Wieder einmal wählte Heinrich den Fastnachtsdienstag, um den ersten Schritt zu machen. Genau wie bei seinem Werben um Mary Boleyn veranstaltete er zunächst ein Turnier. Damals hatte er am Maskenspiel rund um das Château Vert mit dem Motto «Sie hat meinem Herzen Wunden geschlagen» teilgenommen. Diesmal ritt er mit dem Symbol eines in einer Presse zerquetschten und entflammten Herzens in die Schranken – wieder ein Echo seiner Affäre mit Mary. Sein auf Französisch formuliertes, spielerisches Motto lautete ebenso explizit wie leicht zu leugnen: «Declarer je n’ose», «Ich wage nicht, mich zu erklären.» Am Abend lud er zu einem Bankett, vordergründig für Katharina, bei dem er darauf bestand, seine Ehefrau und, wichtiger noch, ihre Damen – darunter Anne – mit Speisen und Getränken zu bedienen. Damals war es vor allem der Tag, an dem Francis Bryan im Turnier ein Auge verlor. Später erinnerte man sich vor allem an das Bankett. Nachdem er mit der einen Boleyn-Schwester Schluss gemacht hatte, verzehrte sich Heinrich jetzt nach der anderen. Anne hatte ihn verzaubert – er sah sie jetzt mit ganz anderen Augen.[1]
Heinrich war vierunddreißig, Anne etwa fünfundzwanzig Jahre alt, beide also im besten Alter. Heinrich hatte seine Königspflichten mit der Erhebung Fitzroys in den Adelsstand bedacht, doch diese Pflichten spiegelten die Erwartungen seiner Adligen und Höflinge wider, die wussten, dass Katharina jetzt keine Kinder mehr bekommen konnte, und ebenjene Sicherheit forderten, die nur die Aussicht auf eine stabile, männliche Thronfolge bieten konnte. Jetzt waren seine Wünsche in den Vordergrund gerückt, und der wichtigste war sein Verlangen nach Anne.
Zunächst hatte er nur die Absicht, sie zu seiner Geliebten zu machen, und sah keinen Grund, warum sie seinem Charme – und seiner Großzügigkeit – nicht ebenso erliegen sollte wie zuvor bereits ihre Schwester. Er kann nicht mehr gewollt haben als ein sexuelles Abenteuer mit einer leidenschaftlichen Liebhaberin Frankreichs in einem Moment, in dem er entschlossen war, Frankreich zu benutzen, um Karl unter Druck zu setzen. Eine Scheidung von seiner Ehefrau und eine Heirat mit Anne stand damals nicht auf seiner Agenda, doch innerhalb weniger Monate sollte sich das radikal ändern. Genau wie Harry Percy und Thomas Wyatt vor ihm verliebte er sich in sie. Anne sollte die Liebe seines Lebens werden, die einzige Frau, die es wagte, ihm Widerworte zu geben oder ihn auf Fehler hinzuweisen, und damit davonkam. Dennoch, und wohl auch gerade deswegen, liebte er sie bald mit einer Inbrunst und Intensität, die er sonst niemals aufbrachte. Es war, als würde sein Leben gerade ganz neu beginnen.
Heinrich fühlte sich sicher durch vieles zu Anne hingezogen: ihre lebhafte Intelligenz und Schlagfertigkeit, ihre sprachlichen und tänzerischen Fähigkeiten, ihre Selbstsicherheit, ihr Sinn für Mode, ihre unverstellte Lebendigkeit, ihr freier Geist, ihre Fähigkeit, einen Raum zu erhellen. Sie war nie die hübscheste Frau am Hofe, doch jener faszinierende Chic, den sie in ihren sieben Jahren in Frankreich erworben hatte, bezauberte ihn – und ihre dunklen, blitzenden Augen.
