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Anne verliebt sich

Am Montag, dem 26. Mai 1522, standen Wolsey und ein Gefolge von dreihundert Mann am Strand von Dover bereit, um Karl zu begrüßen, der zu einem Staatsbesuch anreisen sollte. Sobald der zweiundzwanzig Jahre alte Kaiser englischen Boden betreten hatte, umarmte Wolsey ihn und führte ihn den Pfad hinauf zur Burg, von wo die Kanonen einen betäubenden Salut feuerten. Karl war noch in Siegerlaune. Fast genau einen Monat zuvor hatte sein italienisches Heer Franz’ Truppen in der Schlacht von Bicocca besiegt, was ihm schließlich die Kontrolle über das Herzogtum Mailand und große Teile der Lombardei einbrachte. Nachdem Heinrich, der sich in Canterbury bereitgehalten hatte, angekommen war, nahm er Karl mit auf sein Flaggschiff, die Henry Grace à Dieu, und sie segelten davon, um seine Kanalflotte zu inspizieren, die in der Nähe vor Anker lag.[1]

Nach einem offiziellen Empfang in Canterbury ritten Karl und Heinrich gemächlich nach Gravesend, von wo aus dreißig Barken sie auf der Themse zum Palast in Greenwich brachten. Dort wollten sie den Geheimvertrag unterzeichnen, den Wolsey in Brügge ausgehandelt hatte: Heinrich würde Karl im Krieg gegen Frankreich beistehen, und Karl würde seine Cousine, Prinzessin Mary, heiraten, sobald sie zwölf Jahre alt war.[2] Um Heinrichs guten Willen zu dokumentieren, wurde Mary, jetzt sechs Jahre alt, aus ihrem Kinderzimmer geholt und bekam eine goldene Brosche mit dem Namen ihres Cousins in Edelsteinen überreicht, die sie auf der Brust tragen sollte. In Vorbereitung auf Karls Besuch hatte man dem kleinen Mädchen eingeredet, es sei in ihn verliebt. Heinrich gab zur Erinnerung an das Treffen ein Miniaturporträt seiner Tochter mit Brosche bei dem eingewanderten flämischen Künstler Lucas Horenbout in Auftrag.[3]

In Greenwich empfingen Katharina und Mary den Kaiser an den Toren der großen Halle. Laut Edward Hall bat Karl «um den Segen der Königin, denn dies ist der Brauch Spaniens zwischen der Tante und dem Neffen».[4] Den Turnieren und sonstigen Sportveranstaltungen, die in den nächsten zwei Tagen stattfanden, schauten Karl und Katharina von einer Galerie aus zu, und abends unterhielt die Königin ihren Neffen mit einem Bankett und einem Maskenspiel. Karl entspannte sich allmählich und genoss die Zeit. Am letzten Tag legte er «schwere Kleidung» an und folgte Heinrich auf den Turnierplatz, «sodass alle Männer große Freude hatten, ihn zu sehen». Katharina beobachtete mit Vergnügen, wie die beiden wichtigsten Männer in ihrem Leben ihre Verwandtschaft und ihr Bündnis feierten.[5]

Katharina und Mary blieben in Greenwich, als Karl und Heinrich am 6. Juni nach London in den Bridewell Palace umzogen, wo – wie eine Mappe mit Holzschnitten aus der Zeit zwischen 1561 und 1566 eindeutig zeigt – die Galerie mit den königlichen Gemächern direkt auf die Themse hinausging.[6] Heinrich hatte sie zwar eigens für diesen Anlass renovieren lassen, doch sie erwies sich als zu klein, und Karl bezog das benachbarte Dominikanerkloster Blackfriars. Die beiden Monarchen schlossen sich gleich gekleidet und nebeneinander reitend einem Triumphzug durch die Stadt an.[7]

Zwei Tage später, am Pfingstsonntag, feierte Wolsey in St Paul’s ein besonderes Hochamt im Beisein der beiden Könige. Heinrich und Karl reisten dann per Schiff nach Hampton Court und weiter nach Windsor Castle, wo am Abend des 15. Juni ein langes, angeblich langweiliges Spiel «der Liebe und des Friedens» für die Besucher auf die Bühne gebracht wurde – vermutlich eine Farce, die sich über Frankreich lustig machte. Franz glich darin einem «wilden und widerspenstigen Pferd, das nur Karl und Heinrich bändigen konnten».[8]

