Die letzten Lebensjahre Heinrichs VII. waren von einer wachsenden Besorgnis und Unsicherheit geprägt, wie um die Verdächtigungen zu bestätigen, nach denen er letztlich doch kein echter König, sondern vielmehr ein Usurpator war. Auf der Suche nach schnellem Beifall verkündete der junge Heinrich VIII. jetzt einen klaren Bruch mit der Vergangenheit. Er würde ein «umgänglicher» Fürst sein, der Herold einer anderen Art zu regieren. Sein Lehrer Lord Mountjoy beschrieb die Stimmung so: «Der Himmel lacht, die Erde frohlockt, alles ist Milch, Honig und Nektar. Die Habgier ist ganz und gar vertrieben. Großzügigkeit spendet Wohlstand mit offener Hand.» Heinrich, so sagte er im Überschwang voraus, habe eine Leidenschaft für «Gerechtigkeit und Anstand». Als ein mit geradezu übermenschlichen Talenten gesegneter Fürst werde er der «Retter» seines Landes sein. Seine Herrschaft werde ein Goldenes Zeitalter einläuten.[1]
Davon waren nicht alle überzeugt. Piero Pasqualigo, ein Venezianer, der schon früh in der Regierung Heinrichs eine Audienz bei ihm bekam, beschrieb ihn als jemanden, der im Spektakel schwelgte. Als Pasqualigo am Georgstag zur Frühstückszeit in Richmond ankam, lehnte Heinrich an seinem vergoldeten Thron, trug einen Überwurf aus dickem purpurnen Samt, gefüttert mit weißem Satin und mit einer vier Meter langen Schleppe versehen, und präsentierte seine Insignien als Oberhaupt des Hosenbandordens. «Um den Hals trug er eine goldene Halskette, von welcher ein geschliffener Diamant von der Größe der größten Walnuss, die ich je gesehen habe, herabhing; und an diesem hing eine herrliche, sehr große runde Perle.» Seine Finger waren «eine Ansammlung juwelenbesetzter Ringe».[2]
Heinrich stellte einige Ungerechtigkeiten der Regierung seines Vaters ab, wies jedoch dessen Methoden nicht in Bausch und Bogen zurück. Auf seinem Sterbebett hatte Heinrich VII. all jenen einen Gnadenerlass gewährt, die Gefahr liefen, durch seine Steuerforderungen ruiniert zu werden. Sein Sohn erweiterte diesen Erlass und ermutigte alle, denen Unrecht geschehen war, sich zu melden und «unparteiische» Gerechtigkeit frei vom Einfluss der Reichen und Mächtigen zu erlangen. Das klang fast zu schön, um wahr zu sein, und erwies sich auch als trügerisch. Heinrich machte ein paar Auflagen seines Vaters rückgängig, doch selbst Menschen, denen man zunächst eine Erleichterung angeboten hatte, konnten mit frischen Strafzahlungen belastet werden. Dem Duke of Buckingham, der Heinrich dessen Überzeugung nach bei der Thronbesteigung bedroht hatte, indem er ein Erbrecht auf das Amt des Lord High Constable of England (das höchste Staatsamt mit quasi-königlichen Machtbefugnissen in einem Notfall) beanspruchte, wurde ein Schuldschein über 400 Pfund erlassen, doch dafür wurden ihm zu Unrecht Schulden von mehr als 7000 Pfund auferlegt, und er hatte weitere 3500 Pfund an Kosten zu tragen. Vier Jahre später gewann Buckingham eine gerichtliche Auseinandersetzung über seinen Anspruch auf das Constable-Amt, doch Heinrich gestattete ihm nicht, Funktionen auszuüben, die, wie er sagte, «sehr hoch und gefährlich» waren.[3]
