Am 11. März 1519 verließ die hochschwangere Claude mit ihren Damen Paris in Richtung des etwa vierundzwanzig Kilometer entfernten alten Palastes in Saint-Germain-en-Laye, um ihr nächstes accouchement vorzubereiten. Unterwegs sah sie sich gezwungen, im Dorf Porte de Neuilly zu rasten. Thomas Boleyn war der erste ausländische Diplomat, der berichtete, dass «es ihr sehr schlecht geht, schlechter als bei jedem anderen Kind zuvor» – seine Informantin war wahrscheinlich Anne. In jener Nacht, so fuhr er fort, «war sie in großer Gefahr». Falsche Gerüchte verbreiteten sich, erst hieß es, dass sie tot sei, dann, dass sie das Kind zur Welt gebracht habe. Boleyn ging, wie sich zeigen sollte völlig zu Recht, davon aus, dass die Frauen die Pferdesänften, in denen sie bisher unterwegs gewesen waren, stehen lassen und, sobald Claude sich wieder etwas erholt hatte, ruhig in einer geschlossenen Barke auf der Seine nach Saint-Germain fahren würden.[1]
Auch Annes Vater eilte also nach Saint-Germain und erfuhr, dass die Königin «jede Stunde ihre Zeit erwartet», eine Aussage, die er noch einmal bestätigte, nachdem Luise von Savoyen ihn eingeladen hatte, einen Blick in das abgedunkelte Geburtszimmer zu werfen. Das Warten fand am 31. Mai ein Ende – Claude brachte ihren zweiten Sohn Henri, den Herzog von Orléans, zur Welt. Die Taufe fand am 5. Juni statt. Als Stellvertreter Heinrichs VIII., der zu einem Paten des Kindes benannt worden war, hielt Thomas Boleyn Henri über das Taufbecken und überreichte als Geschenk ein Salzfässchen, eine Tasse und ein Kännchen aus Gold. Die Taufe gab Anne und ihrem Vater Gelegenheit, sich zu sehen und Neuigkeiten auszutauschen.[2]
Auch nach der Wahl Karls zum Kaiser begleitete Thomas den französischen Hof. Seinen letzten Anweisungen zufolge sollte er einen Gipfel zwischen Heinrich und Franz an der Grenze zwischen England und Frankreich nahe Calais zustandebringen, ein Projekt, das bei Wolseys diplomatischen Verhandlungen im Jahr zuvor angedacht worden war. Annes Vater eröffnete die Unterredungen in Saint-Germain, leistete aber den größten Teil der Arbeit im Laufe des Sommers im Loiretal, wohin Franz sich wegen eines Pestausbruchs zurückgezogen hatte. Claude war mit ihrem Baby und ihren demoiselles schon nach Blois geflohen, wo man einen cordon sanitaire um das Schloss errichtete.[3]
Im Jahr darauf, im Februar und März 1520, waren Anne und ihr Vater drei Wochen auf dem Stammsitz der Valois-Angoulême im südwestfranzösischen Cognac wiedervereint, wo Franz und seine Schwester Margarete aufgewachsen waren. Der König hatte den ganzen Hof dorthin gebracht, nachdem er Weihnachten im Poitou gefeiert hatte. Nach dem Besuch von Saint-Jean-d’Angély, einer Pilgerstadt auf dem Weg nach Santiago de Compostela in Spanien, erreichte der königliche Tross unter Trompetenfanfaren Cognac. Franz machte seine entrée am Morgen des 18. Februar, dem letzten Sonntag im Karneval. Am nächsten Tag organisierte Luise ihrer Schwiegertochter Claude zu Ehren eine zweite entrée, an der auch Annes Vater teilnahm. Aller Augen waren auf die Königin gerichtet, als sie elegant gekleidet in einer Pferdesänfte, die von Maultieren getragen wurde, durch die Straßen zog. Ein als Merkur gekleideter Schauspieler begrüßte sie, anmutig nahm sie die Hochrufe der Massen entgegen, während weitere als Götter und Göttinnen gekleidete Schauspieler vortraten, um ihr die Ehre zu erweisen. Hinter Claude fuhren, wie schon bei ihrer Krönungsprozession, Anne und die anderen demoiselles in wappengeschmückten Wagen.[4]
