Das Jahr 1526 neigte sich dem Ende zu, und Wolsey wollte die Turbulenzen, die Englands Beziehungen zu Frankreich so lange geprägt hatten, durch ein neues goldenes Zeitalter ewiger Freundschaft ersetzen. Befördert wurde dieses Ansinnen dadurch, dass der siegreiche Kaiser Karl, jetzt mit Isabella von Portugal verheiratet, seine Schwester Eleonore ermutigte, Franz zu heiraten. Anders als Heinrich war der französische König wieder verfügbar: Königin Claude, erschöpft von ihren vielen Schwangerschaften, war im Juli 1524 in Blois gestorben und hatte sechs lebende Kinder zurückgelassen.[1] Wolsey, der die Gefahren einer dynastischen Verbindung zwischen Frankreich und Habsburg sah, wollte die auf seinem Landsitz The More verabredete englisch-französische Annäherung auf eine neue Stufe heben.[2]
Und er hatte gute Gründe, optimistisch zu sein. Am 23. März hatte Karl Briefe an die deutschen Fürsten und freien Reichsstädte gesandt, in denen er religiöse Neuerungen verbot, nur um dann auf dem Reichstag mit einer Revolte der Unterstützer Luthers konfrontiert zu werden. Und an den östlichen Rändern des Heiligen Römischen Reiches hatte Sultan Suleiman den König von Ungarn und die Blüte seines Adels in einer verzweifelten Schlacht bei Mohács vernichtet und war dann in Ungarn eingefallen. Als die Türken Buda besetzten, fielen auch Karls Territorien Suleimans Reiterei zum Opfer.[3]
Heinrichs verhehlte seine Schadenfreude nicht. Gerade von einer Hirschjagd zurück, frohlockte er: «[Ich] denke, dass die Angelegenheiten des Kaisers in Italien sicherlich so schlecht stehen wie nur irgend möglich.»[4] Papst Clemens sah eine günstige Gelegenheit und schickte Uberto Gambara, einen erfahrenen, wendigen päpstlichen Protonotar, um Heinrich unter Druck zu setzen, damit er sich der Liga von Cognac anschloss. Gambara respektierte Heinrich, hatte aber etwas gegen Wolseys Prunk und Prahlerei. Der König seinerseits wollte zwar, dass die Liga Karl aus Italien vertrieb und der Kaiser ein faires Lösegeld für die beiden Söhne des französischen Königs akzeptierte, doch beabsichtigte er nicht, sich dem Bündnis anzuschließen oder sich finanziell zu engagieren. Man konnte, so schien es, nicht mehr völlig darauf vertrauen, dass Heinrich «des Papstes guter Sohn» war.[5]
Im November 1526 schlug Wolsey vor, Franz oder vielleicht der Dauphin solle, wie 1518 schon einmal arrangiert, Prinzessin Mary heiraten. In Poissy begannen Gespräche zwischen Franz, Luise, Wolseys Vertrautem John Clerk und Sir William Fitzwilliam. Von Anfang an schloss Luise den Dauphin aus, weil er ihrer Ansicht nach Frankreich nicht mehr verlassen sollte, sobald er sicher aus Spanien zurückgekehrt war, wo er im Moment noch als Sicherheit für Franz selbst diente. Wenn Franz es ablehnte, die junge Prinzessin zu heiraten, war ihr bevorzugter Kandidat ihr sieben Jahre alter Enkel Henri, Herzog von Orléans.[6]
Im Februar 1527 kam eine hochrangige französische Delegation nach London, angeführt von Gabriel de Gramont, dem Bischof von Tarbes, und François de la Tour, Vicomte de Turenne, einem gentilhomme de la chambre und Favoriten von Franz. Wolsey forderte, Franz und nicht der Herzog solle Marys Bräutigam werden. Dem stand ihr Alter entgegen: Mary war zwar jetzt fast zwölf Jahre alt, doch Heinrich wollte sie nicht verheiraten, bevor sie vierzehn war. Luises Delegation schlug in aller Gelassenheit vor, beide Könige sollten sich in Calais treffen, wo sich Franz nach der Hochzeitszeremonie «eine Stunde oder weniger mit der Prinzessin betten» könne. Sie sagte, ihr Sohn sei «ein Mann der Ehre und des Takts und werde keine Gewalt einsetzen». So «könne ihr Sohn seiner Ehefrau sicher sein» und werde «mit allen Mitteln dafür sorgen, dass keine Partei jetzt schwanke». Dann könne Heinrich seine Tochter mit zurück nach Hause nehmen, «bis sie ausgewiesenermaßen zu mehr fähig sein sollte».[7]
