Anne Boleyn war dazu geboren, «nach oben» zu heiraten. Sie entstammte einer Familie, die mithilfe von Geld und Status aufsteigen wollte, einer, die verstand, dass der Aufbau einer Dynastie eine Sache mehrerer Generationen war. Geoffrey Boleyn der Ältere, ihr Ururgroßvater, kam aus bescheidenen Verhältnissen, verdiente aber in den Textilfabriken von Salle, dreizehn Kilometer westlich von Blickling nahe Aylsham in Norfolk, so viel, dass er die reiche Erbin Alice Bracton für sich gewinnen konnte. Geoffrey brachte seinen Erstgeborenen, einen weiteren Geoffrey, als Lehrling bei einem Londoner Hutmacher unter und schickte seinen zweiten Sohn Thomas zum Studium nach Cambridge, wo er in Gonville Hall erst zum Fellow, dann zum Master gewählt wurde.[1] Der jüngere Geoffrey machte sich einen Namen als Kaufmann, verdiente viel Geld und wurde zu einem führenden Mitglied der Londoner Mercers’ Company, der ältesten und prestigeträchtigsten der städtischen Gilden. 1453 gab er ein aufwändiges Abendessen in seinem schönen Haus nahe der Cheapside, bei dem er bekanntgab, dass er das Amt des Lord Mayor anstrebe. Sein erstes Vermögen hatte er als Großhändler gemacht, der in den flämischen Handelsstädten englische Stoffe verkaufte und mit den Gewinnen Seide, Samt, Pfeffer und andere Luxuswaren importierte. Bald brauchte er sich nicht mehr so sehr um das Alltagsgeschäft zu kümmern und konnte sich darauf konzentrieren, ein zweites, größeres Vermögen als Bankier anzuhäufen, der Kredite und Hypotheken an Höflinge, Adlige und Kaufmannskollegen vergab, Wechselbriefe kaufte und verkaufte und die Schulden der Genueser Kaufleute in London übernahm, von denen er Zinsen in Höhe von satten 14 Prozent verlangte.[2]
Der große Sprung nach vorn – und in der Familie legendär – war Geoffreys zweite Ehe. Nach dem Tod seiner ersten Frau Denise irgendwann vor 1448 machte ihn sein Reichtum zu einem aussichtsreichen Bewerber um die Hand von Lady Anne Hoo, der ältesten Tochter und Miterbin von Sir Thomas Hoo, der im Hundertjährigen Krieg tapfer gekämpft hatte und als Lord Hoo and Hastings in den Adel aufgestiegen war. Hoo, der über große Ländereien in Bedfordshire und Norfolk verfügte, war ein Favorit Heinrichs VI. und mit dem Königshof so eng verbunden wie nur wenige im Zeitalter der Rosenkriege. Durch diese Ehe führte Annes Urgroßvater die Boleyns in eine höhere Gesellschaftsschicht. Sie waren jetzt keine einfachen Kaufleute mehr, die sich nur darum rissen, Grundbesitzer zu werden.