Dies war der letzte Anlass, bei dem Anne ihren Vater als Botschafter am französischen Hof sah. Wir können dies sicher sagen, weil Claude und Luise unabhängig voneinander an Heinrich schrieben, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass «le sieur Boulan» ihm ihre letzten Neuigkeiten persönlich übermitteln werde. Anlass ihrer Briefe war Heinrichs oder wahrscheinlicher wohl Wolseys Entscheidung, Boleyn abzuberufen und durch Sir Richard Wingfield zu ersetzen. Wingfield schloss sich dem Hof in Cognac an, begleitete Boleyn zu einer Audienz mit Franz, dem der neue Botschafter sein Empfehlungsschreiben überreichte. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Annes Vater aus einem anderen Grund zurückgerufen worden wäre, als dass seine Arbeit mit der Organisation des nahenden Gipfels erledigt war. Das Treffen sollte im Mai oder Juni 1520 stattfinden – das Datum war vorverlegt worden, nachdem Claude verkündet hatte, sie sei zum fünften Mal schwanger und erwarte ihr Kind Ende Juli oder im August.[5]
Alles war vorbereitet für jenes faszinierende und extravagante Ritterspektakel, das die Zeitgenossen als Camp du Drap d’Or (Feld des Güldenen Tuches) kannten. Wolsey war so begeistert von dem Ereignis, dass er persönlich einen provisorischen Palazzo im italienischen Stil entwarf, um Heinrich und Katharina dort zu bewirten, Turniere, Maskenspiele, Messen, Feuerwerke, Märchenbankette, Ausstellungen von Kunstschätzen organisierte und verschwenderische Mengen Wein orderte, um alle zu unterhalten, während hinter geschlossenen Türen die ernsthaften Gespräche stattfanden. Die Kosten waren gigantisch. Heinrich bestellte riesige Mengen Goldbrokat – den seit einem Luxusgesetz des Jahres 1463 nur noch Angehörige des Königshauses und des Adels tragen durften – sowie ballenweise Seidenstoffe von Lieferanten in Florenz und bezahlte für die Kleider der Höflinge, ihrer Ehefrauen und Töchter. Franz stand ihm in Hinblick auf die Ausgaben kaum nach. Wolsey tat Ähnliches für die Angehörigen seines eigenen Haushalts und ließ für seinen Kämmerer Richard Page eine «große Kette» aus Gold anfertigen.[6]
Für Anne sollte die Veranstaltung zu einem Familientreffen werden. Neben ihren Eltern nahm auch ihre Schwester Mary daran teil und wahrscheinlich auch ihr Bruder George, obwohl sein Name nicht auf Wolseys ursprünglichen Listen auftauchte. Mary hatte jetzt einen Ehemann. Am 4. Februar 1520, zwei Wochen bevor Anne in Cognac angekommen war, hatte sie in einer Zeremonie in Greenwich mit dem König als Ehrengast den zwanzig Jahre alten William Carey geheiratet, einen entfernten Cousin Heinrichs und aufstrebenden Höfling mit glänzenden Aussichten.[7] Die Frischvermählten bekamen Wohnräume ganz in der Nähe der Privatgemächer des Königs zugewiesen.[8]
In den Augen von Heinrich und Franz sollte dieser Gipfel die europäischen Angelegenheiten für eine Generation neu ausrichten, wobei sie ihr Treffen als den Höhepunkt begriffen. Wenigstens 3000 Adlige und Höflinge sollten jeden von ihnen begleiten, dazu noch einmal etwa 2500 im Gefolge ihres Hochadels. Kaum weniger als 2000 Frauen sollten sich ihnen anschließen, da Katharina und Claude für wichtige Rollen beim Austausch gastfreundlicher Gesten vorgesehen waren. Heinrich sollte von Claude und Franz von Katharina empfangen werden. Claude sollte den königlichen Vorsitz bei Banketten zu Ehren Heinrichs führen und auf dem Ehrenplatz zu Katharinas Rechten in der Loge auf dem Turnierplatz sitzen, wenn das Lanzenstechen begann. Obwohl sie im siebten Monat schwanger war, musste sie unbedingt dabei sein, selbst als es Bindfäden regnete.[9]
Doch bevor er auch nur in Calais ankam, trieb Heinrich schon ein doppeltes Spiel mit Franz. Von Katharina ermutigt, die ihren Neffen Karl gern persönlich kennenlernen wollte, organisierte er ein Treffen mit dem neuen Kaiser, der gerade mit einer Flotte von sechzig Schiffen vom spanischen Galizien aus nach Flandern segelte und die Gelegenheit nutzte, um vor der Hafenstadt Hythe nahe Dover vor Anker zu gehen.[10]