Heinrich und Wolsey waren so versessen darauf, diese politische Gelegenheit zu ergreifen, dass sie Luises Idee nicht sofort ausschlugen. Am 30. April wurde in York Place der Vertrag von Westminster geschlossen. Anführer der englischen Delegation waren Annes Vater, der frisch gekürte Viscount Rochford, und ihr Onkel, der jüngere Thomas Howard, seit 1524 der 3. Duke of Norfolk. Dieser Vertrag war ein Meilenstein in Heinrichs Regierung, da er seinen diplomatischen Frontwechsel besiegelte. Prinzessin Mary sollte entweder Franz oder seinen zweiten Sohn heiraten (das musste offenbleiben), und Heinrich versprach, eine Gesandtschaft nach Spanien zu entsenden, um sich für die Freilassung der französischen Königssöhne gegen Lösegeld und für einen allgemeinen Frieden einzusetzen. Als Gegenleistung für die Verlobung willigte Heinrich auch ein, die finanziellen Bedingungen des Abkommens von The More zu mildern. Franz sollte ihm jetzt nur noch eine Million Kronen in Raten zahlen.[8]
Am 5. Mai befahl Heinrich, sofort mit Turnieren und Festlichkeiten im Greenwich Palace zu beginnen. Damit wollte er der Welt beweisen, dass er jetzt ein Freund Frankreichs war, und Anne die Möglichkeit geben, das erste Mal offiziell an seiner Seite aufzutreten. Sie wirkte, wie Cavendish in seinem Life of Wolsey sagt, damals «sehr arrogant und stolz, und sie hatte alle Arten von Schmuck und reichen Gewändern, die man mit Geld kaufen konnte».[9]
Heinrich hatte die Feierlichkeiten in Greenwich geplant, seit er sich zu Anne bekannt hatte. Wir wissen dies, weil «Meister Hans» am 8. Februar 1527 in einer großen provisorischen, mit Leinwand überdachten Banketthalle zu arbeiten begann, in der die Feiern stattfinden sollten.[10] «Meister Hans» war niemand anders als der gefeierte Hans Holbein der Jüngere, ein ausgewanderter Künstler und Porträtmaler aus Augsburg, der 1515 nach Basel gezogen und 1526 mit einer Empfehlung von Erasmus von Rotterdam an Thomas More in London angekommen war.[11] Er sollte die Decke des Theaters bemalen, in dem das Maskenspiel zur Aufführung kommen sollte, sowie einen majestätischen Triumphbogen, der das Theater vom eigentlichen Bankettsaal trennte. Die von Kerzen und Spiegeln beleuchtete Decke schuf die Illusion eines Sternenhimmels mit allen Planeten und Sternzeichen und sollte jenes Deckengemälde, das 1518 beim Bankett zu Ehren der englischen Gesandten über dem Hof der Bastille aufgespannt worden war, noch übertreffen. Gleiches galt für den Triumphbogen, der auf der Rückseite mit einer anschaulichen, wenn auch nicht gerade taktvollen Darstellung des englischen Sieges in der Schlacht der Goldenen Sporen von 1302 bemalt war.
Am 5. Mai schlossen sich an das Turnier abends ein Bankett, ein Konzert und ein Historienspiel an, den Höhepunkt bildete diesmal ein Maskenspiel, in dem Jungfrauen von einem zerklüfteten Berg gerettet wurden. Beim Bankett saß Katharina mit Heinrich und der Duchess of Suffolk unter einem cloth of estate, einem an der Wand befestigten Thronbaldachin, während ein Gericht nach dem anderen auf goldenen Tellern serviert wurde. Annes Bruder George goss Heinrich Wein nach. Nach dem Ende der Mahlzeit zogen alle durch Holbeins Triumphbogen ins Theater ein.[12]
Der Abend bot die verschiedensten Vergnügungen, doch für die Franzosen und die Boleyns zählte nur das Finale. Heinrich und der Vicomte de Turenne, im Kerzenlicht in ihren Kostümen aus Goldbrokat glänzend und mit schwarzen Samtpantoffeln an den Füßen, tanzten bis zum Morgengrauen mit den Frauen im Maskenspiel. (Alle acht Maskenspieler der männlichen Hauptrollen trugen diese Pantoffeln aus Rücksicht auf Heinrich, der sich den Fuß beim Tennisspiel verletzt hatte.) Turenne tat sich mit der jungen Prinzessin Mary zusammen, Heinrich jedoch wählte Anne.