Am nächsten Tag schlossen Karl und Heinrich ein allgemeines Angriffs- und Verteidigungsbündnis. Zu dem Zeitpunkt hatte Heinrich schon einen Boten ausgesandt, der Franz in Lyon antraf und ihm eine Kriegserklärung überreichte.[9] Am 20. Juni beschworen Karl und Heinrich ihren Vertrag vor dem Altar der St George’s Chapel in Windsor – unter Androhung des Kirchenbanns, falls eine Seite ihren Verpflichtungen nicht nachkam –, und es wurde ein Te Deum gesungen. Annes Vater bezeugte den Vertrag in seiner Eigenschaft als Schatzmeister des königlichen Haushalts.[10] Und schließlich unterzeichneten die beiden Monarchen einen Nebenvertrag, in dem sie ihre Große Unternehmung um ein Jahr verschoben, um beiden Seiten mehr Zeit für die Vorbereitungen zu geben. Dann zeigte Heinrich Karl in Winchester König Artus’ Tafelrunde, genau wie seinem Vater, Philipp dem Schönen, zwanzig Jahre zuvor.[11]

Wohl etwa um diese Zeit lernte Anne Boleyn den ältesten Sohn des Earl of Northumberland kennen, den jungen Henry (oder Harry) Percy, der bei Wolsey in Diensten stand. In seinem Haushalt mit etwa 450 Menschen fand der große Kardinal immer Platz für neun oder zehn junge Herren, die ihm als Pagen dienten. Percy war einer von ihnen. Und wie Cavendish erklärt, tändelte er, während er am Hofe oder in dessen Umfeld zu tun hatte, mit Katharinas Jungfern, zu denen auch Anne gehörte. Die beiden waren etwa im selben Alter (Percys Geburtsdatum ist nicht überliefert, kann aber nicht nach 1502 liegen) und verliebten sich heftig ineinander: «Es erwuchs eine so große heimliche Liebe zwischen ihnen, dass sie sich schließlich einander versprachen und heiraten wollten.»[12]

Als Erbe eines beachtlichen Vermögens und riesiger englischer Ländereien wäre Percy eine großartige Partie für Anne gewesen. Offenbar eine allzu gute, denn ungeachtet des sozialen Aufstiegs, den die Boleyns geschafft hatten, seit Annes Urgroßvater als Lord Mayor von London kandidiert hatte, trennte sie ein tiefer gesellschaftlicher Graben von den Percys, einer der mächtigsten Familien des Landes.[13]

Als die Neuigkeit die Runde machte, was mangels Privatsphäre an Fürstenhöfen gar nicht zu vermeiden war, rief Wolsey Percy in York Place zu sich und las ihm in Hörweite seiner Bediensteten, zu denen auch Cavendish gehörte, die Leviten. «Ich wundere mich nicht wenig», so sagte er angeblich, «über Eure üble Eselei, dass Ihr Euch von einem dummen Mädchen drüben am Hofe, ich meine Anne Boleyn, einwickeln lasst und Euch versprecht. Bedenkt ihr nicht den Stand, zu dem Gott Euch in dieser Welt berufen hat?»[14]

Auf Wolseys Vorwurf hin brach Percy zuerst in Tränen aus, nahm dann seinen Mut zusammen und antwortete: «Ich dachte, ich sei im richtigen Alter, und fand mich in der Lage, mir eine passende Ehefrau zu suchen, wie es mir gefiel … und obschon sie eine einfache Jungfer sein und nur einen Ritter zum Vater haben mag, ist sie doch von recht adliger Abstammung.» Hier verwies Percy ausdrücklich auf Annes Großvater mütterlicherseits, den Sieger von Flodden, und den verstorbenen Earl of Ormond.[15]

Wolsey hatte keine gute Meinung von Percy, und das nicht nur wegen seiner Partnerwahl, sondern vor allem wegen seiner Verschwendungssucht. Obwohl seine Familie über Bruttopachteinnahmen von annähernd 5000 Pfund im Jahr verfügte und sein Vater ihm bei seinem Tod nur insgesamt 1761 Pfund Schulden hinterlassen hatte, stand Harry mit dreißig Jahren bei dem Bankier Antonio Buonvisi aus Lucca, der die Londoner Filiale seiner Familienbank leitete, mit mehr als 8000 Pfund in der Kreide.[16] Er ist als schwacher und launenhafter Mensch in die Geschichte eingegangen, doch an seiner Liebe zu Anne hielt er lange fest. Auf den Befehl Wolseys, seine Verlobung zu lösen, antwortete er: «In dieser Angelegenheit bin ich vor so vielen würdigen Zeugen so weit gegangen, dass ich nicht weiß, wie ich mich dem entziehen oder mein Gewissen entlasten könnte.»[17] Wenn er das wirklich gesagt haben sollte, war er wohl in einer Art «Vorvertrag» mit Anne verlobt, den die Kirchrechtler eine Trauung de futuro nannten. Percy hätte dann gesagt: «Ich will dich zu meiner Ehefrau nehmen», und Anne hätte geantwortet: «Ich will dich zu meinem Ehemann nehmen». Wenn beide – wie Anne und Percy – im heiratsfähigen Alter waren, galt solch ein Austausch von Gelübden als bindend.[18]