Besonders überraschend und besonders folgenreich war Heinrichs impulsive Entscheidung, Katharina von Aragon zu heiraten, obwohl er sie zuvor schon zunächst «geheiratet» und ihre Hand dann offiziell zurückgewiesen hatte. Der Grund war schwer zu greifen: In einem Moment behauptete er, er sei unglaublich verliebt, und dann wieder, er erfülle den Wunsch seines Vaters auf dem Sterbebett.[4] Die sechs Jahre ältere Katharina war nicht unbedingt eine Mutterfigur, aber sie wirkte zuverlässig und beruhigend, und vor allem war eine Heirat mit ihr wohl der schnellste Weg, die Dynastie und den Thron zu sichern. Mit dieser Entscheidung setzte sich Heinrich über den Erzbischof von Canterbury, William Warham, hinweg, der ihn warnte, weil die päpstliche Dispensbulle, die sein Vater sich beschafft hatte, damit Heinrich die Witwe seines toten Bruders heiraten durfte, in Anbetracht seines juristisch beurkundeten Protests und Rücktritts vom Ehevertrag womöglich vor Gericht keinen Bestand haben würde.[5]
Die Vermählung fand in der privaten Kapelle der Elizabeth von York statt. Wenn Heinrichs Mutter schon nicht mehr dabei sein konnte, so musste er doch ihre Präsenz spüren. Die Zeremonie war keine große Sache mit nur einer Handvoll Zeugen. Hatte Heinrich Gewissensbisse, weil er die Witwe seines Bruders heiratete? Wenn ja, so blendete er sie damals aus. Sein Vater hatte ihm die brutalen Zwänge der Königsherrschaft eingebläut: Monarchien und Dynastien gründen nicht allein auf Tugend und Ansehen. Sie wurzeln in Familien, Eheschließungen und der Geburt legitimer Erben und Nachfolger. Erst wenn der neue König eigene Kinder gezeugt hatte, konnte man vielleicht sagen, dass die Dynastie gesichert sei. Katharina war königlicher Abstammung, verfügbar, und ihre Mitgift war schon lange ausgehandelt, doch wenn Heinrich behauptete, sie habe sein Herz im Sturm erobert, nachdem er sie zuvor Monate und Jahre ignoriert hatte, war das eine Illusion, ein Zeichen seiner Fähigkeit zur Selbsttäuschung, wann immer diese gerade opportun erschien.[6]
Katharina ihrerseits hatte sich in den Kopf gesetzt, Heinrich zu heiraten, seit ihre Eltern dies nach Arthurs Tod vorgeschlagen hatten. Ihrer Ansicht nach war eine königliche Ehe ihre Bestimmung, die sie erreichen und aus freien Stücken nie wieder aufgeben würde. Auch sie bekundete, sie sei hingerissen, sie liebe ihren neuen Ehemann «viel mehr» als sich selbst.[7]
Im November 1509 ernannte Heinrich einen Almosenier, einen besonderen Kaplan, der ihm bei seinen Gebeten zur Seite stand und seine wohltätigen Spenden überwachte. Er entschied sich für Thomas Wolsey, einen genialen, kultivierten, gerissenen, schmeichlerischen, wendigen, effizienten Macher, etwa zwanzig Jahre älter als der König, der alles in seiner Macht Stehende tat, um ihn in der Kunst der Königsherrschaft zu unterrichten. Wolsey hatte seine bescheidene Herkunft als Sohn eines Metzgers in Ipswich überwunden und am Magdalen College in Oxford studiert. Nachdem er als Fünfzehnjähriger seinen Abschluss als Bachelor of Arts gemacht hatte, wurde er 1497 zum Fellow und später zum Schatzmeister des Colleges gewählt, dann aber wegen (angeblich) zu hoher Ausgaben für Baumaßnahmen, die die Fertigstellung des Magdalen Tower sicherten, heftig kritisiert. 1498 wurde er zum Priester ordiniert und erwarb verschiedene Kirchenpfründe, bevor er Hauskaplan bei Heinrich VII. wurde. Angemessen beeindruckt von seinen Fähigkeiten hatte der König ihn auf Gesandtschaften nach Schottland und in die Niederlande geschickt – seine Bemühungen sicherten ihm die frühe Beförderung zum Dekan von Lincoln und von Hereford.