Für die französische Delegation war die Wahl des Königs der Höhepunkt des Abends, das Ereignis, das Claude Dodieu, Rechtsanwalt im Parlement von Paris, hervorhob, der über Turennes Mission Tagebuch führte. Im diesem handschriftlich vorliegenden Tagebuch, das die Bibliothèque nationale in Paris kürzlich angekauft hat, heißt es:
Et Monsieur de Turenne par commandement du dict Seigneur Roi dansa avec Madame la Princesse, et le Roi avec Mestresse Boulan, qui a esté nourrie en Frankreich avec la feu Royne.[13] [*1]
Der Glanz des Banketts und der Vergnügungen entging Dodieu größtenteils, doch dieses entscheidende Detail griff er auf. Anne war noch nicht Heinrichs Ehefrau, doch sie war die Frau, mit der er lieber tanzte als mit seiner spanischen Gemahlin, und eine Frau, von der man wusste, dass sie enge Kontakte zu Frankreich hatte. Als weiteres Zeichen seiner Absichten war es Annes Vater, den der König nach Paris entsandte, um zu bezeugen, dass Franz den Vertrag ratifizierte. Bei seiner Ankunft wurde er wieder von Luise und ihrem Sohn aufgesucht und eingeladen, privat mit ihnen zu verkehren.[14]
Die Diplomatie rund um den Vertrag von Westminster war auch in anderer Hinsicht bedeutsam. Heinrich behauptete jetzt erstmals, de Gramont habe ihn im Zuge der Verhandlungen auf den potenziell inzestuösen Status seiner Ehe mit Katharina und damit auf die Frage der möglichen Illegitimität ihrer gemeinsamen Tochter hingewiesen, da er sich mit der Ehefrau seines toten Bruders vermählt habe. De Gramont habe ihn gefragt, ob die von Julius II. aus dem Handgelenk geschüttelte Dispensbulle, die die Hochzeit erlaubte, ausreichend gewesen sei, um sich über etwas hinwegzusetzen, das das Kirchenrecht so entschieden untersagte?[15]
De Gramonts Bedenken kamen Heinrich und Anne sehr gut zupass. Jetzt schien es einen echten Grund zu geben, die Gültigkeit der ersten Ehe des Königs zu überprüfen, und sie griffen ihn auch sehr schnell auf.[16] Am 7. April, während die französischen Gesandten noch mitten in den Verhandlungen mit Wolsey steckten, schickte Heinrich den Doktor beider Rechte Richard Wolman los, um den fast achtzig Jahre alten Richard Fox zu befragen, der Katharinas Hochzeit mit Arthur organisiert und die Verhandlungen mit Ferdinand und Isabella geführt hatte.
