Am 20. November 1532 spielten Heinrich und Anne mit Francis Bryan und dem jungen Francis Weston, beide gehörten zum Kreis der privy chamber, Karten. Man logierte in Stone Castle in Kent. Zu dem «Pope Julius» genannten Spiel gehörten Karten, Geld und Jetons: Die Karo Neun war der «Papst» und eine Siegkarte. In der Regel verlor Heinrich, und dieser Tag war keine Ausnahme und kostete ihn £ 9 6s 8d.[1] Stone Castle, das Stammhaus von Bridget Wilshire, war der vorletzte Halt auf der gemächlichen Heimreise des Paares. Bridget und Anne hatten sich schon immer nahe gestanden. Als Bridget ein Kind zur Welt brachte, nachdem sie Sir Nicholas Harvey von Ickworth in Suffolk zum zweiten Mann genommen hatte, schickte der König – zweifellos auf Annes Bitte hin – der Krankenschwester und Hebamme eine Börse mit £ 3 6s und 8d.[2] Aber dann geschah irgendetwas Unziemliches, und Bridget verließ den Hof. Kurz nach ihrer Ernennung zur Lady Marquis of Pembroke schickte Anne ihr eine Note, in der sie sich für eine Kränkung, die sie ihr möglicherweise zugefügt habe, entschuldigte und Bridget um ihre Rückkehr bat. Ganz ungewöhnlich für Anne ist der Brief so versöhnlich gehalten, dass der Ton bereits an Unterwürfigkeit grenzt.
Madam, ich flehe Euch an, weil Ihr mich liebt, meinem Diener, diesem Kurier, Glauben zu schenken, was Euren Rückzug und alles andere betrifft, das er Euch in meinem Namen sagen wird, denn ich wünsche, Euch nichts Anderes zu tun, als was Eurem Wohl förderlich sei. Und Madam, auch wenn ich nicht zu allen Zeiten die Liebe, die ich für Euch empfinde, so sehr gezeigt habe, wie sie wirklich ist, darf ich doch vertrauen, dass Ihr wohl erweisen werdet, dass ich Euch weit mehr liebte, als ich zeigte, und seid gewiss, neben meiner eigenen Mutter, keine ich keine andere lebende Frau, die ich mehr liebe, und nach einiger Zeit, mit Gottes Gnade, werdet Ihr zeigen, dass sie nicht vorgetäuscht ist, und ich vertraue darauf, dass Ihr mich als eine Frau kennt, dass ich nichts schreiben werde, um Euch [nur] in Eurem Kummer zu trösten, sondern ich werde daran festhalten, solange ich lebe. Und deshalb flehe ich Euch an, lasst Euren unüberlegten Kummer, sowohl weil er Gott missfällt, als auch weil er mir missfällt, die Euch so innig liebt. Und im Vertrauen auf Gott, dass Ihr so handeln werdet, schließe ich hier. Mit der kranken Hand
Ihrer eigenen teuren Freundin in meinem Leben,
Anne Rochford[3]
Annes Brief landete merkwürdigerweise nicht im Familiennachlass von Bridget, sondern in dem von Thomas Cromwell, aus dem er in den 1590er Jahren von Sir Robert Cotton für seine Sammlungen geraubt wurde, die inzwischen in der British Library aufbewahrt werden.[4]