So wurde ihre Beziehung jedenfalls immer dargestellt, doch es steckt mehr dahinter. Heinrich stürzte sich auch in diese Beziehung, weil er sich langsam jenem bedeutsamen Datum näherte, an dem er älter wäre als seine Mutter bei ihrem Tode. Auch er selbst, mit anderen Worten, veränderte sich. Er sehnte sich nach etwas Neuem: nach einer faszinierend glamourösen Frau, die ebenso Mitstreiterin wie Gefährtin war, eine Vorzeigefrau als Gemahlin und als Mutter seiner Söhne, aber eine, die seine Brillanz sah und die sich, das war entscheidend, persönlich einbrachte. Er war sich noch nicht völlig sicher, ob Anne diese Frau sein konnte, aber er war einfach hingerissen. Gefangen zwischen Katharinas unfruchtbarer Vertrautheit und Karls Treuebruch hatte er das Gefühl, Anne könne ihm womöglich jene Liebe bieten, die er wollte und brauchte. Er näherte sich ihr, als sei sie ein besonderer Hirsch, den er jagte und bei dem er ein schnelles Ende der Jagd erwartete.
Seine Ungeduld brachte Anne in eine Zwickmühle. Sie war in der Erwartung aus Frankreich zurückgekehrt, in ihrer Heimat einen Ehemann zu finden. Dass sie plötzlich zum Lustobjekt des Königs werden könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Wenn sie dem Beispiel ihrer Schwester folgte, konnte sie erwarten, dass ihre Familie mit Ländereien und Ämtern überschüttet würde, doch es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Schwestern: Mary war während ihrer Beziehung zu Heinrich sicher mit William Carey verheiratet gewesen; Anne war ledig. Sie wollte eine vorteilhafte Partie machen, und die stand auf dem Spiel, falls Heinrichs Zuneigung schwinden sollte. Sie wusste, wie wankelmütig er sein konnte. Als Mary schwanger wurde, hatte er sich schnell von ihr distanziert, und Elizabeth Blount hatte er mit einem reichen Niemand verheiratet, sobald Henry Fitzroy auf der Welt war. Beides sagte Anne nicht zu. Wir wissen nicht, welche Rolle Mary in dieser Phase spielte oder ob ihr Vater mit Blick auf seine Finanzen versuchte, Anne in die Arme des Königs zu treiben. Sie selbst wusste jedenfalls, was sie wollte: Geliebte des Königs zu werden, war ihr zu wenig. Sie weigerte sich, dafür ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen. Wenn er sie unbedingt haben wollte, musste er sie eben heiraten.
Es war ein unglaublich gewagtes Unternehmen, doch als Urenkelin von Lady Anne Hoo war ihr die Geschichte, wie Elizabeth Woodville im Jahr 1464 den Aufmerksamkeiten des liebeskranken Eduard IV. widerstanden hatte, bis er versprach, sie zu heiraten, wohlbekannt. In einer patriarchalen Gesellschaft glich Woodvilles Verhalten einer wahren Heldentat. Ihre Ehe mit Eduard war eine Liebesheirat ohne jeden direkten dynastischen oder politischen Vorteil für den König gewesen. Als Witwe eines einfachen Ritters war sie Königin von England und der wichtigste Mensch nach dem König selbst geworden.
Annes Ambitionen waren geweckt. Im Gefolge von Königin Claude hatte sie aus nächster Nähe gesehen, welchen Einfluss Luise von Savoyen und Margarete von Angoulême ausübten, und sie hatte Margarete von Österreich in Mechelen beobachtet. Jetzt, da eine Beziehung mit Heinrich in Aussicht stand, wurden diese Frauen zu Vorbildern – sie sah eine Gelegenheit, England und der Monarchie ihren Stempel aufzudrücken. Allerdings musste sie ihre Karten klug spielen. Wir sollten uns da nicht vertun. Anne war ganz sicher kein Aschenputtel, das sich Hals über Kopf in seinen Prinzen verliebte. Sie wartete auf den richtigen Augenblick, beobachtete, wie sich die Dinge entwickelten, und überdachte, was sie sich von dieser unerwarteten Wendung des Schicksals erhoffte.
Für Anne musste es bei einer Ehe mit Heinrich um gemeinsame Werte und Partnerschaft gehen, nicht nur um Sex und Geschenke. In den frühen Jahren ihrer Ehe hatte Katharina ihre Zeit als Regentin genossen und versucht, sich als Botschafterin ihres Vaters neu zu erfinden, doch als Wolsey sie verdrängte, gab sie sich mit der langweiligen Häuslichkeit einer englischen Königsgemahlin zufrieden. Anne, sollte sie jemals Königin werden, hatte nicht vor, in dieselbe Falle zu tappen. Sie würde nicht geduldig darauf warten, ob der König geruhte, sie zu besuchen, oder ob man den Diplomaten, die vorsprachen, womöglich ihre Begabung für die Musik, für Schach oder Nadelarbeiten vorführen wollte. Wenn Botschafter am Hofe waren, würde sie neben Heinrich mit ihnen am Verhandlungstisch sitzen oder sie sogar allein empfangen. Wenn sie Lust hatte, mit Heinrich auf die Jagd zu gehen, würde sie mit ihm ausreiten, wenn sie wollte, auch ganz ohne die Begleitung ihrer Damen oder einer größeren Gruppe seiner Kumpane.