Wolman war ein scharfsinniger Kirchenrechtler, dessen Talent Wolsey erkannt hatte. Er war 1526 als königlicher Kaplan in Heinrichs Dienste getreten.[17] Allerdings half sein Besuch bei Fox in Winchester Heinrich wenig. Anders als Erzbischof Warham hegte Fox kaum Zweifel an Heinrichs Recht, die Witwe seines toten Bruders zu heiraten, doch die Richtung der Fragen zeigt, was der König vorhatte. Fox, inzwischen erblindet und fast taub, sagte, er sei bei der Zeremonie anwesend gewesen, die zunächst im Jahr 1503 als Hochzeit zwischen Heinrich und Katharina durchgegangen war, und habe danach den Widerspruch des zögernden Bräutigams entworfen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Heinrich diesen Widerspruch auf Befehl seines Vaters eingelegt, ohne ausdrücklich einer zukünftigen Ehe mit Katharina zuzustimmen oder sie abzulehnen. Was die Dispens von Papst Julius II. betraf, erklärte er, es gebe Abschriften in London und in Spanien, die seiner Ansicht nach beide «wahr und ausreichend» seien. Die Dispensbulle mochte vielleicht mit Fehlern behaftet sein, doch keine der potenziellen Unklarheiten könne schwere Folgen haben.[18]
Sobald die Feierlichkeiten in Greenwich vorbei waren, setzte Heinrich Wolsey davon in Kenntnis, dass er «starke Bedenken» in Bezug auf die Gültigkeit seiner Ehe habe, ließ aber unaufrichtigerweise nichts über seine Absichten in Hinblick auf Anne verlauten. Diese Täuschung sollten beide später bereuen. Wolsey zog einen falschen Schluss und glaubte, falls Heinrich eine Annullierung der Ehe anstrebe, werde Prinzessin Renée, Königin Claudes Schwester, seine zukünftige Braut sein. Politisch wäre das eine wunderbare Verbindung gewesen: Die schon fast Siebzehnjährige war auf dem Heiratsmarkt. Deshalb handelte er schnell und zitierte Heinrich heimlich vor einen besonderen geistlichen Gerichtshof.
Am 17. Mai, nur zwölf Tage nachdem Heinrich mit Anne getanzt hatte und gerade einmal fünf Monate, seit sie ihm das Neujahrsgeschenk übergeben hatte, eröffnete Wolsey mit Warham an seiner Seite die erste Sitzung eines besonderen Kirchengerichts, um die Rechtmäßigkeit der Ehe von Heinrich und Katharina zu prüfen. Die Schwierigkeit bestand darin, festzustellen, ob Katharinas Ehe mit Arthur vollzogen worden war oder nicht. Wenn dies der Fall war, wie Heinrich mit Entschiedenheit behauptete, konnte das Gericht ein schnelles Urteil fällen, denn dann waren er und Katharina Verwandte ersten Grades (die Beziehung, die zwischen einer Person und den direkten Verwandten ihres Ehepartners besteht) und hätten nie heiraten dürfen.[19]
Doch in einem seltenen Moment der Unentschlossenheit machte Wolsey einen Rückzieher. Als ein in religiösen Dingen aufrichtiger Mensch hatte er Sorge, dass dies nicht einfach eine juristische Frage war, sondern eine theologische, in der er sich nicht als Fachmann fühlte. Er vertagte das Tribunal mit dem Hinweis, er müsse erfahrene Theologen, vor allem John Fisher, befragen.[20]
Dann geschah das Unerwartete. Am 2. Juni kamen schockierende Nachrichten aus Italien: Marodierende Soldaten des Herzogs von Bourbon hatten Rom angegriffen und geplündert.[21] Bourbon hatte seine Truppen in der Nähe von Mailand neu aufgestellt und dann das Herzogtum als Entschädigung für seine konfiszierten französischen Besitzungen gefordert. Als Karl dieser Forderung nicht nachkam und Bourbon den Soldaten nicht den ihnen versprochenen Sold bezahlte, marschierten sie auf Rom.