Was Bridgets «unüberlegter Kummer» nun genau war, ist unklar. Faszinierender ist die Frage, weshalb Anne die Frau so sehnsüchtig an ihrer Seite wissen wollte, denn in der Regel scheute sie sich nicht, sich Feinde zu machen. Was immer der Grund sein mochte – sobald Anne den Brief abgeschickt hatte, verschwendete sie allem Anschein nach keinen Gedanken mehr an diese Angelegenheit. Sie hatte jeden Grund zu vergessen, weil nach dem Gipfeltreffen alle Augen auf Rom gerichtet waren, wohin König Franz Gabriel de Gramont und François de Tournon geschickt hatte, um Clemens zu einem Treffen in Nizza einzuladen. Unter anderem hoffte Franz, ihn dort zu einer Einwilligung in Heinrichs Scheidung zu überreden.[5] Um den französischen Gesandten bei der Überzeugung der italienischen Kardinäle für seine Angelegenheit unter die Arme zu greifen, beauftragte Heinrich Cromwell, inzwischen zum Master of the Jewels befördert, ihnen 9000 Mark (heute mehr als 6 Millionen Euro) zukommen zu lassen, um sie als Schmiergelder zu verteilen.[6]
Vier Tage nach der Rückkehr nach Greenwich führte Heinrich Anne in den Tower, um ihr seinen geheimen Schatz im Jewel House zu zeigen und um die Räumlichkeiten der Königin zu inspizieren, die sie in der Nacht vor der Krönung beziehen würde. Sie beschloss, dass einige Änderungen erforderlich waren: Das Audienzzimmer sollte ein neues Dach und einen neuen Fußboden bekommen und an der Westseite mit einem «großen Arbeitsfenster» und an der gegenüberliegenden Seite mit zwei kleineren Fenstern mit Blick auf die Themse ausgestattet werden. Alle diese Fenster sollten «Lehnplätze» haben, damit sie die panoramaartige Aussicht genießen konnte. Außerdem ordnete sie umfassende Renovierungsarbeiten der privy chamber an, so wurde eine prächtige neue Galerie konstruiert, über die sie sie betreten konnte.[7]
Die Weihnachtsfeierlichkeiten in diesem Jahr waren von einem symbolträchtigen Wandel geprägt. Als die königlichen Tischler sich darauf vorbereiteten, die Neujahrsgeschenke zu zeigen, bauten sie «Gerüste und Regale, um die Neujahrsgeschenke für die Lady Marquis of Pembroke darauf zu stellen». Die Gerüste mussten stabil sein, weil Heinrich Anne im Laufe der Weihnachtszeit fast drei Zentner schwere vergoldete Teller zukommen ließ – rund 140 Einzelstücke im Wert von 1200 Pfund (heute über 1,2 Millionen Euro), mit Silber- oder Goldgefäßen, Salzfässchen, Kerzenständern, Schüsseln, Töpfen und Löffeln. Einige Teller hatten einst Wolsey gehört, andere William Compton, der am Schweißfieber gestorben war und Schulden bei Heinrich hinterlassen hatte. Cornelius Hayes erhielt Anweisungen, sämtliche vorherigen Besitzmarkierungen zu entfernen und stattdessen Annes Wappen als Lady Marquis of Pembroke zu «schlagen» oder zu «brennen». Neue Stücke sollten mit ihrem Falken-Abzeichen «vergoldet, graviert oder emailliert» werden.[8]
Heinrich wurde belohnt, als Anne in der dritten Januarwoche erfuhr, dass sie schwanger war. Ihre Neuigkeiten elektrisierten ihn: Das Kind war, davon war er überzeugt, ein Junge – der künftige Prince of Wales, nach dem er sich schon so lange sehnte. Aber wenn sein Sohn legitim sein sollte, musste er zumindest in eine rechtmäßige Ehe geboren werden: Laut Gesetz war ein Baby, das unehelich empfangen, aber ehelich geboren wurde, ein rechtmäßiger Thronerbe, auch wenn einige Juristen noch darüber diskutierten. Das Timing war jetzt also entscheidend.