Als Almosenier des Königs war Wolsey jetzt der Hofkirche zugeordnet. Er nahm nicht nur Heinrich die Beichte ab und hielt die Messe, sondern war auch ein, zunächst eher untergeordnetes, Mitglied des Kronrats. Vor allem sortierte und hörte er Petitionen, oft aber beteiligte er sich auch an wichtigeren politischen Diskussionen. Schnell stieg er in der Gunst des Königs und ließ alle potenziellen Rivalen hinter sich. George Cavendish, der ihm als gentleman usher diente und sein erster Biograph war, berichtet in seinem Life of Wolsey, geschrieben in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts, dass der Almosenier der «ernsthafteste und stets bereite» Berater gewesen sei, «um einzig und allein des Königs Willen und Gefallen voranzubringen ohne Ansehen der Sache. Der König sah in ihm daher ein gutes Werkzeug, um zu erreichen, was sein Wunsch war und was sein Gefallen fand.»[8]
Wolsey habe, so Cavendish, keine politischen Prinzipien gehabt, an denen er sich orientiert hätte. Vielmehr brachte er Heinrich bei, wie er Krieg, eine Politik des Kräftegleichgewichts und Frieden in jeder erdenklichen Kombination einsetzen konnte. Vor allen Dingen hatte er den Willen, dem König zu dienen und sich dabei durchzusetzen, verbunden mit «einer besonderen Gabe natürlicher Beredsamkeit sowie einer geschliffenen Zunge, diese auszudrücken». Durch dieses und andere Mittel war er in der Lage «alle Männer zu seinem Ziel zu überreden und zu locken». Sein Einfluss durchdrang alles. Wie Polydor Vergil, ein ortsansässiger päpstlicher Steuereintreiber und verlässlicher Augenzeuge, schrieb:
Wann immer er etwas von Heinrich zu erlangen wünschte, führte er die Angelegenheit nebenbei in seinem Gespräch ein; dann zog er das eine oder andere kleine Geschenk hervor … und während der König die Gabe hingerissen bewunderte, trieb Wolsey geschickt die Sache voran, auf die sein Denken gerichtet war.[9]
Da sein Almosenier immer bereitstand, konnte der junge Heinrich sich den Dingen widmen, die er am liebsten mochte. Ein Lied, das er um diese Zeit herum komponierte, beginnt mit den Worten:
In guter Gesellschaft mir die Zeit zu vertreiben,
das liebe ich, und ich werde es lieben, solange ich lebe.
…
Jagd, Singen und Tanzen,
danach steht mir der Sinn.
Jedweder schöner Sport
zu meiner Erquickung.
Wer soll’s mir verwehren?[10]
Auf Latein (da er kein Spanisch sprach und Ferdinand kein Englisch) erklärte Heinrich seinem Schwiegervater: «Ich verbringe meine Zeit meist damit, das Leben zu genießen: Beizjagd, Jagd und andere gesunde Freizeitbeschäftigungen sowie Lanzenstechen, Turnierkampf und andere ehrbare Sportarten, und dabei reise ich die ganze Zeit herum und und habe mein Reich im Auge.»[11] Er betonte, dass er die «Staatsangelegenheiten» nie vernachlässige, doch das war eher nachgeschoben. Als seine älteren, weiseren Berater versuchten ihn zu mäßigen, ignorierte er ihre Bitten: Allmählich bildeten sich neue Strukturen heraus, und er überschüttete seine Freunde mit Geschenken und Belohnungen, die er aus den Schatztruhen seines Vaters bezahlte.
All dies war nicht ungefährlich. Um seinen Hunger nach Beliebtheit zu stillen, ließ Heinrich Empson und Dudley festnehmen, stellte die Handlanger seines Vaters wegen erfundener Verratsvorwürfe vor Gericht und warf sie erst einmal in den Tower. Als sich der Sturzbach an Beschwerden gegen sie im April 1510 in einen Tsunami verwandelte, wies Heinrich jede Verantwortung für ihr Handeln zurück und ließ die beiden schließlich köpfen, während er sich auf einen Jagdausflug begab.[12] Es war nie seine Sache, zu seiner Schuld zu stehen, wenn etwas schief ging.