Wolseys regte sich furchtbar auf und zitierte Percys Vater herbei, damit der sein Veto gegen die Verbindung einlegte. Der genaue Ablauf ist unklar: Der Earl könnte schon im Sommer oder Herbst 1522 oder sogar erst im Juni 1523 in York Place erschienen sein. Seine Beziehung zu seinem Sohn, den auch er für einen Verschwender hielt, war schon vorher nicht die beste und sollte noch schlechter werden. Schon seit mindestens 1516 hatte er für ihn eine arrangierte Ehe mit Mary Talbot, der Tochter des Earl of Shrewsbury, geplant. Dem stand nur im Wege, dass Shrewsbury hoch verschuldet war und sich deshalb die Mitgift nicht leisten konnte, die normalerweise mit einer solchen Ehe einherging.[19]

Sobald Percys Vater eintraf, änderte sich das Bild.[20] Es war nicht so sehr Wolsey als vielmehr Heinrich, der sich dem Werben des jungen Harry entgegenstemmte – das sagt jedenfalls Cavendish. Der König, der die Boleyn-Schwestern durch seine Affäre mit Mary sehr viel besser kennengelernt hatte, plante schon, so erklärt Cavendish, selbst um Anne zu werben. Aber stimmt das? Um diese Frage dreht sich ein uralter Streit – das Problem ist Cavendishs Chronologie. Beweise für Heinrichs Interesse an Anne finden sich nicht vor den Wintermonaten der Jahreswende 1525/26. Alles Frühere beruht allein auf Cavendishs Erinnerung.

Jedenfalls bearbeiteten Wolsey und der Earl of Northumberland Harry Percy gemeinsam so lange, bis er mit Anne brach und Mary Talbot heiratete, wobei die Hochzeit nicht allzu schnell stattfand. Die Verhandlungen zogen sich über den Herbst und Winter des Jahres 1523 hin: Die Zeremonie wurde für Neujahr geplant, doch eine handschriftliche finanzielle Übereinkunft, die Percy mit seinem Schneider traf, belegt, dass er noch im März 1525 unverheiratet war.[21] Wahrscheinlich wurde erst im August 1525 geheiratet, als der Earl sich gezwungen sah, die außergewöhnliche Summe von 500 Mark (heute fast 400.000 Euro) zu borgen, um einen großen Anlass, vermutlich die Hochzeitsfeierlichkeiten, zu finanzieren. Die Ehe hielt gerade einmal vier Jahre, dann trennte sich das Paar. Percy hasste seine Ehefrau so sehr, dass er sich weigerte, sie oder ihre Bediensteten mit angemessenen finanziellen Mitteln auszustatten.[22] Wolseys Einwände gegen Percys Werben um Anne hatten ihren Grund, so Cavendish, in des Königs Wunsch, «sie lieber einem anderen Mann zu geben, für den der König sich schon bemüht hatte». Das heißt wohl, dass der König und Wolsey schon jemanden für sie im Blick hatten.[23] Cavendish, der in den fünziger Jahren des 16. Jahrhunderts schrieb, ging davon aus, dass damit Heinrich selbst gemeint war, doch er übersieht dabei das Wiederaufleben von Wolseys früheren Plänen für eine Ehe mit Butler im Winter 1521/22.[24] Damals waren die Reformen des Earl of Surrey in Irland gescheitert und er bat darum, zurückbeordert zu werden, woraufhin Heinrich und Wolsey die irischen Angelegenheiten zu befrieden versuchten, indem sie sich die Butlers gewogen hielten. Dabei lockten sie sie mit der Aussicht, die Ländereien der Ormonds zurückzubekommen, wenn James Butler Anne heiratete. Solange sie daran arbeiteten, musste Anne unverheiratet bleiben.[25]