De Gramont und de Tournon trafen den Papst, der sich von einer schmerzlichen Begegnung mit Karl V. noch nicht ganz erholt hatte, am 3. Januar 1533 in Bologna an und hatten deshalb Erfolg. Clemens willigte sowohl ein, nach Nizza zu kommen, wo Karl in sicherer Entfernung wäre, als auch Heinrichs Anliegen «so geschickt» zu regeln, «dass ihm kein Schaden zugefügt werde». Heinrich und Anne fassten dies als eine Bestätigung ihrer frankophilen Politik auf. Was sie allerdings nie wirklich realisierten, war der Umstand, dass Franz ein ganz anderes Motiv hatte: Er hatte seinen Plan von 1529, der damals Anne so sehr beunruhigt hatte, aus der Versenkung geholt, nämlich seinen zweiten Sohn Henri, den Herzog von Orléans, mit Clemens’ Nichte zu verheiraten. All dies war Teil seines größeren Spiels, um Clemens von Karl zu lösen und so den Weg für eine Rückkehr Frankreichs nach Italien frei zu machen. In Calais hatte Franz gegen Ende des Gipfeltreffens die Idee der Verlobung angedeutet, allerdings nur so vage und beiläufig, dass Heinrich zu der Überzeugung gelangte, ein derartiges Szenario werde erst weiterverfolgt, nachdem seine Scheidung gesichert war.[9]
Dummerweise wurden die päpstlichen Bullen, die für die Weihe Cranmers zum Erzbischof von Canterbury benötigt wurden, frühestens in drei Monaten aus dem Konsistorium in Rom erwartet. Eine schwierige Situation erforderte eine unkonventionelle Antwort, und sie sollte sich auch schon bald einstellen. Heinrich stand es, in seinen Augen, frei zu heiraten. Er hatte seine Ehe mit Katharina schon lange als ungültig angesehen, und er kannte sich im Kirchenrecht gut genug aus, um zu wissen, dass eine zweite Ehe während des Annullierungsverfahrens rückwirkend als gültig anerkannt würde, sobald die erste annulliert war. Er würde seine Scheidung bekommen, sobald Cranmers Bullen eintrafen, folglich konnte danach der Makel der Bigamie beseitigt werden.[10]
Kurz vor Morgengrauen gingen Heinrich und Anne also am 24. oder 25. Januar an Bord einer frisch gepolsterten Barke und wurden mit einer Handvoll Begleiter von Greenwich nach Whitehall gerudert. Nach dem Aussteigen gingen sie zum Torhaus und wurden heimlich in einer der oberen Kammern getraut. Nur drei Zeugen haben vermutlich daran teilgenommen: Henry Norris, Thomas Heneage und Anne Savage, eine von Annes Hofdamen und eine Verwandte William Breretons, von der es hieß, sie sei «eine Dame von männlichem Geist». Sie trug, so sagen es die Chronisten, die Schleppe der Braut, ehe sie aus Annes Diensten ausschied, um Thomas, den Lord Berkeley, zu heiraten.[11] In den 1550er Jahren schrieb Nicholas Harpsfield, der Priester sei Dr. Rowland Lee gewesen. Der Kaplan Heinrichs sollte in Kürze zum Bischof von Coventry und Lichfield ernannt werden. Chapuys hingegen, der genaue Nachforschungen anstellte, sagt, George Browne, ein mit Cromwell bekannter Mann, den der König zum Prior der Austin Friars in London machte, sei der Priester gewesen.[12]
Heinrich hatte das Parlament am 4. Februar zu einer Sitzung einberufen. Einander zugeneigt zogen er und Anne aus Greenwich nach Whitehall, wo sie so viele der neu hergerichteten königlichen Gemächer bezogen, wie die Handwerker bereits vollendet hatten. Cromwell, dessen Hauptaufgabe es war, das Unterhaus zu leiten, hatte etliche Gesetzentwürfe vorbereitet, um juristische Eingaben in Rom abzublocken, die Heinrich prüfen und billigen sollte. Sämtliche Einsprüche, aus welchen Gründen auch immer, von englischen Gerichten beim Papst würden gesetzlich untersagt und damit Katharinas Bestrebungen ein Riegel vorgeschoben werden. Der zuverlässige Sekretär Cromwells, Thomas Audley, der kürzlich ernannte Lordkanzler, hätte im Oberhaus anstelle von Thomas More den Vorsitz. Cranmer saß schon in den Startlöchern. Er bezog Räumlichkeiten, die für gewöhnlich von einem der Chorherren der St Stephen’s Chapel in der Nähe von Whitehall belegt wurden – ein ideal gelegener Ort für Konsultationen zu den nächsten juristischen und theologischen Schritten in Sachen Scheidung.[13]