Für Anne war es noch immer zu früh, um zu wissen, ob sie Heinrich lieben konnte. Der Funke, der ihre romantische Beziehung zu Harry Percy entzündet hatte, war ganz sicher nicht vorhanden, aber in dieser Welt war Liebe auf den ersten Blick nicht notwendigerweise Bestandteil einer Ehe, und durch alles, was ihre Familie ihr über gute Partien beigebracht hatte, war sie sicher überzeugt, dass sie ihn mit der Zeit würde lieben können. Sie musste sich nur zuerst einmal seiner sicher sein. Ein Schlüsselelement seiner Psychologie hatte sie schon erfasst: Wenn sie ihre Ziele erreichen wollte, musste sie die eine Sache, nach der es ihm am meisten verlangte, unter ihrer Kontrolle behalten. Dann würde er sie umso mehr lieben. Sie war bereit, Briefe und Liebespfänder mit ihm auszutauschen, doch selbst als sie schon ihre eigenen Wohnungen in seinen Palästen bezogen hatte, weigerte sie sich, mit ihm zu schlafen. Der entscheidende Punkt war, zum richtigen Zeitpunkt nachzugeben. Sie musste sicher sein, dass er es ernst meinte und sie nicht nach einer oder zwei Nächten beiseitegeschoben wurde.
Kaum waren die Turniere am Fastnachtsdienstag vorbei, da fand sich Heinrich schon auf unbekanntem Terrain wieder: Sein Glück, sein Seelenfrieden, seine Zukunft waren der Gnade einer Frau ausgeliefert, die ihre Stärken ausspielte, widersprüchliche Signale sendete, ihn hinhielt, bis sie sich seiner sicher sein konnte. Dass wir Heinrichs Verliebtheit psychologisch so genau beschreiben können, haben wir einem historischen Glücksfall zu verdanken. Bemerkenswerterweise erlauben uns die Quellen einen intimen Zugang zu dieser so überaus persönlichen Phase in Heinrichs Leben: In der Bibliothek des Vatikans liegt eine der wohl außergewöhnlichsten Briefsammlungen, die je ein König verfasst hat.[2]
Dass Heinrich diese siebzehn Briefe überhaupt schrieb, ist schon erstaunlich – immerhin machte eben dieser Herrscher kein Geheimnis daraus, dass «Schreiben für mich etwas Lästiges und Schmerzliches ist». Und auch die Geschichte, wie diese neun auf Französisch und acht auf Englisch verfassten Briefe überliefert wurden, ist absolut ungewöhnlich. Sie wurden Anne nicht weggenommen, wie es üblich war, wenn man jemanden des Verrats verdächtigte; selbst als Heinrichs Leidenschaft sich in einen so böswilligen Hass verwandelte, dass er Anne einfach nur loswerden wollte, gelang es ihm nicht, die Briefe je wieder in seinen Besitz zu bekommen. Ganz offenbar entschied sich Anne, die Briefe zu behalten, also müssen sie vor ihrer Haft verschwunden sein. Die gängige und wohl auch richtige Erklärung lautet, dass eine von Katharinas Unterstützerinnen sie aus einer Geheimschublade in Annes Schrank stahl und als Beweise in Heinrichs Scheidungsprozess außer Landes schmuggelte. Doch Rom war nicht das Ende ihrer Reise, denn als die Heere Napoleon Bonapartes 1797 durch Italien zogen, zählten fünfzehn von ihnen zu den Papieren, die geraubt und nach Paris geschickt wurden, wo französische Gelehrte sich mit ihnen befassten und sie transkribierten. Dort blieben sie bis zur Niederlage des Kaisers bei Waterloo. Dann wurden sie dem Vatikan zurückgegeben.[3]
