. Vielleicht hatte man vergessen, eher aber wohl nicht gewagt, für einen Sarg Maß zu nehmen, und so diente die Rüsterkiste als Ersatz.[26]
Mittags wurde der Sarg ohne jede Zeremonie unter dem Altarraum der Kapelle neben dem Hochaltar beigesetzt.[27] Dort lag Anne ungestört bis 1876, als bei Renovierungsarbeiten, die der zu dieser Zeit schon verstorbene Prinz Albert bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Auftrag gegeben hatte, sterbliche Überreste exhumiert und ihr zugeschrieben wurden. Man hatte vor, die dort Beigesetzten korrekt zu identifizieren und mit Gedenktafeln wieder zu bestatten. In einer Tiefe von 70 Zentimetern wurden Knochen freigelegt, die, wie man annahm, einer Frau in der Blüte ihres Lebens und von mäßiger Größe gehörten. Die Stirn und der Unterkiefer waren klein und wohlgeformt. Die Rückenwirbel waren winzig, besonders ein Wirbel (der Atlas) direkt unter dem Schädel, was die Anwesenden als ein Zeugnis für Annes «dünnen Hals» nahmen.[28]
Sechs Ehefrauen hatte Heinrich VIII. bekanntermaßen: «Divorced, beheaded, died/divorced, beheaded, survived» ist ein Spruch, den alle englischen Schulkinder im Chor aufsagen können. Warum hält von all diesen Beziehungen ausgerechnet die zu Anne einem neuen prüfenden Blick stand?
Die Antwort hat zunächst einmal persönliche und politische Aspekte: Mit keiner seiner anderen Ehefrauen sollte Heinrich die intensive Leidenschaft und den echten Respekt wiederaufleben lassen, die er für diese eine Frau empfand. Aus Liebe zu Anne hatte er es sich mit seiner Familie, vielen seiner Höflinge und Untertanen verscherzt. Für sie vernichtete und tötete er sogar Männer, die er einst als seine Unterstützer und Freunde betrachtet hatte. Für sie brach er mit dem Papst, nutzte das Parlament, um Reformen zu erlassen, die den Glauben seines Volkes betrafen, beendete eine jahrhundertealte Tradition und riskierte einen Krieg in Europa.
Die anderen Aspekte dieser Antwort sind kultureller und psychologischer Natur: Keine andere Königin Heinrichs ist so tief im kollektiven Gedächtnis verankert wie Anne. Ihre Geschichte übt über die Zeiten hinweg eine starke Faszination aus und hat zahllose Biographien und Romane, Theaterstücke, Gedichte, Filme und Websites, ja sogar eine Oper von Donizetti inspiriert. Im Internet kann man Kleider, Puppen, Halsketten und Ringe im Stil von Anne Boleyn kaufen. Der Museumsshop von Hever Castle hat sogar eine Anne-Boleyn-Quietscheente mit französischer Haube im Angebot. Wir glauben ihre Geschichte zu kennen – und doch: Haben wir wirklich ein vollständiges Bild von ihr, davon, wer sie war und wofür sie stand, und wenn ja, wie können wir dann begreifen, dass ein Mann, der so verliebt in Anne war, dass er es kaum ertragen konnte, mehr als eine Stunde von ihr getrennt zu sein, in aller Seelenruhe einen Scharfrichter holen lassen konnte, um ihr den Kopf abzuschlagen, und auch noch glaubte, damit im Recht zu sein?
Allzu oft wird vergessen, dass die Beziehung von Anne und Heinrich weit mehr war als eine eindimensionale Geschichte von leidenschaftlicher Liebe, gefolgt von einer gescheiterten Ehe. Sie war vielmehr dynamisch und vielschichtig, entwickelte sich über einen Zeitraum von etwa neun Jahren hinweg, von denen sechs vor ihrer Heirat lagen. Deshalb schenkt dieses Buch der Vorgeschichte und den frühen Jahren der beiden Protagonisten mehr Aufmerksamkeit, als allgemein üblich ist, vor allem den sieben ereignisreichen Jahren, die Anne in Frankreich verbrachte, bevor sie erstmals am englischen Hof in Erscheinung trat.
Zudem vertiefen und erweitern neue Entdeckungen in den Archiven zusammen mit bekannten, aber lange übersehenen Quellen unser Verständnis ihrer Beziehung. In einigen geht es um die Zusammensetzung von Annes Hofstaat und besonders um die Frauen, die sie umgaben. Andere helfen uns, hartnäckige und versteckte frauenfeindliche Annahmen über Anne auszuräumen, die anachronistisch davon ausgingen, eine Frau des 16. Jahrhunderts habe wenig oder gar keinen Einfluss auf die Politik und die Glaubensüberzeugungen einer patriarchalen Gesellschaft ausüben können. Dabei gibt es seit Beginn ihrer Romanze Hinweise auf eigenständige Aktivitäten – so durfte Anne zeitweise eine Paralleldiplomatie zu der des Königs pflegen. Und als ihre Beziehung in voller Blüte stand, setzte er sie in seinen Briefen zunächst auf eine Ebene mit und dann sogar über seine zuverlässigsten männlichen Berater. Niemals schrieb er Briefe dieser Art an Katharina und niemals später an eine seiner anderen Ehefrauen.
Vor allem aber beleuchten weitere neue Archivfunde zum ersten Mal die Größe, Tiefe und die inneren Abläufe des Spiels, das Heinrich und Anne auf internationaler Bühne spielten. Wir erfahren erstmals nicht nur von Annes Liebe zu und Hingabe an Frankreich, sondern auch, wie sie sich die mächtigen Frauen, die sie kennenlernte, zum Vorbild nahm und wie sehr ihr Blick auf die Welt von den Vorstellungen, vor allem den religiösen Vorstellungen, die diese Frauen ihr nahebrachten, geprägt wurde. Ihre frankophilen Neigungen arbeiteten in den frühen Phasen ihres Werbens umeinander stark zu ihren Gunsten, doch das schlug um, als die Einstellungen sich veränderten.
Im Zuge unserer Forschungen sind wir immer wieder in die Archive gegangen, haben die handgeschriebenen Briefe der wichtigsten Persönlichkeiten transkribiert, die Berichte der Berater und Botschafter, Ratsherren und Gesandten, die Protokolle, die ganze Heerscharen von Sekretären und Schreibern so sorgfältig zusammengestellt haben. Wo immer es möglich ist, verfolgen wir das Ziel, Heinrich und Anne für sich selbst sprechen lassen, zu rekonstruieren, wie und warum sie so handelten, wie sie es taten, aber auch ihre Welt wiederherzustellen und abzuwägen, warum die Geschichten einiger ihrer Zeitgenossen so auffällig von denen der anderen abweichen, obwohl sie dieselben Ereignisse beschreiben.