Als Nächstes arbeitete einer von Cromwells Beamten ein Dokument für rund ein Dutzend handverlesene Kirchendiener aus, das diese billigen sollten. Es ist nicht erhalten, aber wie Chapuys berichtet, forderte es sie auf zuzustimmen, dass die Ehe des Königs ungültig sei, weil das Gesetz Gottes eine Heirat mit der Witwe des verstorbenen Bruders untersage. Cranmer, der bereits (etwas voreilig) als «My Lord of Canterbury» tituliert wurde, und Edward Foxe waren unter denjenigen, die bereitwillig unterschrieben, aber Stephen Gardiner und andere weigerten sich.[14]
Unterdessen kümmerte sich Annes Vater um die Anhänger Katharinas im Oberhaus. Am 13. Februar horchte er Thomas Manners, den Earl of Rutland, aus, ob er eine Heirat zwischen Heinrich und Anne unterstütze, falls die Angelegenheit vor das Parlament kommen sollte. Als Rutland erwiderte, dass derart «spirituelle Angelegenheiten» nicht auf diese Weise geregelt werden könnten, wurde ihm kurzerhand mitgeteilt, er müsse sich Heinrichs Wünschen beugen oder die Konsequenzen tragen. Auf die Begegnung folgte eine bewusst arrangierte Szene in Annes Gemächern, als sie – um alle weiter darüber im Unklaren zu lassen, was in der Kammer über dem Torhaus von Whitehall bereits geschehen war – erklärte: «Ich bin mir so sicher wie meines eigenen Todes, dass ich schon bald mit dem König verheiratet sein werde.»[15]
Anne war jetzt nicht mehr zu bremsen und riss schamlos Scherze über die Situation. Am 15. prahlte sie gegenüber ihrem Onkel Norfolk, dass sie, wenn sie bis Ostern nicht schwanger sei (was sie natürlich bereits wusste), eine Pilgerreise antreten werde, um zur Heiligen Jungfrau zu beten – nachdem sie eine Anhängerin Lefèvres war, der den Wert derartiger Fürbitten anzweifelte, eine sarkastische Bemerkung. Am 22. sagte sie vor einer Gruppe von Höflingen, zu der offenbar Thomas Wyatt, der sich einst um sie bemüht hatte, zählte, ganz offen, sie verspüre plötzlich eine Gier nach Äpfeln. Heinrich hatte mitgehört und erklärte, dies sei ein Zeichen, dass sie schwanger sein müsse – eine Andeutung, die sie schelmisch verwarf. Dann machte sie auf der Stelle kehrt und zog sich, erregt lachend, in ihre Gemächer zurück.[16]
Zwei Tage später, am Tag des heiligen Matthias, empfing Anne Heinrich zum Dinner. An den Wänden ihres Audienzzimmers hingen die edelsten Gold- und Silberwandteppiche, die er ihr geschenkt hatte. An der Seite stand ein großes Buffet, dessen oberste Regalbretter unter den schönsten ihrer frisch erworbenen Goldteller ächzten. Sie saß am Kopfende der Tafel zur Rechten von Heinrich, der Duke of Suffolk, Audley und andere eigens auserwählte Lords und Ladys an einem Kreuztisch weiter hinten im Saal. Das Paar war während des Mahls so sehr miteinander beschäftigt, dass sich Heinrich kaum mit den anderen Gästen unterhielt, mit Ausnahme eines Ausrufs, um die Noch-Ehefrau des Dukes of Norfolk, Elizabeth Stafford, wegen ihrer Loyalität zu Katharina zu ködern: «Hat die Lady Marquis nicht eine großartige Aussteuer und eine reiche Heirat bekommen», rief er triumphierend, «denn alles, was wir hier sehen, und noch mehr, gehört ihr?»[17]
Der nächste Tag war Fastnachtsdienstag, und Anne und Heinrich veranstalteten ein Festmahl zu Ehren des neuen französischen Gesandten, der am 5. oder 6. Februar angekommen war. Es handelte sich um den bemerkenswerten Jean de Dinteville, Bailly de Troyes und Seigneur de Polisy in Champagne, den jüngeren Bruder von de la Pommerayes Freund François. Der 1504 geborene Jean ging auf die neunundzwanzig zu, als er nach London kam. Der stämmige, mittelgroße Mann hatte breite Schultern, ein rundliches Gesicht, eine große Nase, volles, dunkelbraunes Haar, einen dichten Bart und Schnurrbart und große, weit auseinanderliegende braune Augen. Selbstbewusst wie er war, war er stets elegant gekleidet und trug seine Samtmütze gerne in einem kecken Winkel, wenn man den erhaltenen Porträts Glauben schenken darf. Seine vom Herzog von Montmorency erteilten Instruktionen lauteten, Heinrich zu raten, seine Hoffnungen auf das Ergebnis des Treffens in Nizza zu setzen.[18]