In diesen Briefen enthüllt Heinrich seine innersten Gefühle für Anne auf eine Art, die ihn praktisch nackt dastehen lässt. Für ihn ist sie «mein eigener Liebling», sein «guter Schatz», «die eine Frau auf der Welt, die ich am höchsten schätze». Ihre längere Abwesenheit ist «fast unerträglich». Mit den bekannten bildlichen Ausdrücken der Minneliteratur nennt er sie seine «Herrin» und sich selbst ihren «treuen Diener»; er schilt sie sanft, weil sie ihm nicht wie versprochen geschrieben hat, «obwohl Ihr, meine Geliebte, nicht geruhtet, Euch an das Versprechen zu erinnern, das Ihr mir bei unserer letzten Zusammenkunft gabt – nämlich mir gute Nachricht von Euch zu übermitteln und auf meinen letzten Brief zu antworten». Er macht großes Aufhebens darum, dass er mit eigener Hand schreibt und nicht diktiert – in dieser Angelegenheit, so sagt er, sei er sein eigener Sekretär. Fast alle seine Briefe enden mit einer Erklärung, sie seien «geschrieben von der Hand dessen, der gern der Eure bleiben möchte», oder «von der Hand des Sekretärs, der im Herzen, Körper und Willen Euer treuer und zuverlässigster Diener ist».[4]
Keiner seiner anderen Ehefrauen und, soweit wir wissen, keiner seiner (wenigen) Geliebten hat sich Heinrich so vollkommen ausgeliefert. Seine freimütige Emotionalität, seine Angst, dass seine Gefühle womöglich nicht erwidert werden, sein ständiges Bedürfnis nach Vergewisserung und Bestätigung sind fast liebenswert sichtbar. Es ist eine berauschende und obsessive Liebe. Er hält nichts zurück. Seine Sehnsucht nach Anne in ihrer Abwesenheit klingt manchmal sogar traurig, doch hin und wieder gibt er uns auch kurz den Blick frei auf den anderen Heinrich, der seinen Willen ohne Fragen oder Einwände bekommen muss, einen Mann, der nach Gehorsam sucht und ihn einfordert und seine Ungeduld drohend deutlich macht.
Die Beschäftigung mit diesem faszinierenden Fund stellt den Leser vor zwei Probleme: Annes Briefe an den König sind verloren gegangen (wie auch vielleicht einige seiner Briefe an sie), und nicht einer der Briefe ist datiert. Deshalb ordnen verschiedene Editoren und Historiker sie unterschiedlich an. Allerdings können wir aus Heinrichs Antworten einiges über Annes Stil und ihr Denken herauslesen – es hilft uns, ihren Charakter besser zu verstehen, während sie ihren unbeschreiblichen Zauber wirken lässt. Und verschiedene Briefe enthalten Hinweise oder Erwähnungen zeitgenössischer Ereignisse, sodass Daten und Orte der Abfassung mit einiger Sicherheit zugeschrieben werden können.[5]
Man braucht keine allzu große Vorstellungskraft, um sich ein Bild von Annes ersten Reaktionen auf Heinrichs Avancen zumachen. Der erste erhaltene Brief zeigt, dass sie inzwischen mit ihrer Mutter nach Kent zurückgekehrt ist, um seine Worte zu überdenken, wahrscheinlich nach Hever, vielleicht aber auch nach Penshurst.[6] Auf Französisch, der Sprache der romantischen Literatur, bittet Heinrich um ihre Rückkehr. Mit einer Metapher aus der Astronomie stellt er seine eigene Treue seinen Ängsten in Bezug auf ihre Beständigkeit gegenüber. «Je länger die Tage sind», sagt er, «desto entfernter [also höher] die Sonne – und desto heißer strahlt sie. So ist es auch mit unserer Liebe: Durch Eure Abwesenheit sind wir getrennt, und dennoch behält jene ihre Glut – zumindest auf meiner Seite; von Euch kann ich nur das Gleiche hoffen.» Um seine «Hoffnung auf Eure unverbrüchliche Zuneigung» zu stärken und da er nun einmal nicht persönlich mit ihr zusammen sein kann, schickt er ihr das Nächstbeste: «ein Armband mit meinem Bild und dem Motto, das Ihr bereits kennt». Heinrich hofft, dass sich Anne an ihn erinnert und ihre Bindung zu ihm offen zeigt, wenn er sie überredet, dieses Schmuckstück zu tragen.[7]