In diesen ersten Jahren tat Katharina ihr Bestes, um eine englische Identität anzunehmen, auch wenn ihr das nie ganz gelang. In Spanien hatte sie mit «Catalina» unterschrieben. Nach ihrer Eheschließung mit Heinrich ging sie in ihren spanischen Briefen zu «Katherina» über und in den englischen zu «Katherine» mit «K» oder manchmal einfach zu «La Reyna».[13] Sie ließ sich mit einem goldenen Anhänger in Form des Buchstabens «K» malen. Sie bemühte sich Englisch zu lernen, sprach es aber immer nur stockend und fühlte sich in Gesellschaft ihrer treuen Damen aus dem spanischen Adel am wohlsten. Sie versuchte auch, sich politisch als eine Interessenvertreterin Spaniens, als diplomatische Geheimwaffe ihres Vaters zu positionieren. Seit ihrer Ankunft in England stand sie in häufigem, oft sorgfältig verschlüsseltem Briefkontakt mit ihm.[14] Ihre zuverlässigsten Vertrauten waren mit ihr aus Spanien gekommen, darunter wohl vor allem Fray Diego Fernández, ihr katholischer Beichtvater, mit dem sie jeden Tag betete.[15]
Am Neujahrstag 1511 sah es so aus, als seien ihre Gebete erhört worden: Sie brachte in Richmond einen Jungen zur Welt. Heinrich, außer sich vor Freude, machte sich sofort auf den Weg, um seiner Dankbarkeit am Heiligtum Our Lady at Walsingham in Norfolk Ausdruck zu verleihen – eine Reise von etwa 300 Kilometern hin und zurück und die erste von wenigstens drei Pilgerreisen, die er im Laufe der nächsten zehn Jahre unternehmen sollte.[16] Das Baby, nach seinem Vater und Großvater Henry genannt, wurde in der Kirche des Franziskanerklosters in Richmond getauft, mit Margarete von Österreich als Patin, die bei der Zeremonie allerdings nicht persönlich anwesend war.
Ganze sieben Wochen jubelte das Land mit Dankgottesdiensten, Freudenfeuern und gestiftetem Wein. Der Tradition folgend organisierte Heinrich ein zweitägiges Turnier zu Ehren des Kindes und sparte dabei an nichts. Er führte die «Herausforderer» an, gekleidet als «Cure loial» (Treues Herz), während seine jungen Freunde, vor allem Charles Brandon, die «Verteidiger» stellten und Katharina ihm liebevolle Blicke zuwarf. Am Abend des zweiten Tages folgten Umzüge, Musik und Tanz und ein Bankett, denn für Heinrichs Sohn war nur das Beste gut genug. Der König reagierte sogar großzügig, als eine schwer beherrschbare Menschenmenge einen Kordon durchbrach, um sich die «H»- und «K»-Abzeichen aus purem Gold zu greifen, mit denen sich die prächtig gekleideten Höflinge geschmückt hatten. Einem Mann gelang es, seine Beute für 4 Pfund zu verkaufen, mehr, als die meisten Handwerker in einem Jahr verdienen konnten, und genug, um zwei Morgen Wiese zu kaufen.[17]
Doch Heinrichs Begeisterung sollte nicht lange währen. Nur 52 Tage nach seiner Geburt erkrankte der kleine Prinz Henry und starb in Richmond. Katharina war aus hartem Holz geschnitzt – ihre Mutter Isabella hatte den Tod ihres einzigen Sohnes stoisch mit den Worten «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen» kommentiert.[18] Doch der Schmerz saß tief. Heinrich, der, wie er sagte, seine eigene Trauer seiner Frau zuliebe mannhaft unterdrückte, konnte für seinem Sohn nur noch ein fürstliches Begräbnis ausrichten.[19]
Im Laufe der Jahre schnappten auswärtige Diplomaten immer wieder Hinweise auf Katharinas spätere Schwangerschaften auf.[20] 1513 war sie wieder schwanger, doch im September oder Oktober wurde sie vorzeitig von einem Sohn entbunden, der nach wenigen Stunden starb; ein weiterer Junge kam im November oder Dezember 1514 tot zur Welt. Weitere Kinder verlor sie in den Jahren 1515, 1517 und 1518.[21]