Das Bankett am Fastnachtsdienstag war eine rein gesellschaftliche Veranstaltung, doch am nächsten Tag hatte de Dinteville eine zweite, längere Audienz, bei der Heinrich aufgeregt über das bevorstehende französisch-päpstliche Treffen redete und versprach, Annes Vater oder Onkel Norfolk nach Nizza zu schicken, mit einer Vollmacht, sich an den Verhandlungen zu beteiligen, wie sie es für angemessen hielten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Heinrich keine Ahnung, dass für Franz die Verlobung seines zweiten Sohnes der Hauptgrund für das Treffen war.[19] Heinrich bat de Dinteville um einen Gefallen: Franz sollte de Gramont und de Tournon anweisen, Clemens dazu zu überreden, Katharinas Antrag in der Schwebe zu halten und bis zum Abschluss der Konferenz nicht «erneut gegen ihn vorzugehen» (sprich: Sanktionen zu verhängen). Franz willigte unter der Bedingung ein, dass Heinrich seinerseits keine weiteren Schritte wegen der Scheidung oder Angriffe auf die Kirche unternahm, bis die Gespräche geführt waren.[20]
Zu diesem Zeitpunkt wussten selbstverständlich weder de Dinteville noch Franz, dass Anne und Heinrich bereits verheiratet waren. Mit dem Verschweigen dieser entscheidenden Tatsache hatte Heinrich seinen zentralen Verbündeten übel hintergangen. Der Betrug ging so weit, dass noch am 16. März Montmorency einem Paket für de Dinteville einen Brief für Anne beilegte, in dem er sie lediglich als «Madame la Marquise» und nicht als Heinrichs Frau anredete.[21] Etwa zehn Tage vor der Ankunft des Briefes kamen de Dinteville schließlich Gerüchte zu Ohren. Er war sich nicht sicher, was sie zu bedeuten hatten, aber Heinrich wusste, dass es unklug wäre, Franz länger im Dunkeln zu lassen. Am 11. März hatte er Annes Bruder George zum Sonderbotschafter für Frankreich ernannt und wies Cromwell an, ihm £ 106 13s 4d im Voraus für seine Ausgaben zu zahlen, was für vierzig Tage reichen sollte.[22]
Georges Instruktionen, die Heinrich in perfektem Französisch diktierte, umfassten sechzehn dicht beschriebene Seiten. Die an «unseren treuesten Berater Lord Rochford, gentleman of our privy chamber», gerichteten Worte zeigen, dass ihr Autor so anmaßend überheblich geworden ist, wie man sich nur denken kann, wenn sich ein Herrscher an einen anderen wendet. George sollte zuerst Franz Briefe vorlegen, die Heinrich, als Zeichen der Höflichkeit, eigenhändig geschrieben hatte, und dann die «große Freude, den Trost und das Vergnügen» ausdrücken, das er in der persönlichen Freundschaft empfand sowie über die «perfekte und unzerstörbare Freundschaft und das dauerhafte Bündnis», das die beiden Monarchen teilten. Erst dann ließ George, sorgfältig den geeigneten Zeitpunkt wählend, die Bombe platzen: Er teilte Franz mit, dass Heinrich Anne bereits geheiratet habe, und rechtfertigte dies mit der dringenden Sehnsucht des Landes nach «einem männlichen Thronfolger und Wohlstand». Heinrich habe, hatte man ihm aufgetragen zu sagen, aus reiner Notwendigkeit heraus gehandelt: Wegen der Dickköpfigkeit von Clemens und der Einmischung Karls V. habe man die Angelegenheit nicht länger aufschieben können. Anschließend sollte George Franz instruieren, sich auf Ehre wie Heinrichs «wahrer Freund und Bruder» zu verhalten, indem er die Nachricht von der Heirat vor jedem, insbesondere in Rom, bis nach Ostern geheim halte, wenn er sie persönlich bekannt geben wolle.