Ziemlich brutal zwang Wolsey Percy, Annes Gesellschaft zu meiden. Und um sicherzugehen, dass sie sich wirklich nicht sahen, ließ er Anne nach Hever aufs Land verbannen, «wieder heimgeschickt zu ihrem Vater für eine Saison, worüber sie vor Wut kochte». Wenn man Cavendish glauben darf, tobte und wütete sie und sagte, «wenn es je in ihrer Macht liege, werde sie dem Kardinal viel Missvergnügen bereiten».[26]

Annes Rückzug fiel mit der Heimkehr ihres Vaters von einer weiteren Gesandtschaft, diesmal nach Spanien, zusammen. Heinrich hatte ihm geheime Anweisungen gegeben, herauszubekommen, was die spanischen Untertanen von Karl hielten, ob sie seine Pläne für die Große Unternehmung unterstützten und ob sie ihm ausreichende Gelder zur Verfügung stellen würden, um diese durchzuführen. Boleyn sollte auch verschlüsselt, da es sich um eine wichtige Angelegenheit handelte, berichten, wie ernst Karl die Offerten aus Portugal nahm, seine Verlobung mit Prinzessin Mary zu lösen und stattdessen seine Cousine ersten Grades, die Infantin Isabella, Tochter von Manuel I. von Portugal und seiner zweiten Ehefrau Maria von Aragon, zu heiraten. In dieser Partie lag eine überzeugende Logik: Sie stand ihm im Alter näher (sie war nur drei Jahre jünger als er), sprach fließend Spanisch (wobei Karl diese Sprache fast nur in Kastilien sprach und das Französische bevorzugte) und brachte eine Mitgift von 800.000 Dukaten mit.[27]

Thomas Boleyn kam im Mai 1523 nach Hause. Er berichtete, Karl werde Schwierigkeiten haben, genug Steuern für die Große Unternehmung aufzubringen, seine Truppen seien der Aufgabe nicht gewachsen, und trotz seiner vielen schönen Worte könne man ihm bezüglich seiner Verlobung mit Mary wahrscheinlich nicht recht trauen. Dies dämpfte Heinrichs Begeisterung für einen großangelegten Einfall nach Frankreich – bis das Unerwartete geschah.[28] In August lief Charles, Herzog von Bourbon, Connétable von Frankreich und der reichste und mächtigste Adlige des Landes, zu ihnen über. Sein Verrat entsprang einem Konflikt nach dem Tod seiner Frau, auf deren Erbe Luise von Savoyen, ihre Cousine ersten Grades und nächste Blutverwandte, Anspruch erhob. Luises Forderung war unbegründet und konnte nur mithilfe einer willkürlichen und selektiven Deutung der Rechtsurkunden aufrechterhalten werden, doch dies schreckte sie nicht ab.[29]

Da jetzt also Bourbon auf Karls Seite stand, willigte Heinrich ohne Zögern ein, die Große Unternehmung in Gang zu setzen. Während Karl Frankreich von Süden und Bourbon von Osten her angriffen, sollte Heinrich von Norden auf Paris vorrücken, wo er sich als König von Frankreich krönen lassen wollte und die Sieger die Beute unter sich verteilen würden. In Heinrichs Augen war dies eine einmalige Gelegenheit, und bald begann Wolsey, ein Heer von 11.000 Soldaten unter dem Kommando des Duke of Suffolk über den Ärmelkanal zu bringen.[30]

Zu ihrem Entsetzen schlug die Revolte Bourbons fehl und Suffolks Marsch auf Paris endete trotz anfänglich schneller Geländegewinne achtzig Kilometer vor der Hauptstadt in einem schändlichen Misserfolg. Nach dieser doppelten Demütigung schwand Heinrichs Begeisterung für die Große Unternehmung merklich, zumal das Geld knapp wurde. Die letzten Hoffnungen zerschlugen sich, als die Nachricht kam, Karl habe seine Invasionspläne zurückgefahren. Auch er verfügte nicht über genügend Mittel, weil die Cortes Kastiliens darauf bestanden, dass er Isabella heiratete und Spanien zu seinem dauerhaften Hauptsitz machte, und sich bis dahin weigerten, ihm die notwendigen Steuern zu gewähren.[31]