Geoffrey wurde 1449 zum Parlamentsabgeordneten für London und 1457 zum Lord Mayor gewählt und gleichzeitig in den Ritterstand erhoben. Er investierte sehr viel Geld in Land, das, wie er wusste, die Währung der Macht war, und erwarb 1452 von einem schwer erkrankten Veteran der Schlacht bei Azincourt das Herrenhaus von Blickling. Sir John Fastolf, dessen Namen, passend abgewandelt, Shakespeare sich für seinen komischen Helden in Heinrich IV. auslieh, verkaufte unter Wert – allerdings unter der Bedingung, dass Annes Urgroßvater ihm eine großzügige Leibrente auszahlte. Boleyn setzte auf Fastolfs frühen Tod und verlor: Sir John lebte bis 1459 und starb gerade zu dem Zeitpunkt, als die Rosenkriege eine Wende zum Schlechteren nahmen.[3]
Das Herrenhaus hatte Sir Nicholas Dagworth in den achtziger oder neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts errichtet. Er war 1401 gestorben, und eine schöne Gedenkplatte aus Messing in der Pfarrkirche in Blickling, wenig mehr als einen Steinwurf entfernt, erinnert noch heute an ihn. Fastolf hatte dem Besitz offenbar nicht allzuviel Beachtung geschenkt, denn er lebte vor allem in Caister Castle oder in seinen anderen Häusern in Norwich und Southwark. Als er beschloss, Blickling zu verkaufen, war das Haus eine burgartige Wohnstatt von bescheidener Größe, umgeben von einem Graben, errichtet zum größten Teil aus mit Ziegelsteinen gefülltem Fachwerk rund um einen rechteckigen Hof.[4]
Fastolf weigerte sich, Boleyn auch das Herrenhaus von Guyton, zehn Kilometer nordwestlich von Blickling, zu verkaufen, obwohl er es versprochen hatte. Wahrscheinlich ärgerte er sich, weil Boleyn die Leibrente immer sehr spät auszahlte. Annes Urgroßvater unternahm 1460 noch einmal einen Versuch, Guyton von Fastolfs Testamentsvollstreckern zu kaufen, scheiterte aber erneut. Stattdessen erwarb er für eine unbekannte Summe zusammen mit anderen als Syndikat das Herrenhaus Hever nahe Sevenoaks in Kent, inklusive der idyllischen hügeligen Ländereien und weiterem Land in den Gemeinden Hever und Chiddingstone. Der Verkäufer war Sir William Fiennes, Lord Say and Sele, und Geoffrey Boleyn war als ein Treuhänder der Say-and-Sele-Besitzungen bei diesem Handel im Vorteil und konnte das Herrenhaus Hever für sich selbst beanspruchen. Als die Käufer ihr Eigentum schließlich in Besitz nahmen, war schon Eduard IV. König geworden. Annes Urgroßvater Geoffrey erwarb noch andere Häuser in Sussex, Norfolk, Kent und London, wählte jedoch Blickling als Stammsitz.[5]
Geoffrey Boleyn und Anne Hoo hatten zwei Söhne, Thomas und William, und drei Töchter, Alice, Isabel und Anne. Thomas starb schon mit Anfang zwanzig, sodass William den Besitz seines Vaters einschließlich Blickling und Hever erbte, als Geoffrey 1463 starb.[6] Der Patriarch wurde mit beachtlichem Pomp in der Kirche St Lawrence Jewry nahe seinem Londoner Haus beigesetzt. Im Tode zeigte er sich sehr freigebig, hinterließ seiner Witwe eine große Summe Bargeld und seinen Töchtern jeweils 1000 Mark (666 Pfund nach damaliger Umrechnung) als Mitgift. 100 Pfund gingen an die Pfarrei St Lawrence Jewry und 20 Pfund an die Kirche in Blickling. Er bestimmte Mittel für die Ernährung von Häftlingen in London, für Leprosenhäuser, für die «Kranken und Schwachen» in Krankhäusern überall in der Stadt und für arme Witwen. Außerdem hinterließ er Geld, um einen Theologiestudenten in Cambridge zu unterstützen, immer vorausgesetzt, dass er fleißig lernte und predigte, und bezahlte einem Priester ein Gehalt, damit dieser alle drei Monate Seelenmessen für ihn hielt und die übrige Zeit lehrte oder «das Wort Gottes predigte». Der Rest seines Nachlasses sollte der Versorgung der Armen dienen, dem Bau von Schulen und «anderen Werken und Taten der Barmherzigkeit und Frömmigkeit». Insgesamt summierten sich all seine wohltätigen Zuwendungen auf fast 1000 Pfund (über eine Million Euro heute).[7]