Nach Heinrichs Wunsch sollte Franz de Gramont und de Tournon anweisen, sich an die detaillierten Instruktionen zu halten, die er persönlich für ihre Gespräche mit dem Papst verfassen werde.[23] Und zur Frage der geplanten Verlobung fühlte Heinrich sich verpflichtet, seinem Mit-Monarchen einen «brüderlichen Rat» zu erteilen. Die Idee, in Nizza eine französisch-päpstliche dynastische Allianz zu begründen, sollte George demnach sagen, sei gut und schön: Sie sei von unschätzbarem Wert, falls sie die Gewährung der Annullierung durch Clemens beschleunige, aber Franz solle auf der Hut sein. Die vierzehnjährige Caterina de‘ Medici, die Nichte des Papstes, sei alles andere als die perfekte Partie. «Ich muss ganz offen zu Euch sein», schloss Heinrich, «dass in Anbetracht des geringen Blutes und der armen Familie, aus der sie stammt, und der überaus edlen und glorreichsten Nachkommen des französischen Königshauses eine Heirat mit unserem sehr geschätzten und vielgeliebten Vetter und Patenkind, dem Herzog von Orléans, überaus ungleich und unpassend wäre.»[24]
George reiste am 13. aus London ab und ritt nach der Ankunft in Calais schnurstracks zu Franz, der sich in Fère-en-Tardenois an der Grenze der Champagne aufhielt. Zwei Augenzeugenberichte, einer von Franz selbst, der andere von Jean du Bellay, beschreiben den frostigen Empfang.[25] Gerade erst angekommen, redete er viel zu eindringlich und zu barsch. George war allzu sehr darauf erpicht, eine rasche Antwort zu bekommen, und beflügelte seine diplomatischen Bemühungen noch beim Reden. Franz war möglicherweise gar nicht darüber verstimmt, dass Heinrich und Anne endlich geheiratet hatten, aber er wehrte sich gegen Heinrichs Dreistigkeit, ihn darum zu bitten, diese Tatsache geheim zu halten. Er wurde aufgefordert, Clemens genauso zu hintergehen, wie Heinrich ihn hintergangen hatte. Franz musste seine eigenen Interessen wahren, und er hatte nicht die Absicht zuzulassen, dass seine Gesandten in Rom ihre Anweisungen von Heinrich entgegennahmen.[26]
Du Bellay vermutete aufgrund seiner Erfahrungen in London hinter den Kulissen einen wachsenden Bruch zwischen Norfolk und den Boleyns. Während Anne, George und ihr Vater in dem bevorstehenden Treffen eine große Gefahr sahen, wenn das bedeutete, dass Franz seinen Sohn mit der Nichte des Papstes verheiratete, war Norfolk anderer Meinung, und er war es auch, den Heinrich zu seinem Repräsentanten in Nizza auswählte, nicht Thomas Boleyn. Die Boleyns, meinte du Bellay, hielten Norfolk nicht für absolut zuverlässig, wenn es um ihre Interessen ging: Er stand dem Herzog von Montmorency zu nahe.[27]
Franz sah sich außerstande, Georges Bitte nachzukommen, wollte sich aber den geliebten Bruder Annes nicht zum Feind machen. Also machte er ihm ein großzügiges Geschenk in Höhe von 2250 Livre (nach heutigem Wert über 285.000 Euro) in bar.[28] George verließ Frankreich am oder kurz nach dem 5. April und stellte bei der Rückkehr fest, dass Cromwell die endgültige Fassung eines Gesetzentwurfs zur Beschränkung von Berufungen im Unterhaus eingebracht hatte. Darin hieß es, England sei «ein Imperium» (das heißt ein Reich mit einer völlig eigenständigen Gesetzgebung und Rechtsprechung), «das von einem Oberhaupt und König regiert» werde. Dies werde, betonte der Gesetzentwurf, «vollkommen durch verschiedene alte authentische Geschichten und Chroniken» bewiesen – womit selbstverständlich jene gemeint waren, die man in Durham House wiederentdeckt hatte.[29] Nicht nur der Einspruch Katharinas in Rom, sondern sämtliche Einsprüche außerhalb des Herrschaftsbereichs gegen Urteilssprüche wurden untersagt.