Der Angriff begann am 6. Mai gegen vier Uhr morgens mit einer Kanonade, während Bourbons Soldaten Sturmleitern an der Stadtmauer aufrichteten. Der Herzog, leicht an seinem Markenzeichen, dem weißen Waffenrock, erkennbar, führte seine Truppen selbst in den Kampf und wurde niedergemäht. Wäre er am Leben geblieben, hätte er es vielleicht geschafft, sein Heer unter Kontrolle zu halten. So aber wurde Rom Opfer einer gnadenlosen, verheerenden Plünderung. Frauen, selbst Nonnen, wurden vergewaltigt, fast ein Drittel der Stadt und alle größeren Paläste und religiösen Gebäude ausgeraubt oder niedergebrannt. Mittels Folter versuchte man verborgene Schätze aufzuspüren. Raffaels unvergleichliche Tapisserien der Apostelgeschichte, die fünfmal so viel gekostet hatten wie die ganze von Michelangelo gemalte Decke, wurden von den Wänden der Sixtinischen Kapelle abgenommen und unwiederbringlich beschädigt. Der Petersdom verwandelte sich in einen Stall für Bourbons Reiterei. Als Papst Clemens eilig über den Verbindungsgang vom Vatikan zum Castel Sant’Angelo flüchtete, konnte er die unter ihm tobenden Kämpfe sehen und wurde sogar von Bourbons Soldaten beschossen. In den nächsten sechs Monaten war er in der Engelsburg gefangen.[22]
Karl, der jede Verantwortung für Bourbons Handeln von sich wies, aber seine Chance ergriff, forderte Schadenersatz von Clemens wegen seiner Rolle bei der Gründung der Liga von Cognac. Dazu kam noch ein Lösegeld von 400.000 Dukaten für die Freiheit des Papstes. Das war ein schwerer Schock für Heinrich. Solange Katharinas Neffe Clemens unter seiner Kontrolle hatte, würde es sehr viel schwerer werden, sich von ihr scheiden zu lassen. Um ihn für sein Bündnis mit Franz zu bestrafen, konnte Karl jederzeit seine Familienbande wiederentdecken.
Wolsey hatte noch weitere Gründe, sich Sorgen zu machen. Obwohl das Tribunal kein offizielles Urteil gesprochen hatte, konfrontierte Heinrich am 22. Juni Katharina dreist mit der Erkenntnis, sie hätten achtzehn Jahre lang in Todsünde gelebt und müssten sich trennen.[23] Als sie in Tränen ausbrach, behauptete er kleinlaut, er habe sich in Reaktion auf «Zweifel, die der Bischof von Tarbes dagegen erhoben hat», nur bemüht, «die Wahrheit herauszufinden».[24] Die Enthüllung hatte dramatische Folgen. Katharina, die nie zögerte, ihre Interessen zu verteidigen, schickte einen treuen spanischen Bediensteten, Francisco Felipez, mit einer Botschaft zu Karl, in der sie ihm mitteilte, was ihr Ehemann vorhatte. Karl reagierte prompt.[25] Er wies seinen Botschafter in London an, Heinrich zu warnen: «Ihre Sache ist unsere Sache.» Und er alarmierte Clemens, dem er vorschlug, er solle Heinrich überreden, die ganze Angelegenheit fallen zu lassen. Falls der König darauf beharren sollte, möge Clemens Wolseys kirchliche Befugnisse widerrufen und den Fall in Rom vor Gericht bringen.[26]
Karls Eingreifen machte Heinrichs Privatleben zu einer peinlichen internationalen Angelegenheit. Das war natürlich nicht Sinn und Zweck des geheimen Gerichtshofs gewesen. Am 1. Juli kam Dr. Wolman mit unheilverheißenden Neuigkeiten für Wolsey in York Place an. Der König, so drohte er dem Kardinal, zweifele an seiner Loyalität: Durch seine Entscheidung, die Verhandlungen zu vertagen, war das Gerichtsverfahren in dieser «geheimen Angelegenheit» in Verzug geraten, was Heinrichs Pläne durchkreuzte. In einer Hinsicht hatte der König recht: In den nächsten sechs Jahren sollte er der Annullierung seiner Ehe nie wieder so nahekommen. Mehr noch, Katharina leugnete «steif und fest», dass ihre Ehe mit Arthur je vollzogen worden sei, und widersprach damit Heinrichs wichtigstem Argument. Auch sie hatte sich juristischen Rat geholt und wollte die Klage ihres Ehemannes in Rom «anzweifeln» und «alle Anwälte der Welt, Frankreich ausgenommen, zu einer Partei dagegen machen».[27]
Heinrich und Anne hatten Katharina, die auf Anhieb erkannte, dass die Auseinandersetzung zu einem Kampf nicht nur um sie selbst und ihre Tochter, sondern um die Bewahrung des «heiligen katholischen Glaubens» eskalieren konnte, unterschätzt. In Katharinas Augen war die Nichtanerkennung ihrer Ehe gleichbedeutend mit der Nichtanerkennung der päpstlichen Autorität, was wiederum einer Nichtanerkennung der gesamten Kirche gleichkam. Wie ihre Mutter Isabella von Kastilien würde sie sich ihrer Verantwortung nicht entziehen. Die katholische Hagiographie, die die anglikanische Kirche ablehnte, stellte Katharina später fälschlich als eine «geduldige Griselda» dar, die ruhig darauf wartete, dass ihr Ehemann irgendwann wieder zur Vernunft kommen werde.[28] Nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Wenn Heinrich nicht aufhörte, seine Seele und die Seelen der Menschen, die Gott seiner Fürsorge anvertraut hatte, aufs Spiel zu setzen, musste sie sich ihm bei jedem Schritt auf diesem Weg widersetzen.