Am 26. Mai hieß Wolsey Karl an Land willkommen und geleitete ihn nach dem Abendessen in eine elegante Wohnung, die man in Dover Castle für ihn vorbereitet hatte. Früh am nächsten Morgen, dem Pfingstsonntag, kam Heinrich nach Dover und begrüßte Karl auf der Burgtreppe mit Küssen. Dann ritten die beiden Monarchen nebeneinander zur Kathedrale von Canterbury, wo sie den Schrein des ermordeten Erzbischofs Thomas Becket in der Trinity Chapel hinter dem Hochaltar aufsuchten und eine Reliquie des Wahren Kreuzes küssten, vom Chor mit dem Kirchenlied Veni Creator Spiritus («Komm, Schöpfer Geist») begleitet. Dann zogen sie sich zu einem späten Frühstück in den Palast des Erzbischofs zurück.[11]
Katharina war von Anfang an dagegen gewesen, ihre einzige Tochter nach Frankreich zu verheiraten. Begeistert von der Aussicht, ihren Neffen und ihren Ehemann zusammenzubringen, reizte sie ihr Blatt jetzt voll aus. In ihren Augen war eine Freundschaft mit Frankreich ja schön und gut, eine Freundschaft mit ihrem Heimatland Spanien aber war etwas ganz anderes: Eine Rückkehr zu einem englisch-spanischen Bündnis würde all das wieder aufleben lassen, was sie in England hatte fördern wollen.
Unter den besorgten Blicken von Annes Vater, der sich ebenfalls in Canterbury aufhielt und fürchtete, was sich dort anbahnte, speisten und tanzten die königlichen Gäste mit ihren Gastgebern, während sie zwischendurch immer wieder Sondierungsgespräche führten. Früh am Morgen des 31. Mai verabschiedete sich Karl und bestieg wieder sein Schiff nach Flandern. Noch am selben Tag segelten Heinrich, Katharina und ihre Gefolge einschließlich der Boleyns von Dover nach Calais zum Gipfel mit Franz, der über Heinrichs Umtriebe voll im Bilde war, dies aber lieber nicht öffentlich machte.[12]
Trotz des ganzen Pomps und Aufwands war dem Gipfel kein großer Erfolg beschieden. Er dauerte vom 4. bis zum 24. Juni und begann, als Heinrich mit Wolsey an seiner Seite in den Hof seines provisorischen Palastes einritt. Das wichtigste Ereignis, das Treffen der beiden Monarchen, fand am 7. Juni im sogenannten «goldenen Tal» statt, das die Grenzstädte Guînes und Ardres miteinander verband. Ein von der Burg von Guînes aus abgegebener Schuss, schnell gefolgt von einem weiteren aus Ardres, gab das Signal, dass die beiden Monarchen vorrücken sollten.[13] Als sie in Sichtweite waren, gaben die beiden Könige, gekleidet in mit Diamanten und Rubinen besetzten Silber- und Goldbrokat, ihren Pferden die Sporen; dann lüfteten sie zu sorgfältig orchestriertem Beifall die Hüte, umarmten sich dreimal, saßen ab, wiederholten die Umarmungen, bevor sie Arm in Arm auf ein Zelt aus Goldbrokat zusteuerten, wohin ihnen nur Wolsey und Admiral Bonnivet, Franz’ Vertrauter, folgen durften.[14] Niemand wusste genau, was sie dort etwa eine Stunde lang miteinander beredeten, doch falls sie überhaupt zu Übereinkünften kamen, sollten diese nicht lange halten.[15]
Dem Treffen schloss sich das elftägige Turnier an. Als die Trompeten erklangen, um alle auf den Turnierplatz zu rufen, traten auch beide Könige an, doch um ihre Verbundenheit zu betonen, führten sie gemeinsam die Gruppe der Herausforderer an, die gegen etwa zweihundert Verteidiger kämpften. Unter den englischen Teilnehmern waren verschiedene Angehörige des engsten Kreises um Heinrich: Mary Boleyns frisch angetrauter Ehemann William Carey; Francis Bryan und Nicholas Carew, beide inzwischen wieder rehabilitiert; außerdem Henry Norris, der zunehmend eine Schlüsselrolle einnahm. Anders als die Legende erzählt, kämpften die beiden Könige nicht zu Pferde gegeneinander, sondern trugen einen spontanen Ringkampf aus. Heinrich fing damit an, wurde aber gedemütigt, als Franz ihn mit einem klassischen Manöver, dem «bretonischen Wurf», zu Boden brachte.[16]