Wochenlang hielt sich hartnäckiger Widerstand: Er umfasste eine Koalition aus den Anhängern Katharinas und all jenen mit kommerziellen Interessen, die fürchteten, dass Karl V. mit einem weiteren Handelsembargo oder anderen wirtschaftlichen Sanktionen antworten werde. Eine beschädigte Liste mit rund 35 Namen von Abgeordneten, die Cromwell zusammengestellt hatte, wird in den Archiven aufbewahrt und nennt die lautstärksten Kritiker des Gesetzentwurfs. Unter ihnen waren die beiden Schwiegersöhne Thomas Mores William Roper und William Dauntesey sowie Robert Fisher, der Bruder von Bischof John. Da More nicht länger dem Parlament angehörte, drängte er den Abgeordneten von Warwickshire George Throckmorton, der Verbindungen zu dem verbannten Bruder Peto hatte, gegen das Gesetz zu stimmen. Indem er sich für die katholische Sache ausspreche, würde er sich «eine große Belohnung von Gott verdienen und langfristig den Dank des Königs» – das heißt, sobald Heinrich zur Vernunft kam und Katharina zurückrief. Während dieser Debatten verfeinerte Cromwell sein Talent, Widersacher einzuschüchtern.[30]
Mittlerweile waren aus Rom die Bullen für Cranmer eingetroffen. Dank der geschickten Lobbyarbeit von de Gramont und de Tournon fertigte Clemens sie mit erstaunlicher Schnelligkeit aus und verzichtete sogar auf die übliche Gebühr von 1500 Florinen, ohne zu ahnen, wohin das führen könnte. Der neue Erzbischof wurde am Passionssonntag, dem 30. März, in der St Stephen’s Chapel geweiht. Weil das Parlament gerade tagte, könnten einige Mitglieder ihn durchaus gehört haben, als er beim Schwur des Eides demonstrativ den Einwand vorbrachte, dass die Loyalität, die er dem Papst schulde, nicht seine Pflicht gegenüber dem König überragen dürfe. In den ersten Aprilwochen wurde das Gesetz zur Beschränkung von Berufungen im Unterhaus leicht abgeändert, die Lords hingegen nahmen offenbar keine Änderungen vor, und das Gesetz erhielt noch vor dem Wochenende die königliche Billigung.[31]
Cranmer übernahm am 1. April den Vorsitz in der Synode der Kirchendiener. Binnen weniger Tage hatte man die meisten, die noch bereit waren, an den Sitzungen teilzunehmen, gezwungen, Anträge zu unterstützen, die erstens argumentierten, dass die Heirat der Witwe des verstorbenen Bruders ausnahmslos durch Gottes Gesetz verboten sei, und zweitens, dass der Vollzug der Ehe Katharinas mit Arthur hinreichend erwiesen sei. John Fisher, der den Widerstand gegen den ersten Punkt anführte, wurde für kurze Zeit ins Gefängnis gesteckt und dann bis nach der Abstimmung unter Hausarrest gestellt. Dr. Richard Wolman bat, obwohl er Heinrich in Wolseys Geheimgericht 1527 vertreten hatte, vor dem zweiten Antrag darum, als Prolokutor der Synode zurückzutreten, angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Edward Foxe, der als Erzdiakon von Leicester in der Synode saß, wurde an seiner Stelle ernannt. Als Heinrich verlangte, diese Urteile zu seinen Gunsten in einem offiziellen Dokument zu beglaubigen, kam die Synode diesem Wunsch nach.[32]