Anne zeigt sich durch das Geschenk des Königs ungerührt. Sie entscheidet sich für eine hochriskante Stategie, ignoriert seine Bitte und glaubt, ihr Schweigen werde ihn aus der Reserve locken. Und sie sollte recht behalten. Tatsächlich bittet er sie bald wieder inständig, «gute Nachricht von Euch zu übermitteln und auf meinen letzten Brief zu antworten». Weil er ihr «wirklicher Diener» sein will, fleht er sie an, «mich über Euer Wohlergehen zu informieren». Und um die Dinge voranzutreiben, probiert er eine neue, kühnere Taktik aus. «Damit Ihr mich noch öfter ins Gedächtnis ruft», erklärt er, «schicke ich Euch durch diesen Boten einen Rehbock, den ich gestern abend sehr spät eigenhändig erlegt habe; ich hoffe, dass er, wenn Ihr von ihm esst, Euch an den Jäger erinnern wird.»[8]
Anne hatte sich angeblich in Frankreich zur Feinschmeckerin entwickelt und mochte alle ausgefallenen Fleischarten – doch dieses Geschenk sollte sie, wie keinem Zeitgenossen entgehen konnte, auch daran erinnern, dass der verliebte Heinrich auf eine ganz andere Beute aus war.[9]
Der Brief des Königs war, so sagt er selbst, «geschrieben von der Hand Eures Dieners, der sich sehr oft Euch an Stelle Eures Bruders hier wünscht».[10] George Boleyn war also mit auf Heinrichs Jagdausflug und damit unter den engsten Vertrauten des Königs, was bedeutete, dass die Boleyns an drei Fronten agieren konnten: Anne war mit ihrer Mutter in Kent, ihr Vater pendelte zwischen dort und London, wobei er alle Neuigkeiten einsammelte, und ihr Bruder konnte ständig über Heinrichs Gemütszustand berichten. Konnte Anne deshalb ihre Antworten an den liebeskranken König so genau berechnen? Wir haben es mit einer Familie zu tun, die schon bewiesen hatte, dass sie wusste, wie man als Unternehmen und als politische Kraft zusammenarbeitete.
Dass George hier erwähnt wird, ist auch aus einem anderen Grunde interessant. Im Laufe des Winters 1525/26 erließ Wolsey die Eltham Ordinances, Verordnungen, mit denen er den Hof reformieren und die Zahl und den Einfluss von Heinrichs engsten Bediensteten mit Zutritt zur privy chamber beschränken wollte.[11] William Compton wurde jetzt Unterschatzmeister der Staatskasse; Sir William Kingston, schon Constable of the Tower, wurde zusätzlich zum Captain of the King’s Guard befördert. Henry Norris ersetzte Compton als groom of the stool und Verwalter von Heinrichs privy purse (dem «Privatvermögen» des Königs), während Bryan und Carew wieder aus dem inner circle ausgeschlossen wurden. Wolseys versuchte auch «den jungen Boleyn» (also George) an den Rand zu drängen. Zum Ausgleich bekam er «20 Pfund jährlich über die 80 Pfund hinaus, die er für sich und seine Ehefrau bekommen hat, um davon zu leben, und dazu, dass er einer der Mundschenke sein darf, wenn [der] König auswärts speist».[12] Doch im Nu gehörte George wieder zu Heinrichs engstem Kreis, wie der Brief des Königs belegt – ein Anzeichen dafür, dass der Einfluss des Kardinals allmählich nachließ.