Claude und Katharina führten gemeinsam den Vorsitz beim Turnier, sie saßen auf ihren Thronen in einem reich geschmückten Pavillon. Beide kamen in zeremoniellen Pferdesänften auf den Turnierplatz: Claudes war mit einem Silbertuch mit goldenen Quasten überzogen, und hinter ihr ritten ihre demoiselles auf Zeltern. Als ladies of the tournament standen die Königinnen im Zentrum der ritterlichen Rituale. Sie grüßten einander mit aller formellen Höflichkeit, bevor ihnen die Wettkämpfer vorgestellt wurden. Am letzten Tag überreichten sie die Preise, darunter einen großen Diamanten und einen Rubin, jeweils in einen Ring eingesetzt, einem triumphierenden Heinrich.[17]
Anne schaute an der Seite der Turnierschranken zu. Vielleicht nahm sie auch an den aufwändigen Banketten teil, die Claude am 10. und 17. Juni für Heinrich gab – der Speisesaal war ganz mit Goldbrokat ausgeschlagen, den Claudes Markenzeichen, die cordelières, zierten. Ebenso wahrscheinlich ist aber auch, dass sie sich jenen Damen in Claudes Gefolge anschloss, die an denselben Tagen Franz begleiteten, um mit Katharina zu speisen.[18]
Ausdrücklich erwähnten Gesandte, wie elegant die Französinnen im Vergleich zu den Engländerinnen gekleidet waren. Katharina trug zum Beispiel beim Turnier eine altmodische, klobige englische Giebelhaube (manche verwechselten sie mit einer spanischen Kopfbedeckung), die so hieß, weil sie in der Mitte oben spitz zulief. Claudes Damen dagegen kleideten sich nach der neuesten Mode. Laut dem Gesandten Mantuas in Frankreich sahen sie «besser und schöner» aus (le francese erano meglio et più belle). Als Kopfbedeckung wählten sie zierlich gearbeitete französische Hauben, die aus einer eng anliegenden Kappe mit juwelenbesetzten Bändern und goldenen oder bestickten Bordüren bestanden. Sie bedeckten den Haaransatz der Trägerin nicht, der üblicherweise einen Mittelscheitel aufwies. Solche Hauben waren in England noch selten, wenn auch nicht unbekannt. Heinrichs jüngere Schwester Mary trug sie, nachdem sie Duchess of Suffolk geworden war, und Katharina kaufte eine für ihre kleine Tochter, um ihre Verlobung mit dem Dauphin anzuzeigen. Es ist also falsch, dass Anne, wie oft behauptet wird, die französischen Hauben in England einführte. Allerdings wurden sie zu ihrem Markenzeichen.[19]
Am 25. Juni gingen die Teilnehmer des Gipfels auseinander. Anne kehrte mit den übrigen Damen in Claudes Gefolge nach Saint-Germain-en-Laye zurück, wo Claude sechs Wochen später ihre Tochter Madeleine zur Welt brachte. Heinrich reiste mit Katharina zu einem weiteren Treffen mit Karl, diesmal auf dessen Territorium. Um ihre Gespräche etwas offener zu gestalten, lud Karl auch Margarete von Österreich ein. Nachdem er Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Spanien geworden war, hatte er sie wieder als Regentin der Niederlande eingesetzt.[20]
Am 10. Juli begab sich Heinrich in Begleitung von Wolsey, den Herzögen von Buckingham und Suffolk und etwa dreihundert Höflingen und Gefolgsleuten, darunter auch Annes Vater, nach Gravelines, das etwa dreißig Kilometer westlich von Calais und ganz am Rand von Karls Herrschaftsgebiet lag. Der Kaiser sollte die Engländer unterwegs treffen und sie in die Stadt geleiten, wo sie ein «politisches Gespräch» führen wollten, ein abochamento, wie der venezianische Botschafter es nannte. Zwei Tage später war es dann an Heinrich, die Einladung in Calais zu erwidern, wo die schönsten Bauten, die Staple Hall der Company of Merchants of the Staple (Handelskompagnie der Wollhändler) am Marktplatz und das Schatzamt nahe der Hauptstraße, mit königlichen Gemächern inklusive Galerie, Tennisplatz und Gärten in vorauseilendem Gehorsam luxuriös hergerichtet worden waren.