Heinrich ging davon aus, dass die Schwierigkeiten, ein Kind zu bekommen, das Problem seiner Frau waren. Zwei medizinische Fachleute unserer Zeit sind jedoch der Ansicht, dass die Ursache an anderer Stelle zu suchen ist. Katharinas fehlgeschlagene Schwangerschaften passen zu den Symptomen der hämolytischen Erkrankung des Neugeborenen, verursacht durch eine genetische Unverträglichkeit der elterlichen Blutgruppen. Wenn ein Elternteil positiv für ein Antigen namens Kell ist und das andere negativ, kann ein Paar sehr selten mehr als ein lebendes Kind bekommen. Heinrich war also für die Probleme des Paares verantwortlich, falls er positiv und Katharina – wie 90 Prozent der kaukasischen Bevölkerung – negativ war. Das ist eine überzeugende Theorie, zumal Katharinas Schwestern ihre Kinderzimmer problemlos füllten. Ob sie allgemeiner ein Licht auf Heinrichs Fortpflanzungsgeschichte wirft, können wir beim gegenwärtigen Wissensstand nicht beantworten.[22]
Um vier Uhr morgens am Dienstag, dem 18. Februar 1516, brachte die Königin zur erheblichen Erleichterung des königlichen Paares eine gesunde Tochter zur Welt, die auf den Namen Mary getauft wurde. Katharina jubelte ebenso wie Heinrich, der dem venezianischen Gesandten erklärte: «Wenn es diesmal eine Tochter war, so werden mit der Gnade Gottes die Söhne folgen», da er und seine Königin «noch jung» seien – er war knapp fünfundzwanzig, sie dreißig Jahre alt.[23]
Doch nicht nur die Sicherung der Nachfolge war Heinrich wichtig, sondern auch die Wahrung seiner Stellung auf der internationalen Bühne, wo Wolsey allmählich die Führung übernahm und Katharina in den Schatten drängte. Nach seiner Krönung hatte Heinrich geschworen, gegen Frankreich in den Krieg zu ziehen, sobald sich die Gelegenheit ergab. Bei der Begrüßung eines französischen Sondergesandten, der sagte, er wolle den bestehenden Frieden erneuern und gründe seine Bitte auf einen Brief eines altgedienten Beraters des Königs, tobte Heinrich: «Wer hat diesen Brief geschrieben? Soll ich den König von Frankreich um Frieden bitten, der es nicht einmal wagen darf, mir in die Augen zu schauen, geschweige denn, Krieg gegen mich zu führen?»[24] Seine älteren, erfahreneren Berater, vor allem Warham, sprachen sich für den Frieden aus, während die jungen Heißsporne wie Charles Brandon und Heinrichs groom of the stool, sein oberster persönlicher Leibdiener William Compton, ihn zum Kampf drängten.
Im Eifer der Jugend träumte der König davon, es Heinrich V. gleichzutun und sein Heer in den Kampf um den französischen Thron zu führen.[25] Dies entsprach auch der Stimmung seiner Untertanen. Und es steckte noch mehr dahinter. Heinrich war sich der Bedeutung Italiens in internationalen Angelegenheiten und besonders der entscheidenden Rolle von Julius II. als militärischem Anführer bewusst und erklärte daher, er sei «des Papstes guter Sohn». Das war nicht nur raffinierte Selbstdarstellung: Er meinte es wirklich so. Von frühester Jugend an war er ganz versessen auf einen vom Papst verliehenen Titel wie etwa «Schutzherr des Heiligen Stuhls», um mit dem «allerchristlichen» französischen König gleichzuziehen, und als Belohnung für seine Ergebenheit sandte Julius ihm Ostern 1510 eine geweihte Goldene Rose (eine päpstliche Ehre), der bald hundert Parmesanlaibe und Weinfässer folgten. Heinrich erwiderte das Geschenk, indem er kornisches Zinn für die Dacharbeiten an der damals im Bau befindlichen neuen Peterskirche des Papstes nach Rom schickte.[26]
Heinrichs Kriegsstrategie offenbarte sich erstmals, als Ludwig XII. von Frankreich Julius unter Druck setzte. Sobald französische Heere einen großen Teil Norditaliens besetzt hatten und in den Kirchenstaat einzufallen drohten, organisierte der «Kriegerpapst» Julius II. eine Heilige Liga europäischer Mächte, um sie zurückzudrängen. Als Ludwig sich daraufhin vom Papst lossagte und ein schismatisches Generalkonzil der Kirche in Pisa zusammenrief, um ihn abzusetzen, reagierte Heinrich empört: Er könne, so sagte er, nicht einfach danebenstehen und zusehen, wenn der katholische Glaube in Gefahr gerate.[27]