Annes Großvater William Boleyn arbeitete kurz als Anwalt in Lincoln’s Inn und schloss sich dann der Mercers’ Company an. Nachdem er sich ein rudimentäres Wissen im Handelsrecht angeeignet hatte, setzte er eine Zeit lang den Tuchhandel seines Vaters fort, bevor er ihn abwickelte und seine Stellung als Landbesitzer ausbaute. Auch er strebte in neue gesellschaftliche Höhen und vermählte sich mit Margaret, der Tochter und Miterbin des reichen anglo-irischen Adligen Thomas Butler, Earl of Ormond. Um 1475 begannen sie ihr gemeinsames Leben in Blickling und bekamen zehn Kinder, sechs Jungen und vier Mädchen. Ihr ältester Sohn war Anne Boleyns Vater Thomas, geboren im Jahr 1477. Unter den weiteren Söhnen waren James und Edward, die zu Rittern erhoben wurden und an der Peripherie der Tudor-Königshöfe dienten, bis Anne an Bedeutung gewann und James in ihren Diensten aufstieg. Die Töchter waren alle gut verheiratet: Die älteste, ebenfalls Anne, vermählte sich mit Sir John Shelton, einem Gutsbesitzer in Norfolk aus dem Dorf Shelton, etwa sechzehn Kilometer südlich von Norwich, und zwei ihrer Töchter sollten später entscheidende Rollen in der Geschichte der Anne Boleyn spielen.[8]
Williams Ehe mit Margaret Butler war ein Bravourstück ersten Ranges. Danach sah zunächst allerdings gar nicht aus, weil ihr Vater bei der Schlacht von Towton im Jahr 1461 auf der Verliererseite gestanden hatte. Voll rehabilitiert wurde der Earl of Ormond erst nach der Schlacht von Bosworth, als man ihn wieder in Gnaden am Hofe aufnahm und Elizabeth von York ihn zu ihrem Kammerherrn machte. Nachdem er also seinen Titel und seinen Landbesitz zurückbekommen hatte, verbrachte Ormond die meiste Zeit in Essex, wo unter anderem New Hall nahe Boreham und Rochford Hall nahe Leigh-on-Sea zu seinen Besitzungen gehörten. 1491 erwarb er die Erlaubnis, New Hall zu renovieren und mit Zinnen zu versehen und einen 400 Hektar großen Wildpark anzulegen.[9]
William Boleyn hatte nie Probleme damit, Geschäftliches und Privates miteinander zu vermischen. Nachdem er Margaret Butler geheiratet hatte, lieh er seinem Schwiegervater Geld, damit der seine Schulden bezahlen konnte, und investierte so in seine eigene Zukunft, indem er Teile von dessen englischen Besitz unter seine Kontrolle brachte. Diese Taktik setze er auch bei Mitgliedern der Familie seiner Mutter ein. Mit einer Reihe undurchsichtiger Transaktionen kam er dem Ende der männlichen Linie der Hoo zuvor und übernahm 1484 das wertvolle Herrenhaus Luton Hoo in Bedfordshire. Damit verstieß er gegen das Gesetz, weil das Erbrecht der Boleyns eigentlich erst 1486, als Lord Hoos Halbbruder Thomas starb, zum Tragen kam.[10]
William lernte auch den Höfling zu spielen. 1483 hatte Richard III. ihn zum Ritter des Bathordens erhoben, doch nach Bosworth passte er sich schnell dem neuen Tudor-Regime an. 1494 war er dabei, als der junge Prinz Henry zum Duke of York ausgerufen wurde; 1501 stand er bei jenen, die in St George’s Fields in Southwark neben dem Prinzen angetreten waren, um Katharina von Aragon bei ihrer Ankunft aus Spanien zu begrüßen.[11]