Nicht alles lief nach Plan. Das Dach eines provisorischen großen Theaters, in dem spektakuläre Vergnügungen aufgeführt werden sollten, wurde sehr zum Ärger seines Architekten in einem Sturm davongetragen. Dennoch fanden mehrere Bankette statt und Heinrich schlemmte und tanzte nach Herzenslust. Die Gespräche selbst endeten ergebnislos, ähnlich wie die mit Franz. Heinrich und Karl sprachen lange unter vier Augen, «wobei der König von England dem Kaiser fast ins Ohr flüsterte». Dann «umarmten sie einander sehr liebevoll, ihre Hüte in den Händen», und gingen ihrer Wege.
Heinrich war zu Katharinas Enttäuschung noch nicht ganz bereit, sich an den Kaiser zu binden. Das war ein Rückschlag für Karl, dessen Pläne weniger mit der Wiederherstellung eines englisch-spanischen Bündnisses zu tun hatten als damit, Heinrich in einen Krieg gegen Frankreich hineinzuziehen.[21]
Könnte es sein, dass Annes Vater diesen Krieg schon am Horizont aufziehen sah und seine Tochter am Camp du Drap d’Or warnte, sie müsse womöglich bald nach Hause zurückkehren? Das ist eher unwahrscheinlich. Erst im Spätherbst des Jahres 1520 sah Franz die Bedrohung, als Karl das ausarbeitete, was er seine «Große Unternehmung» nannte. Sie zielte darauf, die Eroberung Mailands mit der Rückgewinnung des alten Herzogtums Burgund rund um Dijon zu verbinden, das Ludwig XI. annektiert hatte. In Karls Strategie spielten grenzüberschreitende Nachschublinien eine wichtige Rolle: Wenn er Mailand und die alten burgundischen Herrschaftsgebiete kontrollierte, konnte er Soldaten von Cartagena oder Barcelona aus per Schiff nach Genua transportieren und dann durch die Lombardei und Tirol in Deutschland oder durch Burgund in die Niederlande einmarschieren.[22]
Im nächsten Frühjahr musste Franz allerdings erst einmal ganz andere Schläge hinnehmen. Papst Leo verkündete seine Absicht, sich mit Karl zu verbünden, um alle französischen Truppen aus Italien zu vertreiben. Dann kam es in der französischen Garnison in Mailand zu einem schweren Unfall: Ein Munitionslager in der Burg wurde vom Blitz getroffen, was eine gewaltige Explosion auslöste und die Verteidigungsstellungen vernichtete. Karl erkannte seine Chance. Eines seiner Heere griff die Nordostgrenze Frankreichs an und marschierte Richtung Reims; ein anderes belagerte Mailand. Europa stand plötzlich in Flammen.[23]
Im August 1521 bot Wolsey an, zwischen den Rivalen zu vermitteln, und warb Annes Vater sowie Heinrichs neuen Sekretär Thomas More an, mit ihm auf eine Gesandtschaft nach Calais und Brügge zu gehen. Sein Ansatz war überzeugend: Da der Vertrag von London jetzt von den Ereignissen überholt worden war, sollte sich Heinrich zum wichtigsten Vermittler in internationalen Angelegenheiten aufschwingen. Wolsey erklärte ihm das so: «In der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Fürsten wird es für Euer Gnaden wunderbar großen Ruhm und ebensolche Ehre bedeuten, aufgrund Eurer überlegenen Weisheit und Autorität zwischen ihnen beiden zu vermitteln und beide zu unterstützen, sodass Ihr nicht durch ihren Streit und ihre Meinungsverschiedenheiten in den Krieg hineingezogen werdet.»[24]