Julius wurde im Mai 1511 aus Bologna vertrieben, doch im Oktober stand die Heilige Liga bereit. Heinrich und Ferdinand sollten zusammen von Süden her nach Aquitanien einfallen, päpstliche Truppen sollten die Emilia-Romagna zurückerobern, Maximilian sollte Verona besetzen und mit den Schweizern und Venezianern die Franzosen aus der Lombardei vertreiben. Als das Heer der Liga am Ostersonntag 1512 eine demütigende Niederlage erlitt, schickte Wolsey 10.000 Soldaten zur Unterstützung, dazu eine Flottille von achtzehn Schiffen, die die Küste der Bretagne ausplündern sollte. Der Einfall in Aquitanien schlug nach einem Rückzieher Ferdinands fehl, doch insgesamt erreichte die Liga ihr Ziel, denn ihre Operationen zwangen Ludwig, nach Frankreich zurückzukehren.[28]
Im folgenden Winter beschloss Heinrich, den Krieg zu intensivieren und sich seine Jugendträume zu erfüllen, indem er seine army royal bei einer großangelegten Invasion nach Nordfrankreich anführte. Wolsey plante die Beschaffung der Soldaten, der militärischen Ausrüstung und der Versorgung, wodurch er schnell die Karriereleiter hinaufstieg. Er wurde Dekan von York, dann Bischof von Lincoln. Noch nicht einmal ein Jahr später war der Erzbischofssitz in York vakant, und Wolsey übernahm auch dieses Amt. Bald darauf begann Heinrich seinen Einfluss beim Vatikan spielen zu lassen, um ihn zum Kardinal zu machen. Die Ernennung stand dann schließlich im September 1515 fest, woraufhin Heinrich ihn zu seinem Lordkanzler und obersten Minister ernannte. Sein Einfluss war so umfassend, dass Richard Pace, ein Sekretär Heinrichs, ihn als quasi alter deus («gleichsam ein zweiter Gott») und als alter rex («zweiter König») betitelte – Beinamen, die sich halten sollten.[29]
Im Frühjahr 1513 musste Heinrich verschiedene weitere Entscheidungen treffen, bevor er sich zum Angriff auf Frankreich aufmachte. So beschloss er, Edmund de la Pole, den er seit dessen Auslieferung im Tower festgehalten hatte, kurzerhand hinrichten zu lassen – trotz des Versprechens seines Vaters, ihn am Leben zu lassen. Des Weiteren ernannte er Katharina zur Regentin, während er sich im Ausland aufhielt. Theoretisch übertrug er ihr gewaltige Machtbefugnisse, doch er war sich nicht sicher, ob er ihren Fähigkeiten trauen konnte, und benannte deshalb zu ihrem Ärger eine Gruppe von erfahrenen Beratern, die sie beaufsichtigen sollten. Thomas Howard, Earl of Surrey, setzte er an die Spitze der Truppen, die er für den Fall zurückließ, dass Jakob IV. von Schottland seine Abreise ausnutzen sollte: Trotz der Ehe von Heinrichs älterer Schwester mit Jakob blieben die Beziehungen zum Nachbarn auf der Insel angespannt. Howard hatte bei der Schlacht von Bosworth auf der falschen Seite gestanden, wurde jedoch nach der Thronbesteigung des jungen Königs rehabilitiert.
Am 13. Juni ging Heinrich, prunkvoll strahlend in seiner neuen, mit Edelsteinen besetzten Rüstung, bei Calais an Land und ritt an der Spitze von 30.000 Mann ins Artois hinein – das waren mehr, als Heinrich V. über den Ärmelkanal gebracht hatte. Die Gelegenheit war günstig. Inzwischen war Julius gestorben und als Papst durch den viel jüngeren, weniger kriegslüsternen Leo X. ersetzt worden, was den Hauptteil des französischen Heeres dazu verleitet hatte, wieder über die Alpen zu ziehen und das Herzogtum Mailand zu überrennen. Doch ihr Erfolg sollte von kurzer Dauer sein. Von den Schweizern in die Flucht geschlagen, konnten sie sich nicht neu formieren und rechtzeitig nach Hause zurückkehren, um eine echte Bedrohung für Heinrich darzustellen.