Wolsey versicherte Heinrich eilig, dass er seiner Sache verpflichtet sei. «Ich rufe Gott als Zeugen an», gelobte er, «dass es nichts Irdisches gibt, das ich so sehr begehre wie den Fortgang dieser Sache.»[29] Am 2. oder 3. Juli bestieg der große Kardinal sein Maultier und verließ York Place in Begleitung von Thomas More, John Clerk, Francis Bryan und einem großen Gefolge von Gentlemen und Bediensteten. Er schloss sich einem beeindruckenden Reiterzug nach Dover an, der sich über mehr als einen Kilometer hinzog, während ein gewagter Plan in seinem Kopf Gestalt annahm.[30] Seine vorrangige Absicht war, den Vertrag von Westminster zu erweitern und ihn zu einem umfassenden Militärbündnis gegen Karl aufzuwerten. Sein zweites, geheimes Ziel bestand darin, eine mächtige Gruppe von Kardinälen im päpstlichen Territorium Avignon zu versammeln, so viele, wie er auftreiben konnte, und die Regierung der Kirche zu übernehmen, solange Clemens in der Engelsburg festsaß. Es würde dann zwei Päpste geben – den gefangenen Clemens in Rom und Wolsey als einen handlungsfähigen Papst in Avignon. In dieser Position könnte er Karl die Stirn bieten und versuchen, eine Vereinbarung in Bezug auf Heinrichs Scheidung zu erreichen.[31]
Wolsey setzte am 11. Juli nach Frankreich über. Eine Woche später wurde der Vertrag von Amiens unterzeichnet.[32] Die verschiedenen Dokumente waren mit großartigen Buchmalereien ausgestattet, etwa mit Miniaturporträts von Heinrich und Franz mit Krone und Zepter neben ihren jeweiligen Wappen. Franz verpflichtete sich, Karl aus Italien zu vertreiben und ihn zu Friedensgesprächen zu bewegen, wenn Heinrich ihm helfen und die Kosten mit ihm teilen würde. Prinzessin Mary sollte den Herzog von Orléans heiraten, und falls sich der Krieg auf die Niederlande ausweitete, sollte es englischen Kaufleuten erlaubt sein, in Frankreich zu denselben günstigen Konditionen Handel zu treiben, wie sie sie in den flämischen Handelsstädten genossen. Um ihre Freundschaft zu betonen, tauschten die beiden Könige Ritterwürden aus: Heinrich wurde Mitglied des Michaelsordens und Franz Mitglied des Hosenbandordens.[33] Was Heinrichs zukünftige Ehepläne anging, erwähnte Wolsey sie gegenüber Franz «auf eine so wolkige und dunkle Art, dass er Euer Gnaden äußerste Entschlossenheit und Absicht in dieser Sache nicht kennt». Dafür hatte der Kardinal einen sehr guten Grund: Er kannte sie selbst nicht.[34]
Anschließend arbeitete Wolsey in Compiègne, assistiert von drei französischen Kardinälen und einem päpstlichen Nuntius, ein Dokument aus, das an Clemens geschickt werden sollte und ihre Absicht verlautbarte, die Angelegenheiten der Kirche zu regeln, solange er verhindert war.[35] Wenig überraschend, scheiterte der Plan: Die italienischen Kardinäle weigerten sich rundheraus, Wolsey zum Interimspapst zu machen, und er musste unverrichteter Dinge den Rückzug antreten.[36]
Bei Wolseys Rückkehr aus Frankreich Ende September hatte sich die Situation ohne ihn rasant weiterentwickelt, und seine Position war ernsthaft bedroht. Sir William Fitzwilliam, der sehr wohl wusste, welche Vorteile es haben konnte, sich beide Seiten gewogen zu halten, warnte ihn als Erster. In einem Brief vom 31. Juli aus Beaulieu mahnte er: «Königliche Hoheit führt hier ein sehr großes und einflussreiches Haus, denn gerade logieren hier der Duke of Norfolk und seine Ehefrau, der Duke of Suffolk, der Marquis of Exeter, die Earls of Oxford, Essex und Rutland, die Viscounts Fitzwalter[*2] und Rochford.» Heinrich sei «vergnügt und bei guter Gesundheit». Er «verbringt seine Tage auf der Jagd und isst zu allen Zeiten in seiner privy chamber zu Abend». Und an all diesen Abenden «nehmen das Abendessen mit ihm ein die Dukes of Norfolk und Suffolk, der Marquis of Exeter und der Lord of Rochford».[37]