Während das Jahr seinem Ende zuging, schlug Karl vor, er und Heinrich sollten sich stattdessen auf Italien konzentrieren – wobei er erwartete, dass die Engländer diese Aktion finanzierten. Heinrich sprach sich dagegen für einen Plan aus, bei dem Bourbon die Reste von Suffolks Heer verstärken und auf Paris marschieren würde. Nach langwierigen Diskussionen rückte Bourbon in die Provence vor und belagerte Marseille, zog sich dann aber zurück, als seine Soldaten meuterten, weil sie nicht bezahlt wurden. Karl befahl seinen Generälen, die noch vorhandenen französischen Garnisonen aus der Lombardei zu vertreiben, nur um festzustellen, dass Franz seine Mutter als Regentin Frankreichs eingesetzt hatte und zum zweiten Mal über die Alpen gezogen war. In Oktober eroberte er Mailand zurück. Karls Truppen begannen dahinzuschwinden, und Franz zwang die kümmerlichen Reste, sich hinter die Mauern von Pavia zu flüchten, das er dann zu belagern begann.[32]

Zurück in London feierte Anne Weihnachten 1524 mit dem Hof und zählte laut Cavendish wieder zu Katharinas Haushalt, wo sie schon bald «zu großer Wertschätzung und Gunst» aufstieg, während sie noch immer einen «geheimen Unwillen gegenüber dem Kardinal» hegte. Ihr Techtelmechtel mit Percy hatte offenbar bei beiden Liebenden schwere seelische Wunden geschlagen, die nie mehr richtig heilen sollten. Innerlich war Anne jetzt härter geworden: Mit ihren etwa dreiundzwanzig Jahren hatte die Erfahrung mit Percy sie vollends erwachsen werden lassen.[33]

Das große Ereignis der Festtage sollte ein gewaltiges Heldenschauspiel werden, das spektakulärste dieser Regierung und das letzte dieser Größe. Ende Oktober begann eine Gruppe jüngerer Höflinge mit den Vorbereitungen. Heinrich, begeistert von ihrem Plan, beauftragte Richard Gibson, den Master of the Revels, eine provisorische Festung aus Holz auf dem Turnierplatz in Greenwich zu errichten, mit allen möglichen Türmen und Türmchen nach ihren genauen Vorgaben. Geschützt von einer Zugbrücke, tiefen Gräben und Wällen wurde die Festung mit ihrer Grundfläche von knapp vierzig Quadratmetern und ihrer Höhe von fünfzehn Metern «Burg der Treue» getauft. Auf einem nahen Hügel wachte ein weißes Einhorn aus Pappmaschee, das über ein Drahtgerüst gekleistert und übermalt worden war, über einen Baum der Ritterlichkeit, an dem Rüstungen und Ritterschilde hingen. Dass man Harry Percy erst erlaubt hatte, unter denen zu sein, «die die Burg angreifen werden», und diese Erlaubnis dann zurückzog, lässt vermuten, dass Anne anwesend war.[34]

Am 21. Dezember verkündete ein Bote in Katharinas Gemächern, Heinrich habe die Burg vier «Jungfrauen» ihres Hofes anvertraut. Da sie keine Ehemänner hätten, seien sie schwach und schutzlos, weshalb ein Hauptmann und fünfzehn adlige Gentlemen zu ihrer Rettung geeilt seien. Ein Schauspieler, der einen Herold spielte, erklärte deren Aufgabe, die darin bestand, die Burg «gegen alle, die da kommen», zu verteidigen. Es sollte verschiedene Arten von Kämpfen geben, die in einem Generalangriff auf die Burg kulminierten.

Am 29. Dezember ritten zwei Jungen, verkleidet als Damen, auf Zeltern auf den Turnierplatz. Sie führten zwei «alte Ritter mit Bärten von Silber», die Katharina um die Erlaubnis baten, den Herausforderern entgegenzutreten. Als sie einwilligte, warfen diese Ritter ihre Verkleidungen ab und offenbarten sich als Heinrich und sein Schwager, der Duke of Suffolk. Dicht hinter ihnen standen Francis Bryan, Nicholas Carew und Henry Norris mit «fünf anderen», zu denen sehr wahrscheinlich auch Annes Bruder George gehörte.[35]

Sobald die Herausforderung «beantwortet» worden war, konnten die Kämpfe beginnen. Heinrich warf sich mit aller Kraft in den Wettstreit und überraschte alle damit, dass er am ersten Tag sieben Lanzen brach. Danach gab er sich bis zum letzten Tag weitgehend damit zufrieden, die Kämpfe als Zuschauer zu verfolgen und andere die schwere Arbeit tun zu lassen.[36] Die Gefechte dauerten bis zum 8. Februar, als Heinrich in den Kampf zurückkehrte und im Turnier gegen Anthony Browne antrat, wobei er seine ganze Kraft in den Angriff legte und sein Schwert beinahe den Nackenschutz seines Gegners durchtrennt hätte, weil «seine Hiebe so großartig waren».[37]