In vierzehn Tagen war Heinrichs Vorhut 65 Kilometer bis vor die Mauern von Thérouanne marschiert, eine Festungsstadt nahe der Grenze zu den Niederlanden, wo nach Verzögerungen aufgrund schwerer Regenfälle schließlich ein Artilleriebombardement begann. Die Ankunft der verbündeten Truppen Maximilians gab der Belagerung frischen Schwung, doch wirklich voran ging es erst, als Heinrich mit seinem Hauptheer eintraf und die Nachschublinien der Stadt blockierte. Am Morgen des 16. August wurde ein französischer Befreiungstrupp überrascht und flüchtete so schnell, dass das Gefecht als «Sporenschlacht» in die Geschichte einging. Heinrich betrachtete es als einen großartigen Sieg, obwohl er selbst die eigentlichen Kampfhandlungen verpasst hatte. Eine Woche später ergab sich die Stadt.
Erfolgsselig inspizierten Heinrich und Maximilian gemeinsam die Festung und berieten über deren Schicksal. Neben der Kathedrale fanden sie verschiedene neue Gebäude – hätten die Engländer sich entschieden, die Stadt in ihrem Besitz zu behalten, hätten sie dort eine große Garnison unterhalten müssen. Sehr viel einfacher war es, den Ort zu zerstören, eine Entscheidung, der Maximilian begeistert zustimmte, denn die Festung war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Nach einem triumphalen Einzug übergab Heinrich Thérouanne an Maximilian, der die Stadt dem Erdboden gleichmachte. Nur die Kathedrale und die umliegenden Häuser der Geistlichen wurden verschont.[30]
Im Hochgefühl befahl Heinrich seinem Hauptheer einen mehr als hundert Kilometer langen Marsch nach Osten auf Tournai, eine weitere Grenzstadt und ein zweites Tor zu den Niederlanden, während er und Maximilian nach Lille zogen. Heinrich ritt auf seinem Schlachtross in Lille ein, begleitet von seinen Adligen und zweihundert Waffenträgern. Eine Bürgerdelegation überreichte ihm die Schlüssel der Stadttore, woraufhin Margarete von Österreich und ihre Damen beim ersten von drei persönlichen Treffen in diesen Wochen die Besucher mit mehrtägigen Lustbarkeiten unterhielten. Am ersten Abend bewies Heinrich seine musikalischen Talente, sang und spielte Flöte und Kornett, bevor er die Schuhe auszog, um wie bei Prinz Arthurs Hochzeitsbankett im Wams zu tanzen. Dann begann er zu flirten, zuerst mit Marine de Bourgogne, der Tochter einer portugiesischen Adligen. Dann flüsterte er einer anderen Hofdame von Margarete, Étienne de la Baume, «süße Worte» (belles choses) und andere Schmeicheleien (paroles) ins Ohr[*1] und versprach ihr eine beachtliche Mitgift, wenn sie heiraten sollte.[31]
Da hinein platzte die Nachricht von Katharina, dass die Schotten tatsächlich versucht hätten, in Heinrichs Abwesenheit England anzugreifen, dass Surrey jedoch ihre Invasionsarmee bei der Schlacht von Flodden nahe Branxton in Northumberland in die Flucht geschlagen habe – ein furchtbares, blutiges Aufeinandertreffen, das bis nach Sonnenuntergang dauerte und Jakob IV. und den Großteil seines Adels tot auf dem Feld zurückließ. Als greifbaren, anschaulichen Beweis sandte Katharina ihrem Ehemann den blutbefleckten Mantel des getöteten schottischen Königs als Trophäe. Unbedacht stufte sie diesen Sieg höher ein als Heinrichs. In ihrem Brief, dem ersten, den sie eigenhändig und auf Englisch an ihn schrieb, erklärte sie: «Meiner Meinung nach war diese Schlacht die größte Ehre Eurer Gnaden und Eures gesamten Reiches, die es geben kann, und mehr, als wenn Ihr die ganze Krone Frankreichs gewonnen hättet.» Klugerweise erhob sie keinen persönlichen Anspruch auf den Sieg. «Gedankt sei Gott dafür», betonte sie, obwohl sie den Beratern ihres Mannes ganz und gar nicht die Führung überlassen, sondern selbst eine Reservetruppe von 40.000 Mann mobilisiert hatte und mit ihr nach Norden marschiert war, für den Fall, dass Surreys Heer geschlagen worden wäre – schließlich war dies auch ihr Krieg.[32]