Heinrich hatte einen Kriegsrat einberufen, während Wolsey außer Landes war. In Beaulieu konnte man Arbeit und Vergnügen miteinander verbinden. Der Besitz hatte jetzt Palastcharakter: Heinrich hatte etwa 17.000 Pfund ausgegeben, um ihn aufzuwerten (in etwa 20 Millionen Euro nach heutigem Wert), seit er Annes Vater das alte Herrenhaus New Hall abgekauft hatte. Die Grundfläche war massiv erweitert worden. Mit seinen luxuriösen neuen Wohnquartieren und der Galerie, dem Torhaus, den Ställen und Betriebsgebäuden, der Kapelle, den Tennisplätzen und der Trinkwasserversorgung war es jetzt eine der wenigen königlichen Residenzen, in denen der ganze Hof mit seinen etwa sechshundert Menschen unterkommen konnte.[38] Heinrich war ein paar Tage zuvor aus Hunsdon in Hertfordshire angereist, einem nicht einmal fünfzig Kilometer entfernten Herrenhaus, das er zu einem «palace royal» umgebaut und dann Anne überlassen hatte. Katharina begleitete ihn. Obwohl es in einigen Berichten heißt, er sei begierig gewesen, ohne sie abzureisen, wartete er auf sie «und so ritten sie zusammen fort». Anne allerdings wurde nicht vergessen. Zwei Tage nachdem das königliche Gefolge in Beaulieu angekommen war, ließ Heinrich ihr durch Cornelius Hayes einen Smaragdring überreichen, bald gefolgt von einem Rubin.[39]
Nach außen sprachen Norfolk, Suffolk, Rochford und Exeter, die vier, die jeden Tag «das Abendessen in seiner privy chamber mit ihm einnahmen», mit einer Stimme über Heinrichs Scheidung. Nach innen war ihre Einigkeit ein hauchdünner Firnis. Rochford, Annes Vater, wankte nicht in der Unterstützung seiner jüngeren Tochter. Norfolk, ihr Onkel, richtete sich nach dem König. Klein und dünn, mit schwarzem Haar, einem schmalen Gesicht und einem unberechenbaren Temperament, heißt es von ihm: «Er kann schön reden, ebenso zu seinem Feind wie zu seinem Freund.»[40] Seine Ehefrau Elizabeth Stafford dagegen, eine der dienstältesten Kammerfrauen der Königin, würde Katharina bald Briefe aus Rom, versteckt in Orangen, zustecken. Ihre Einstellung wurde noch einmal deutlich radikaler durch die Tatsache, dass sich Norfolk im Jahr 1527 eine Geliebte nahm, Elizabeth «Bess» Holland, deren Garderobe großzügig mit französischen Kleidern aufgestockt wurde und die sich später von Anne angezogen fühlte. Später sollte auch der Herzog unter der spitzen Zunge seiner Nichte leiden. Er wusste, er musste das ertragen, doch falls Heinrich jemals seine Meinung zu ihr änderte, würde er ihm sicher gern Gesellschaft leisten.[41]