Thomas Boleyn, Annes Vater, ging in seinen Ambitionen noch beträchtlich darüber hinaus. Er wurde in Blickling geboren und wuchs dort auf, studierte ebenfalls kurz Recht, bevor er mit zwanzig Jahren die nationale Bühne betrat, als er mit seinem Vater gegen die kornischen Rebellen zu den Waffen griff. Etwa zu dieser Zeit heiratete er die schöne Elizabeth Howard, die älteste Tochter des Earl of Surrey und seiner ersten Frau Elizabeth Tylney. Da die Howards zu den wichtigsten Familien des alten Adels zählten, war auch dies eine ganz herausragende Partie. Der einzige Nachteil war, dass die Braut nur eine winzige Mitgift mitbrachte, ein teurer Mangel, den die Boleyns selbst beheben mussten.[12] Fast sicher war das Paar 1498 verheiratet, denn am 22. August des Jahres, dem Jahrestag von Bosworth, verbrachte Heinrich VII., der auf royal progress (der königlichen Sommerreise durch das Reich inklusive Jagdausflügen und Besuchen hier und da) durch Norfolk reiste, die Nacht bei «Mr Boleings», womit Blickling gemeint war. Ein königlicher Besuch, und sei es auch nur für eine Nacht, war eine beachtliche Ehre: Dass Thomas der Gastgeber war, lässt sich daraus ableiten, dass sein Vater als «Sir William» bekannt war, nicht als «Mr» Boleyn.[13]
Sobald Thomas verheiratet war, überließ sein Vater ihm Blickling und zog nach Hoo. Doch ohne das frühere Familieneinkommen aus dem Handel geriet Thomas in finanzielle Probleme und musste sich in London verschulden.[14] Später erklärte er: «Als ich meine Frau heiratete, hatte ich nur fünfzig Pfund [pro Jahr] zum Leben für mich und meine Frau, solange mein Vater lebte.»[15] Er ließ sich davon nicht ausbremsen. 1501 nahmen Thomas und Elizabeth an Prinz Arthurs Hochzeit teil. Zwei Jahre später schloss sich Thomas dem Gefolge des Earl of Surrey an, das Margaret, die Tochter Heinrichs VII., zu ihrer Hochzeit mit Jakob IV. nach Schottland geleitete, und war ein Ehrengast «beim hohen Fest mit der Königin».[16]
Nach der Thronbesteigung Heinrichs VIII. tauchte Thomas Boleyn sehr viel häufiger bei Hofe auf und bekam Zugang zu den damit verbundenen Privilegien. Als vielseitiger, hochbegabter, sprachkundiger Kosmopolit mit fast perfektem Französisch und guten Kenntnissen in Kunst und Literatur sowie allem, was mit Pferden, Falken und Bowls zusammenhing, hatte er das Zeug zum idealen Höfling. In einer besonderen, schwarzen Livree schloss er sich dem Trauerzug Heinrichs VII. an. Am Vorabend der Krönung des neuen Königspaars wurde er zum Ritter des Bathordens geschlagen, seine Frau Elizabeth wurde zu einer der Hofdamen der Königin ernannt.[17] Bei dem großen Turnier zur Geburt des Prinzen Henry im Jahr 1511 zeichnete er sich auf Seiten der Verteidiger besonders aus. Und nach dem Tod des Babys zählte er zu den Trägern, die den winzigen, schwarz verhüllten Sarg geleiteten, als er von Richmond aus die Themse hinunter gerudert und in die Westminster Abbey gebracht wurde.[18]
Thomas und seine Ehefrau bekamen in Blickling drei Kinder: Mary, Anne und George. Ihre jeweiligen Geburtsdaten waren bis vor Kurzem Gegenstand einer erbitterten Kontroverse unter Annes Biographen. Kirchenbücher mit den Daten von Geburten, Eheschließungen und Sterbefällen wurden erst 1538 eingeführt und sind für die Jahre vor 1560 sehr lückenhaft. Die Kirchenbücher von Blickling beginnen erst 1559. Seit 2004 herrscht jedoch weitgehend Einvernehmen darüber, dass Anne die jüngere der beiden Schwestern war, und kürzlich aufgefundene Belege, die sich in der Bibliothek des Queen’s College in Oxford verbargen und bisher in dieser Kontroverse noch nie herangezogen wurden, stützen diese These (siehe Anhang). Wenn man alle Quellen berücksichtigt, ist wohl ein Geburtsdatum um 1499 für Mary, 1500 bis 1501 für Anne und 1503 bis 1504 für George anzunehmen. Glücklicherweise zweifelt kaum jemand daran, dass George das jüngste Kind der Boleyns war.