Wer waren die vier Jungfrauen in der Burg? Anne, da sind sich alle einig, war eine von ihnen.[38] Eine weitere könnte Jane Parker gewesen sein, für deren bevorstehende Heirat mit George Boleyn nur drei Wochen, bevor die Pläne für die «Burg der Treue» verkündet wurden, ein Ehevertrag aufgesetzt worden war.[39] Zu den anderen Kandidatinnen zählt Elizabeth Darrell, eine Zofe in Katharinas Diensten. Aber auch die Teilnehmerinnen des Château-Vert-Maskenspiel zwei Jahre zuvor, die bisher noch nicht geheiratet hatten, könnten mit von der Partie gewesen sein, was auch hier Anne und Jane wieder an die Spitze der Liste bringt.[40]

Einer der wichtigsten Impresarios dieser Festivitäten war der zwanzig Jahre alte Thomas Wyatt, Sohn von Sir Henry Wyatt von Allington Castle. Mit seinem Vollbart, seiner hohen Stirn und seinen forschenden blaugrauen Augen war er der beeindruckendste unter Heinrichs Heißspornen. Als Liebhaber alles Italienischen, der bei seinem Tod von Freunden zum englischen Petrarca ausgerufen wurde, gab er einen idealen Hofmann ab: geistreich und gewinnend, unglaublich charmant, ein sprachgewandter Diplomat, ein Sportsmann und der wohl beste lyrische Dichter zwischen Chaucer und Shakespeare, selbst wenn seine Gedichte zu seinen Lebzeiten nur als Handschriften kursierten.

Wyatt war etwa im selben Alter wie Annes Bruder, der seine Interessen und einige seiner poetischen Fähigkeiten teilte. Als Anne nach Mechelen ging, war er erst neun Jahre alt, doch die Boleyns und die Wyatts pflegten ihre Bekanntschaft, und Allington Castle lag gerade einmal dreißig Kilometer von Hever entfernt. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren war Wyatt in eine arrangierte Ehe mit Elizabeth Brooke, der Tochter seines Nachbarn Lord Cobham, gestolpert. Mit dieser Frau, die er immer mehr verabscheute, hatte er zwei Kinder: Thomas, geboren etwa 1521, und Frances. Um 1526 dann beschuldigte Wyatt seine Gemahlin des Ehebruchs und trennte sich von ihr. Mehr als ein Jahrzehnt später weigerte er sich, die Hälfte der Schuld auf sich zu nehmen, und erklärte seinem Sohn: «Der Fehler liegt bei deiner Mutter und bei mir, doch hauptsächlich bei ihr.» Er riet seinem Sohn: «Liebe deine Ehefrau innig und stimme mit ihr überein», doch ihm selbst gelang das nie. Vielmehr schickte er Elizabeth weg und weigerte sich wie Harry Percy, sie zu sehen oder finanziell zu unterstützen. Wohin sie die nächsten zwei Jahrzehnte verschwand, wissen wir nicht, da auch ihre Familie sie verstieß. Was Wyatt anging, so suchte er nach einer Geliebten und gab mit der ihm eigenen Offenheit zu, dass «ich mich nicht zur Keuschheit bekenne, aber immerhin habe ich keine abscheulichen Laster».[41]

Wyatt hatte sich vor dem Herbst 1524 vielleicht hin und wieder zu Besuchen an Heinrichs Hof aufgehalten.[42] Seine ersten königlichen Pflichten erledigte er im Oktober und November 1523, als der ältere Wyatt ihn zweimal mit der enormen Summe von 2000 Pfund in Gold «für die Angelegenheiten des Königs im Norden» nach York schickte.[43] Dann machte sein Vater zeitlich parallel zu den Plänen für die «Burg der Treue» eines seiner Ämter, die Position des Sekretärs des Jewel House, für ihn frei.[44] Mit diesem Mann sollte Anne Boleyn ihre nächste Liebesgeschichte anfangen. Wie und wann ihre Beziehung begann und was genau geschah, ist ebenso unsicher und faszinierend wie jedes andere mit Anne verbundene Rätsel. Doch in eine Affäre verwickelt war sie, und die kurze Liaison der beiden ist am leichtesten zu verstehen, wenn sie irgendwann nach den Ereignissen um die «Burg der Treue» herum begann und etwa ein Jahr später endete.