Die Berechnungen der Boleyns gingen allerdings nicht ganz auf. Von den nächsten beiden Briefen aus Heinrichs Feder, beide auf Französisch, schlug einer einen drängenderen Ton an: Der König will endlich wissen, wo er steht, denn er ist in «großer Pein», weil er nicht sicher sein kann, ob ihre Antworten ihm zum «Vorteil» sind oder nicht, da sie hin- und herzuschwanken scheint. Er muss es jetzt wirklich wissen, denn er ist schon «vor mehr als einem Jahr vom Pfeil der Liebe getroffen» worden. Wenn ihre Liebe mehr ist als nur «durchschnittliche Zuneigung» und sie bereit ist, ihm «Leib und Seele» zu geben, also den «Platz einer wahren, treuen Geliebten und Freundin» einzunehmen, wird sie seine «einzige Geliebte» sein, wird er nur Augen für sie haben.[13]
Der andere Brief entfernt sich vom reinen Bitten und versucht einen selbstbewussteren Ansatz. Heinrich macht Anne unzweifelhaft deutlich, dass sie ihm nicht die Bestätigung gegeben hat, nach der er sich sehnt, und dass es so nicht weitergehen kann. Sein Brief zeigt eine unheilverkündende Veränderung des Tons und ist um ein unangenehmes Gerücht herum aufgebaut, das ihn erreicht hat, «da man mir seit meinem Abschied von Euch berichtete, Ihr hättet Eure frühere Meinung jetzt völlig geändert und wolltet nicht an den Hof zurückkehren – weder mit Eurer Mutter (falls möglich) noch auf andere Weise. Sollte diese Nachricht zutreffen, würde mich das sehr verwundern.» «Ich wundere mich» – diese Worte verwendete Heinrich in seinen offiziellen Briefen gewöhnlich, um Untertanen zu tadeln, die ihm seiner Meinung nach nicht gehorchten oder ihn behinderten. Anne wusste sie mit Sicherheit als Warnsignal zu deuten.
Es liege nicht an ihm, dass sie ihn auf Abstand halte, fährt Heinrich fort, da er ihr «in keiner Weise Unrecht getan» habe, und ihre Zurückhaltung erscheine als ein «sehr geringer Lohn für meine große Liebe zu Euch». Er ist offen erstaunt darüber, dass sie nicht so leidet wie er. Dann kommt die Pointe: Sie soll einwilligen, oder er wird sein Werben aufgeben, ungeachtet der großen emotionalen Härte, die das für ihn bedeuten würde. «Bedenkt wohl, meine Geliebte», warnt er sie, «dass mich Eure Abwesenheit sehr schmerzt. Ich hoffe, dass Ihr nicht mit Absicht so handelt. Sollte ich jedoch hören, dass Ihr Euch absichtlich so verhaltet, kann ich nichts anderes tun, als mein Unglück zu beklagen und von meiner großen Vernarrtheit allmählich abzulassen.» Hierin liegt sicher eine nur schwach verhüllte Drohung.[14]
Als Anne diese Zeilen las, wusste sie, dass der Moment der Entscheidung gekommen war. Letztendlich gab sie ihm eine positive Antwort. Sie habe alles abgewogen, so sagte sie, und sei bereit, zurückzukehren. Ihr Brief ist zwar verloren gegangen, doch sein Inhalt ergibt sich aus der Antwort des Königs. Sie muss geschrieben haben, dass er sie besuchen könne, falls er den Wunsch dazu verspüre, doch dies würde «in ihrer Funktion als eine Bedienstete» geschehen. Er würde der «Herr» sein, sie die «Dienerin» – so sei es im wahren Leben, anders als in seinen romantischen Phantasien. Heinrich versuchte einen schwachen Widerspruch, sagte dann aber, er werde sich fügen, falls dies ihr Wunsch sei.[15]
Heinrichs Antwort endet mit einem Kryptogramm. Die Zeichen, aus denen das Rätsel besteht, sind im handschriftlichen Original in der Bibliothek des Vatikan deutlich zu erkennen, doch nur ein Wissenschaftler hat sie richtig abgeschrieben: «v.n. A.1.de A.o.na. v.e.r».[16] Der überzeugendste Vorschlag einer Entschlüsselung geht davon aus, dass sie auf einer Reihe von vielsprachigen Spielereien mit Annes Namen beruht, die daran erinnern sollen, dass Heinrich schon seit einem Jahr versuchte, ihr Herz für sich zu gewinnen – «Anno» ist lateinisch für «im Jahr» und wird oft als «A» abgekürzt, und «un an» (im Lateinischen wird der Buchstabe «u» als «v» dargestellt) bedeutet «ein Jahr» auf Französisch. (Allerdings erklärt dies alles nicht den letzten Buchstaben «r» des Kryptogramms.)[17]