In Tournai baten die belagerten Bürger Margarete von Österreich, Fürsprache für sie einzulegen. Sie wussten, dass sie hin- und hergerissen war, denn die prosperierende Stadt, bekannt für ihre feinen Tapisserien und Weine und mit ihren breiten Brücken über die Schelde in einer stategisch wichtigen Lage, war von ihrer Kultur her flämisch geprägt und Maximilian erhob Anspruch auf sie. Margarete tat ihr Bestes, um Blutvergießen zu verhindern, doch Heinrich hörte einfach nicht zu. Dem gutinformierten burgundischen Chronisten Robert Marquéreau zufolge war er zutiefst beleidigt wegen einiger seiner Ansicht nach verleumderischer Balladen und Spottlieder über ihn, die aus der Stadt kamen. «Mit Gottes Hilfe», so erklärte er, «werde ich diese Lügen und Beleidigungen rächen.» Eine dieser Satiren, eine Herabsetzung seiner Abstammung, empörte ihn besonders. Im Kriegsrat wandte er sich empört Margarete zu, befahl ihr, den Mund zu halten, und stolzierte dann aus dem Ratssaal.[33]
Nachdem sie die doppelten Mauern von Tournai mit ihren fünfundneunzig Türmen und sieben wehrhaften Toren inspiziert hatten, befahl Heinrich seinen Soldaten, ihre Positionen einzunehmen. Am 16. September begann das Bombardement. Trotz ihrer gewaltigen Befestigungen verfügte die Stadt nicht über eine Garnison mit ausgebildeten Soldaten, und die Mauern waren Heinrichs Belagerungsartillerie nicht gewachsen. Bei knappen Vorräten und abgeschnittenen Kommunikationswegen beschlossen die Bürger zu kapitulieren. Wolsey bot Verhandlungen an, in denen er deutlich machte, dass es diesmal außer Frage stand, den Ort zu zerstören oder aber ihn Maximilian zu übergeben. Heinrich war der rechtmäßige König von Frankreich: Tournai war Teil seines Herrschaftsgebiets und musste ihm abgetreten werden. Nach weiteren Gesprächen war die Angelegenheit geregelt. Am Sonntag, dem 25. September, zehn Tage nach der Inspektion seiner Truppen, hielt Heinrich in Tournai seine entrée royale ab.[34]
Maximilian tauchte kurz darauf wieder auf, und bald schloss sich ihm Margarete an, die Prinz Karl mitbrachte und zehn Tage blieb. Nachdem sie zusammen die Messe besucht hatten, einigten sich Heinrich und Maximilian darauf, Karls Heirat mit Heinrichs jüngerer Schwester Mary in Calais vor dem 15. Mai des nächsten Jahres stattfinden zu lassen. Maximilian sollte Karl nach der Eheschließung für alt genug erklären, sein Erbe anzutreten. Der dreizehnjährige Karl nahm dann mit Maximilian und Heinrich an den «königlichen Lanzenstechen» teil, die die Engländer bei strömendem Regen veranstalteten.
Auf dem Turnierplatz traten Heinrich und Charles Brandon gegen alle an, die gegen sie kämpfen wollten, wobei «dem König vierundzwanzig Ritter zu Fuß in Mänteln aus purpurnem Samt und Goldbrokat dienten». Der Impresario des Turniers war Sir Thomas Boleyn, der die gewaltige Summe von 40 Pfund (mehr als 40.000 Euro nach heutigem Wert) für seine Dienste erhielt. Es folgte ein Bankett mit hundert verschiedenen Gerichten, begleitet von Musik, Tanz und höfischen Historienspielen.[35]
Unter den Zuschauern war Boleyns zwölf- oder dreizehnjährige Tochter Anne, die zu Margarete von Österreichs Ehrenjungfern zählte. Ihr Vater hatte sie Margarete anvertraut, und sie befand sich auch mit ihr in Lille, als Heinrich und Maximilian nach dem Fall von Thérouanne dort eintrafen. Dort muss Heinrich sie zum ersten Mal gesehen haben, doch wahrscheinlich schaute er gar nicht in ihre Richtung, weil er so damit beschäftigt war, mit den älteren Frauen zu flirten und die Aufmerksamkeit einzusaugen, die er als siegreicher Held seiner Meinung nach unbedingt verdient hatte.
*1 Diese Wortwahl verhüllt eine sexuelle Anspielung. Mit dem Ausdruck donner paroles bietet ein Verehrer im Spiel der höfischen Liebe seiner Geliebten seinen «Dienst» an.