Als Baby trug man Anne das kurze Stück zur Kirche von Blickling und taufte sie im achteckigen Taufbecken an der Westtür. Dieses auf allen Seiten mit aufgerichteten Löwen verzierte Becken befindet sich noch immer dort. Es ruht auf einer steinernen Plinthe, flankiert von vier sitzenden Löwen mit Konsolfiguren in Form von Engeln darüber. Anne lebte mindestens bis 1505 mit ihren Geschwistern im Herrenhaus, doch wenn sie Erinnerungen an diese frühen Jahre ihrer Kindheit hatte, so wissen wir darüber nichts. Wir können uns nur vorstellen, dass sie Zeit mit Schwester, Bruder, Mutter, Amme oder Bediensteten verbrachte; wir können romantisch darüber spekulieren, ob sie als Dreijährige auf einem Pony in dem prächtigen Park des Herrenhauses mit seinen Wäldern und Rasenflächen, die sich ausdehnten, so weit das Auge reichte, herumgeführt wurde. Sicher können wir sagen, dass an dem Haus gearbeitet wurde, während sie dort lebte. Die Boleyns hatten ein Händchen für die Aufwertung von Immobilien und verwandelten das Herrenhaus in eine Art Schloss mit zwei Höfen und einer langen Galerie. Am besten wissen wir über den Westflügel Bescheid, in dem die Betriebsräume untergebracht waren. Dazu gehörten im Erdgeschoss eine Portierswohnung am Südende, zwei sich nach Norden anschließende Räume, die Küche, zwei Speisekammern, ein Anrichtezimmer und eine Waschküche sowie in einem zweiten Geschoss «die Eckkammer und zehn weitere Kammern».[19]
Im Oktober 1505 erlebten die Boleyn-Kinder eine plötzliche Veränderung: Ihr Großvater William Boleyn erkrankte in Luton Hoo und starb innerhalb eines Monats. In seinem Testament hatte er festgelegt, dass Thomas Boleyn als der Haupterbe seiner Mutter Margaret Butler eine Leibrente von 200 Mark (133 Pfund) pro Jahr zahlen und dass sie «ihre Wohnung für sich selbst und ihre Bediensteten» haben sollte, «bequem auf dem Gelände oder im Haus meines erwähnten Herrensitzes in Blickling» – was die Privatsphäre der Familie doch stark beeinträchtigte.[20] Thomas war nicht gerade begeistert: Die Verhandlungen zwischen ihm und seiner Mutter sollten sich sieben Jahre lang hinziehen. In der Zwischenzeit zog die Familie nach Hever.
Seit etwa Weihnachten 1505 verbrachten Anne und ihre Geschwister ihre Kindheit in Kent. 1538 schrieb Thomas in seiner unverwechselbaren Krakelschrift einen Brief aus Hever, in dem er nachdrücklich erklärte, er lebe seit dreiunddreißig Jahren – mit anderen Worten, seit 1505 – in «diesem Land», womit Kent gemeint war.[21] Fraglich ist allerdings, wie beliebt er sich dort machte. Zeugenaussagen, die zugegebenermaßen von Opfern der strengen Durchsetzung seiner Jagdrechte stammen, lassen vermuten, dass der neue Herr von Hever als ein Mann von einer «gewissen Härte» galt und «im Lande nicht geliebt» wurde.[22] Seine Kritiker behaupteten: «auch er hatte keine Liebe zum Land» – ob das heißen sollte, dass sein Herz noch immer an Norfolk hing, oder nur, dass er die Bewegungsfreiheit nicht duldete, die man in Kent traditionell den Wilderern ließ, bleibt dahingestellt.[23]
Hever war – und ist noch immer – eine beeindruckende, relativ kompakte Wasserburg, die auf das 14. Jahrhundert zurückgeht und im stark bewaldeten Weald of Kent liegt. Die Innenausstattung des Hauses hatte die Familie Fiennes vernachlässigt, sodass die Boleyns renovieren mussten. Als Anne dort ankam, waren der ursprüngliche Grundriss des quadratischen Wohnturms und die Grundflächen des mittelalterlichen Saals, des Torhauses, der Küche und Spülküche noch fast unverändert. Eine Feuerstelle und Fenster waren in den großen Saal eingelassen worden, und man hatte ihn verkürzt, um Raum für