Dies war zumindest der Ausgangspunkt, doch im Laufe der Mission brachte Wolsey Heinrich dazu, Karl gegen Franz zu unterstützen, wodurch die Kriegsgefahr wieder wuchs. Am 8. September wurde Annes Vater während einer peinlichen Audienz bei Antoine Duprat, dem Kanzler von Frankreich, aufgefordert, doch bitte zu erklären, warum Heinrich sich als Vermittler aufspielte, während er gleichzeitig Schiffe ausrüstete und Truppen musterte. «Mein Herr», so seine schwache Antwort, «repariert seine Schiffe ständig entsprechend der vielen Bedürfnisse, die er hat. Es ist Brauch, solche Dinge zu dieser Jahreszeit zu tun, und was die Musterungen angeht, ist er einfach der Meinung, solche Manöver seien in dieser Jahreszeit üblich.»[25]
Seine nichtssagenden Dementis überzeugten Franz in keiner Weise. Mit dieser Mission büßte Boleyn in den Augen des französischen Königs und dessen Mutter seine Glaubwürdigkeit auf Jahre hin ein. Weitere Erklärungen blieben dem neuen ständigen Botschafter in Frankreich, Heinrichs Schulkameraden Sir William Fitzwilliam, überlassen, der sich kaum besser schlug.[26] Als Karls Truppen dann Mézières vom Osten und Tournai vom Norden her belagerten, ins Pas-de-Calais vorrückten und Ardres den Erdboden gleichmachten, nachdem Franz es auf Bitten Englands hin unverteidigt gelassen hatte, wurde Fitzwilliam von einer wütenden Margarete von Angoulême angegangen: «Seht Ihr nicht», fragte sie vorwurfsvoll, während Luise von Savoyen wohlwollend zuhörte, «wie der Kardinal stets um den Frieden verhandelt, fast bis zum Kampftag? Unsere Feinde greifen uns immer noch unvermittelt an … was sagt Ihr dazu? Und was das Vertrauen angeht, das ist Vergangenheit.»
Als Fitzwilliam kleinlaut antwortete: «Ich versichere Euch, der König, ist kein Heuchler», konterte Margarete, sie nehme ihn beim Wort, doch falls sie sich getäuscht sehe, «werde ich nie mehr einem Menschen trauen». Dann bedrängte sie ihn: «Ich bitte Euch, schreibt, so gut Ihr könnt, und tut dem König, Eurem Herrn, und meinem Herrn Kardinal kund, wie die Engländer [mitschuldig] waren an der Zerstörung von Ardres, und verlangt von ihnen, die Schuldigen zu bestrafen, damit die Menschen sehen, dass sie gegen den Willen Eures Herrn handelten.»[27]
Franz schlug zurück, nahm Fuenterrabía im Baskenland ein, befreite Mézières und versammelte ein großes Heer in Reims, mit dem er Karl entgegentreten wollte. Aus Angst, plötzlich auf der Verliererseite zu stehen, schlug Wolsey einen Waffenstillstand vor und schickte Annes Vater zusammen mit dem ebenfalls polyglotten Sir Thomas Docwra zu Karl, dem sie melden sollten, Heinrich sei noch nicht kampfbereit. Doch innerhalb von Wochen hatte sich die Situation schon wieder geändert. Franz’ Versuche, Tournai zu befreien, waren zum Scheitern verurteilt. Und in Italien lief der Krieg gut für Karl. Am 19. November durchbrachen seine Soldaten die Verteidigungsanlagen Mailands und nahmen die Stadt ein. Nur in der Burg verschanzte sich eine kleine französische Besatzung.[28]
Drei Tage später unterzeichnete Wolsey den Geheimvertrag von Brügge, in dem sich England verpflichtete, in den nächsten zwei Jahren auf Karls Seite in einen Krieg gegen Frankreich einzutreten. Vor allem aber sollte Karl seine Cousine Mary, Heinrichs und Katharinas kleine Tochter, heiraten, die gegenwärtig mit dem Dauphin verlobt war. Gerüchte über einen Vertrag dieser Art versetzten die englische Gemeinde von Paris in Panik: Studenten der Universität packten eilig ihre Koffer und verließen ihre Unterkunft. Annes Vater, der sich der Gefahr mehr als bewusst war, befahl einem Kurier, seine Tochter heimzubegleiten.[29]