Am 18. Oktober 1526 kehrte Heinrich in den Greenwich Palace zurück, wo er bis Weihnachten blieb. Laut Edward Hall feierte er auch diesmal sehr aufwändig «mit Unmengen Essen, Vergnügungen, Maskenspielen, Verkeidungen und Banketten». Von Silvester bis zum 3. Januar veranstaltete er wieder Turniere, dann begab er sich zum Bridewell Palace, um sich für ein weiteres Maskenspiel umzukleiden. Ruderer brachten ihn auf der königlichen Barke zu Wolseys Haus York Place, wo sehr viele Damen und Herren speisten, «und dann tanzten die Maskenspieler und boten einen guten Zeitvertreib, und nachdem sie gut getanzt hatten, nahmen die Damen ihre Masken ab und waren alle bekannt».[18]
Anne war sicher unter den Feiernden, denn zwei Tage zuvor, an Neujahr, hatte sie selbst die Initiative ergriffen. Wie überall in Europa wurden Geschenke zum Fest nicht am 25. Dezember, sondern an Neujahr ausgetauscht. Sie war seit ihrer Zeit mit Königin Claude mit diesen Ritualen wohlvertraut. In Frankreich hatten die Neujahrsgeschenke sogar eine eigene Bezeichnung: étrennes. Sie wurden ganz offiziell auf Tischen in der chambre à parer (dem Audienzzimmer) als Beleg für das Prestige des Herrschers präsentiert. An Heinrichs Hof hatten König und Königin ihren jeweils eigenen Gabentisch. Zwischen Ende November und Anfang Dezember fertigten die königlichen Zimmerleute «Böcke und Bretter, auf denen die Neujahrsgeschenke des Königs stehen sollten».[19]
Und ein solches Geschenk machte Anne Heinrich. Er war außer sich vor Freude, weil die Symbolik leicht zu verstehen war. Sie hatte sich an ihre Reise durch die Bretagne mit Claude und Luise von Savoyen im Sommer 1518 erinnert, als die Bürger von Nantes Franz ein vergoldetes Silberschiff als Tafelaufsatz geschenkt hatten, um auszudrücken, dass seine Untertanen im Sturm sicher waren, solange er am Steuerruder stand. Jetzt gab sie Heinrich eine kleinere, leicht abgewandelte Fassung desselben Schmucks: einen «schönen Diamanten», gefasst in einem «Schiff, in dem das einsame Mädchen umhergeworfen wird». Als Botschaft war es brillant choreographiert. Heinrich schrieb ihr sofort einen Dankesbrief, verwendete das Wort étrenne, um es zu beschreiben, und verkündete, wie sehr es ihm gefalle, nicht nur als ein perfekt gewähltes Geschenk, sondern auch «wegen der guten Absicht und allzu bescheidenen Ergebenheit, die Ihr hier gütigerweise offenbart». Damit meinte er offenbar ein Motto oder einen Code, der wahrscheinlich auf dem Schiff eingebrannt oder eingraviert war.[20]
Die Bedeutung des Schmucks ist offenkundig: Anne stellt sich selbst als eine Frau auf einem Schiff dar, die in stürmischer See in Gefahr gerät und erst in Heinrichs Armen sicher sein wird. Es ist das für uns erste Signal, dass sie ihre Beziehung auf die nächste Stufe hebt. Heinrich, so deutet sie an, hat ihre Erlaubnis, um sie zu werben, aber er muss dies ernsthaft tun, nicht nur in der übertriebenen Sprache der höfischen Liebe und nicht nur, um sie als Ersatz für ihre Schwester in sein Bett zu bekommen.
Heinrich hatte seine Meisterin gefunden. Die Vorstellung, Anne könnte seine Geliebte sein, war keine Option mehr. Sie würde seine Ehefrau sein, seine Königin und die Mutter seiner Söhne. Sie, nicht Katharina, würde ihm den rechtmäßigen männlichen Erben schenken, nach dem er sich sehnte und der – anders als der außereheliche Fitzroy – sicher sein konnte, ihm auf dem Thron nachzufolgen.
Besorgt, sie durch sein früheres Drängen verärgert zu haben, schreibt Heinrich: «Ich bitte Euch auch, falls ich Euch irgendwann gekränkt haben sollte, mir ebenso zu vergeben wie ich Euch verzeihe.» Und schließlich erklärt er sich:
Von jetzt an wird, so versichere ich Euch, mein Herz Euch allein gehören – ich wünsche sehr: mein Körper ebenfalls. Dies kann von Gott, wenn er es will, bewirkt werden. Zu ihm flehe ich darum jeden Tag ein Mal – in der Hoffnung, dass schließlich mein Gebet erhört wird.