Charles Brandon, Duke of Suffolk, sah sich mit einem Dilemma konfrontiert. Er verdankte seine Karriere Heinrich und stand ziemlich hoch in Wolseys Schuld. Man kann wohl voraussetzen, dass er als Mann von Welt Sympathien für Heinrichs Leidenschaft hegte, doch als Ehemann der Schwester des Königs musste er dem Beispiel seiner Ehefrau folgen. Als nomineller Vorstand von Katharinas Haushalt hatte die Herzogin Katharina fast ihr ganzes Leben lang gekannt. Als Tochter eines Königs, Schwester eines Königs und (wenn auch nur kurz) Königin von Frankreich konnte sie die Frau, die Katharina verdrängen wollte, überhaupt nicht leiden. In ihren Augen waren die Boleyns Emporkömmlinge, und Anne war ihr besonders verhasst. Ein Grund dafür waren vielleicht die schlüpfrigen Gerüchte, die Anne in Paris über ihre und Suffolks Schlafzimmereskapaden nach dem Tod Ludwigs XII. aufgeschnappt hatte.[42]
Auch Henry Courtenay, Marquis of Exeter, war ein Parteigänger der Königin, ebenso dessen Ehefrau, Gertrude Blount, eine ihrer dienstältesten Hofdamen und engsten Freundinnen. Später brachte sie Heinrich gegen sich auf, weil sie sensible Informationen, die sie ihrem Ehemann entlockt hatte, an Karls Botschafter weitergab, wofür der König sie auf Annes Bitten kurz vom Hof relegierte. Für den Moment jedenfalls mussten sie und ihr Ehemann ihre Einwände für sich behalten.[43]
Eines einte diese Gruppe: ihre Abneigung gegen Wolsey, den Metzgerssohn, der sie so lange herumkommandiert hatte. Bisher war es weniger der Inhalt von Wolseys Entscheidungen gewesen, der ihnen missfiel, als vielmehr die Art, wie er die Macht monopolisiert hatte. Doch seit Amiens war die Stimmung umgeschlagen: Norfolk, Suffolk, Exeter und viele andere waren eingefleischte Franzosenhasser und hatten trotz der großen Begeisterung des Königs starke Vorbehalte gegen das englisch-französische Bündnis. Zudem hatten sie die öffentliche Meinung auf ihrer Seite. Es kam zu einem Aufruhr, als Wolsey den Londonern die Bedingungen des Vertrags von Amiens verkündete. Als er den Fernkaufleuten verbot, ihre Stoffe auf den Messen der niederländischen Handelsstädte anzubieten, um Karl zu ärgern, und sie stattdessen in Calais zu verkaufen, brachen die Exporte zusammen. Sobald bekannt wurde, dass Prinzessin Mary dem Herzog von Orléans versprochen war, zirkulierten Handzettel in den Straßen, auf denen Wolsey gewarnt wurde, er solle «dem König nicht raten, seine Tochter nach Frankreich zu verheiraten, denn wenn er das täte, würde er sich als Feind des Königs und des Reiches erweisen».[44]
Wolsey hatte, noch bevor er Frankreich verließ, eine schwache Ahnung von dem drohenden Unheil, und schickte Clerk voraus, um Heinrich zu versichern, dass «all die Dinge, die hier getan und beschlossen wurden, mit solcher Schnelligkeit, wie sie in Rom in Bezug auf Eure geheime Angelegenheit angeraten ist», zu des Königs «Sicherheit, Nutzen und Vorteil» seien.[45] Nur vielleicht eine Stunde später kritzelte er einen kriecherischen zweiten Brief, in dem er beteuerte, der Erfolg «Eurer geheimen Angelegenheit» sei ihm «mein tägliches Bemühen und innigster Wunsch» und jeder Tag, den er von Heinrich getrennt sei, fühle sich an wie ein Jahr. Er unterschrieb die Note «mit der groben und zitternden Hand Eures demütigsten Untertans, Dieners und Kaplans».[46]
Clerk war kaum abgereist, als Wolsey herausfand, dass Heinrich hinter seinem Rücken direkt an Clemens appellieren wollte. Von jetzt an wurden neue Wege eingeschlagen – und Anne würde diejenige sein, die alles änderte.[47]
*1 «Und Monsieur de Turenne tanzte auf Befehl des Königs mit Prinzessin Mary, und der König mit Mistress Boleyn, die in Frankreich bei der verstorbenen Königin (Claude) erzogen wurde.»
*2 Robert Radcliffe, der spätere 1. Earl of Sussex.