Den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse dokumentieren die Anweisungen, die Franz seinen Gesandten in den ersten Tagen des Jahres 1522 gab und die von Wolseys Spionen abgefangen wurden. «Die ganze Frage», schrieb der französische König, «ist doch, ob mein guter Bruder [Heinrich] vorhat, seine brüderliche Liebe aufrechtzuerhalten … Was den Verdacht angeht, der, wie er sagt, aufgekommen ist, habe ich in keiner Hinsicht offen oder heimlich gegen die Freundschaft zwischen uns gehandelt.» «Ich bin sicher», fuhr er fort, «dass der Verdacht, … den ich womöglich gegen ihn hege, unbegründet ist; und doch finde ich es sehr seltsam, dass dieser Vertrag von Brügge vor mir geheimgehalten wurde [und] dass die englischen Studenten, die in Paris waren, alle nach Hause zurückgekehrt sind, ebenso die Tochter von Monsieur Boullan.»[30]
Seine Wahrnehmung der Motive des englischen Königs zusammenfassend schloss Franz:
Ich weiß nicht, ob er es schwierig findet, die Freundschaft zu mir wie zu dem designierten Kaiser [d.h. Karl, der rein technisch nur «designiert» war, weil der Papst ihn noch nicht gekrönt hatte] in Anbetracht unserer gegenseitigen Feindschaft aufrechtzuerhalten; doch er muss wählen zwischen Neutralität und einer Erklärung für den einen oder den anderen. Was die Neutralität angeht, würde sie mir nicht missfallen; wenn er sich aber gegen mich ausspricht, würde ich das als ein großes Unrecht betrachten nach all den Vertrautheiten, Eiden und Verträgen zwischen uns.[31]
Anne war vielleicht zu Weihnachten 1521 schon wieder zu Hause. Dann hörte sie bestimmt all die Nachrichten von den «großartigen Feiern» und den «vielen aufwändigen und prächtigen Maskeraden, Einlagen und Banketten», die dieses Jahr in Heinrichs Lieblingspalast in Greenwich stattfanden.[32] Ihre Eltern waren dort, ebenso ihre Schwester Mary und deren Ehemann – und natürlich ihr Bruder George, der erstmals Weihnachten 1514 bei den Vorführungen am Hofe mit seinen Eltern aufgetreten und als königlicher Page im Haushalt geblieben war. Wie so viele der Boleyns sprach auch George fließend Französisch, war vielleicht in Oxford und dann in Paris ausgebildet worden. Es war nicht unüblich für die Söhne aufstrebender Engländer, Vorlesungen am Collège de Calvi (bekannt als die «kleine Sorbonne») zu hören oder bei Privatlehrern in Frankreich zu studieren.[33]
Anne war an jenem Weihnachten nicht zu den Festen des Königs eingeladen, mag dies aber in Anbetracht ihrer engen Verbindungen zu Frankreich auch nicht als großen Verlust empfunden haben. Sie brauchte Zeit, um sich neu zu orientieren, und dazu standen ihr alle Möglichkeiten offen. Ihre Mutter zählte schon seit der frühen Regierungszeit Katharinas zu ihren wichtigsten Hofdamen.[34] Annes Vater stand zwar Luise von Savoyen und Margarete von Angoulême nahe, hatte sich aber geschickt zurückgehalten, als der Wind sich drehte. In einer deutlich zur Schau getragenen neutralen Funktion war er zwischen den rivalisierenden Verhandlungsgruppen in Calais und Brüggen hin- und hergeeilt, während er gleichzeitig vertrauliche Berichte aus Frankreich an Karl weiterreichte.[35]
In den letzten sieben Jahren war Anne kreuz und quer durch Frankreich gereist und hatte großartige Erfahrungen gemacht. Sie hatte unschätzbar wertvolle persönliche Kontakte geknüpft und gesehen, wie die Welt funktionierte, wenn sie von Männern regiert wurde, aber auch, dass bemerkenswerte Frauen wie Claude, Luise und Margarete auf ihre je eigene Weise Macht und Einfluss ausüben konnten. Es war eine Ausbildung, die weit über alles hinausging, was konventionelle Lehrer je hätten bieten können. Doch wo lag ihre Zukunft?