Und unten, in die Mitte seiner Unterschriftszeile «H[enry] autre ne cherche R[ex]» («König Heinrich sucht keine andere») hineingequetscht, zeichnet er ihre Initialen «AB» in ein Herz wie ein liebeskranker Teenager, der den Namen seiner Angebeteten in die Rinde eines Baumes ritzt.[21]
Da Heinrich schon seit mehr als einem Jahr vom «Pfeil der Liebe» durchbohrt war, bevor Anne ihm ihre Antwort gab, ist der Neujahrstag des Jahres 1527 das einzig mögliche Datum für ihr Geschenk: Ein Jahr zuvor wäre zu früh, das nächste Jahr zu spät.[22] Weitere Belege stützen diesen Schluss. Unter den Rechnungen von Sir Thomas Boleyn für die letzten zwei Monate des Jahres 1526 findet sich eine Zahlung von 4 Pfund an Cornelius Hayes, den flämischen Goldschmied des Königs, zusammen mit einer separat aufgeführten Summe von £ 3 12s 6d für «Mistress Annes Rechnung».[23] Könnten eine oder beide mit dem Schiff zusammenhängen? Dann würden sie nicht nur das Datum des Geschenks bestätigen, sondern auch, dass Annes Vater eine Rolle dabei spielte, ihr den Weg zur Krone zu ebnen. In einem siebten Brief, geschrieben etwa im Frühjahr 1527, wird Heinrich aufbegehren: Falls Annes Vater die Rückkehr an den Hof nicht um zwei Tage beschleunigt, «aber mindestens zum vorgesehenen Termin» ermöglicht, werde er «annehmen, dass er entgegen seinem Versprechen weder der Sache der Verliebten dient noch meine Erwartungen erfüllt».[24]
Wie können wir uns dieses Schiff vorstellen? Wenn wir annehmen, dass wenigstens eine Zahlung in den Rechnungsbüchern der Boleyns mit diesem Kauf in Beziehung steht, war Annes Schiff kein Tafelaufsatz wie das weitaus teurere Geschenk, das Franz in Nantes bekam, sondern eher eine Brosche oder vielleicht ein Anhänger. In der Fernsehserie Die Tudors tauchte zwar eine Attrappe auf, doch das echte Schmuckstück ist schon lange verloren gegangen. Annes Geschenk war Heinrich nach ihrem Sturz sicher genauso zuwider wie ihre Briefe. In den Sammlungen des Victoria and Albert Museum in London befindet sich allerdings der sogenannte «Hunsdon Jewel», ein Anhänger in Form eines Schiffs, der angeblich ein Neujahrsgeschenk von Elisabeth I. an ihren Cousin Henry Carey, Mary Boleyns Sohn, war: Annes Geschenk muss ähnlich ausgesehen haben, mit hölzernem, in Goldemaille gefasstem Rumpf, einem vergoldeten Mast und vergoldeter, mit Perlen geschmückter Takelung. Der Schiffskörper strotzt vor vergoldeten Kanonen, und eine geflügelte Statue der Victoria bläst eine goldene Trompete. An einer goldenen Spange befestigt misst das Schmuckstück 72 Millimeter in der Höhe und 51 Millimeter in der Breite.[25]
Annes Neujahrsgeschenk schuf die Voraussetzungen für die längste königliche Brautwerbung in der britischen Geschichte. Sie hatte jetzt das wahre Ausmaß von Heinrichs Interesse an ihr geprüft, abgeschätzt und erkannt, wohin es führen konnte. Die Ironie liegt darin, dass, während er auf der Pirsch war, sie auch ihn gejagt hatte. Es war für einen regierenden Monarchen ein gewaltiges Risiko, eine Bürgerliche zu heiraten. Abgesehen von Eduard IV. hatte seit der normannischen Eroberung kein König von England je eine Untertanin zur Ehefrau genommen. Nicht einmal Wolsey wagte Heinrich zu erzählen, was er vorhatte – zumal er anfangs noch glaubte, die Schwierigkeiten aus eigener Kraft überwinden zu können.
Weder Anne noch Heinrich ahnten auch nur annähernd, was die nächsten sechs Jahre für sie bereithalten sollten.