ein Empfangszimmer hinter dem mit einer Holzwand abgetrennten Korridor zu schaffen. An anderer Stelle wurden separate, angenehmere Wohnzimmer gestaltet. Eine über eine Treppe zugängliche Galerie wurde geschaffen, indem man in den Saal und andere Räume auf der Nordseite des Wohnturms eine Decke einzog und den Raum darüber nutzte. Scheunen und Nebengebäude wurden außerhalb des Wassergrabens errichtet, um Ställe und Unterkünfte für die Bediensteten zu schaffen. Von den ursprünglich drei Fallgittern sind heute noch zwei erhalten. Allerdings ist die heutige Zugbrücke aus stabiler alter englischer Eiche, die so mittelalterlich wirkt, tatsächlich modern: Sie ersetzt eine zweckmäßige Ziegelbrücke aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die ihrerseits eine ältere hölzerne Zugbrücke abgelöst hatte.[24]
Wir kennen verschiedene Familien aus der Gegend, mit denen die Boleyns in Annes Kindheit in Kontakt standen.[25] Die Liste beginnt mit den Isleys aus Sundridge und den Wilshires aus Stone Castle nahe Dartford, einem alten normannischen Herrensitz auf der Anhöhe nicht weit von der Straße zwischen London und Dover. Thomas Isley aus Sundridge, Vater von zehn Söhnen und drei Töchtern, lebte nur dreizehn Kilometer von Hever entfernt und arbeitete mit Annes Vater vor allem als Friedensrichter zusammen.[26] Er verließ seinen Heimatbezirk praktisch nur, um sich mit seinen Rechtsanwälten zu besprechen, anders als Sir John Wilshire, der regelmäßig in Calais als Rechnungsprüfer des Königs tätig war und seine Frau Margaret und Tochter Bridget in Stone zurückließ. Bridget war zwar mindestens zehn Jahre älter als die Boleyn-Geschwister, kannte sie aber so gut, dass Anne später sagen konnte: «Neben meiner eigenen Mutter kenne ich kein lebende Frau, die ich mehr liebe.»[27] Als Sir John 1526 unheilbar erkrankte und sein Grab in der Kirche St Botolph’s am Aldgate in London vorbereitete, ernannte er Annes Vater zu seinem Testamentsvollstrecker. Als Zeugnis ihrer Freundschaft vermachte er ihm einen wertvollen Ring, «den ich gebührend lange getragen habe».[28]
Zum gesellschaftlichen Netzwerk der Boleyns gehörten auch die Cheynes aus Shurland auf der Isle of Sheppey und die Brookes aus Cobham nahe Gravesend und Cooling Castle nahe Rochester. In beiden Fällen waren die Familien verwandtschaftlich verbunden. Kürzlich ist die Verwandtschaft zu den Cheynes angezweifelt worden, doch eine Inschrift auf der Gedenktafel für Annes Großtante Isabel in der Kirche von Blickling belegt, dass sie «William Cheyne, Esquire, von der Isle of Sheppey in der Grafschaft Kent» als dessen erste Frau heiratete.[29] Thomas Brooke, später der 8. Baron Cobham, war die längste Zeit der einzige in Kent ansässige Hochadlige und der Schwiegersohn von Annes Großtante Anne Heydon.[30] Ob Anne als Kind jemals auf dem Familiensitz Cobham Hall eingeladen war, ist nicht dokumentiert, aber sicher lernte sie die Brookes später kennen, und sie bestand darauf, dass Anne, die Frau von Thomas Brookes ältesten überlebenden Sohn George, in ihrem Krönungsumzug mitritt.[31]
Am besten jedoch waren die Boleyns wohl mit den Wyatts bekannt, die auf Allington Castle, etwa fünf Kilometer nordwestlich von Maidstone, residierten. Sir Henry Wyatt war unter Heinrich VIII. Master of the Jewels und damit in führender Position verantwortlich für die königlichen Finanzen. Seine eigenen Güter erstreckten sich von Maidstone im Süden bis Gravesend im Norden, und die Boleyns hatten ihn kennengelernt, als sie noch in Blickling lebten. Seit 1485 hatte er Besitz in Norfolk und Kent angesammelt. 1492 kaufte er Allington in heruntergekommenem Zustand und renovierte es.[32] Als Mitglied des Kronrats seit 1504 und einer der Testamentsvollstrecker Heinrichs VII. hatte Wyatt spätestens seit 1511 die engsten Verbindungen zu Annes Vater, als sie gemeinsam zu Constables von Norwich Castle ernannt wurden, deren Aufgabe es war, das dortige Verlies zu überwachen und den Transfer der Gefangenen zu den halbjährlichen Schwurgerichtsterminen und wieder zurück zu organisieren.[33]
Im Jahr 1511, als Anne zehn oder elf Jahre alt war, erreichte Thomas Boleyn endlich eine Übereinkunft mit seiner Mutter, die im Voraus die Verteilung jener Ländereien regelte, die sie beim Tod ihres Vaters, des jetzt über achtzigjährigen Earl of Ormond, erben würde. Margaret sollte noch vier weitere Jahre mit ihrem Vater haben, doch Thomas überredete sie, eine rechtsgültige Übereinkunft zu unterschreiben, wodurch er im Austausch gegen ein Wohn- und Nutzungsrecht auf Lebenszeit in den Herrenhäusern Blickling und Luton Hoo alles erben sollte, «was durch den Tod des besagten Earl of Ormond anfällt», vor allem dessen wertvolle Besitzungen in Essex – New Hall und Rochford Hall.[34]
Diese durch und durch schäbige Abmachung erklärt sich dadurch, dass Thomas Boleyn über seine Verhältnisse lebte. Da das normale Einkommen aus seinen Gütern nicht ausreichte, um die Familie zu unterhalten oder zumindest in dem Stil zu leben, an den sie sich gewöhnt hatte, verlegte er sich darauf, Hypotheken aufzunehmen, Land zu verkaufen oder zu verpachten oder aber Kredite aufzunehmen, für die er seinen zukünftigen Anteil am Ormond-Erbe als Sicherheit anbot. Die Boleyns waren reich – aber nicht reich genug. Bisher war ihr Dienst für den König zwar durchaus finanziell belohnt worden: Heinrich hatte Annes Vater für eine jährliche Abgabe von £ 30 6s 8d zum Aufseher der Währungsbörsen in England und Calais ernannt. Bei guter Verwaltung des Amtes konnte er damit 100 Pfund Gewinn im Jahr machen. Thomas und sein Schwiegervater Surrey erhielten auch wertvolle Nutzungsrechte, doch diese Geschenke reichten nicht aus, um all jene Ausgaben zu decken, die vom König nicht erstattet wurden, besonders Elizabeths feine Kleidung und Thomas’ Turnier- und Jagdausstattung.[35] Die Familie lebte in prächtiger Umgebung und bewegte sich in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, war aber von Heinrichs Großzügigkeit abhängig. Außerdem mussten sie einen Wohnsitz in London finden, für den Fall, dass der König sie auf einer seiner Reisen dort besuchen wollte. Die genaue Adresse dieses Hauses ist nicht bekannt, doch sicher lag es an der Themse, da Heinrich einmal dort Halt machte, als er mit dem Schiff nach Greenwich reiste. Höchstwahrscheinlich war es ein Haus, das Thomas von der Corporation of London mietete, möglicherweise nahe Baynard’s Castle neben den Blackfriars Stairs am Ufer der Themse.[36]
Wenn Anne in der Welt etwas werden und einen Ehemann für sich gewinnen sollte, der den Traditionen der Boleyns entsprach, brauchte sie eine höfische Erziehung. Die Gelegenheit dazu ergab sich im Frühjahr 1512, als Heinrich ihren Vater ziemlich unverhofft zu Margarete von Österreich nach Mechelen schickte, mit dem Auftrag, Kaiser Maximilians Unterstützung am Vorabend des gemeinsamen englisch-spanischen Einfalls nach Aquitanien abzusichern. Da er fließend Französisch sprach und über ein beneidenswertes Wissen in klassischer Literatur und allen höfischen Künsten verfügte, war Boleyn für die Rolle des Diplomaten gut gerüstet. Für Heinrich war der Erfolg dieser Mission wirklich wichtig, und für die Boleyns, besonders für Anne, ging es, wie sich herausstellen sollte, um alles oder nichts.