Jetzt rückte Heinrichs und Annes Traum in den Bereich des Möglichen, und Heinrich begann offen über ihre Krönung zu sprechen. Alles, was jetzt noch fehlte, war ein förmlicher Prozess in Heinrichs Fall, den Cranmer nach Ostern eröffnen sollte. Am Mittwoch der Karwoche (9. April) schickte er eine von den Dukes of Norfolk und Suffolk angeführte Delegation nach Ampthill, um Katharina zu überreden, Cranmers Urteil zu akzeptieren, und man bot ihr alle möglichen Gefallen an, wenn sie nachgab. Als sie sich weigerte, sagte Norfolk ihr zum ersten Mal offen ins Gesicht, dass Anne und Heinrich bereits verheiratet seien. Nach ihrer Abreise brachte Lord Mountjoy, Katharinas Kämmerer, weitere schlechte Neuigkeiten: Heinrich würde ihr nicht länger gestatten, sich Königin zu nennen. Von jetzt an sollte sie nur noch als «Lady Katharina, Prinzenwitwe von England» angeredet werden. Einen Monat nach Ostern kürzte der König ihre Apanage und die Größe ihres Haushalts. Sie entgegnete trotzig, dass sie sich, solange sie lebe, Königin nennen werde. Katharina war nicht allein deshalb starrsinnig, weil sie Heinrich bestrafen wollte: Ihrer Meinung nach war die Ehe immer noch gültig, weil sie durch päpstliche Dispens gestattet und von Gott gesegnet worden sei, ein heiliges Sakrament, das kein Mensch, nicht einmal ein König überstimmen könne. Sie konnte sich niemals den Drohungen seitens der Minister des Königs oder Heinrichs persönlich beugen, weil das hieße, Gott zu leugnen. Sie bezog ihre Stärke aus ihrem Glauben – und aus Karl. Sie hoffte immer noch, dass ihr Mann zu ihr zurückkehrte, doch in der Zwischenzeit würde sie kämpfen, ganz gleich wie unglücklich oder abgewiesen sie sich fühlen mochte. Auf jeden Fall musste sie an ihre Tochter Mary denken. Katharinas Angst, als der König Henry Fitzroy in den Adelsstand erhoben hatte, war nichts im Vergleich zu der Gefahr für die Aussichten Marys, Königin zu werden, sollte Anne einen Sohn zur Welt bringen. Katharina würde auch für ihre Tochter kämpfen. Doch noch am Tag des Besuchs von Norfolk und Suffolk traf sie ein weiterer grausamer Schlag: Heinrich verbot hartherzig Mary, ihrer Mutter zu schreiben oder Nachrichten zu senden, und selbst als sie in ihrer großen Verzweiflung anbot, ihm alles zu zeigen, was sich die beiden einander schickten, beharrte er darauf. Wie Anne fürchtete auch Heinrich den Druck, der sich aufbauen könnte, falls sich Mutter und Tochter gegen ihn verbündeten.[33]
Annes großer Augenblick war schließlich am Karsamstag, dem 12. April, gekommen, im Greenwich Palace, wohin Heinrich und sie nach der Vertagung des Parlaments zurückgekehrt waren. Auf dem Weg zur Nachtmesse am Ostersonntag schritt sie feierlich gekleidet über die königliche Empore aus den Gemächern der Königin – Glaser brachten bereits ihre Wappenzeichen und Falken in den Fenstern an – zur Kapelle am anderen Ende des Gebäudes. Bei ihrer Ankunft entdeckte sie, dass Wolseys Wappen auf «die großen Orgeln in der Kapelle» gemalt war, und ordnete an, es durch ihr eigenes zu ersetzen. Wie der empörte Chapuys Karl mitteilte, sei sie «mit Juwelen beladen und in ein Gewand aus Stoff von Goldfäden gekleidet» gewesen, ein Stoff von der teuersten Machart, feinsinnig mit aufgesetzten Schleifen des feinsten Metallfadens in mehreren Höhen und Dicken gewoben. Zusammen mit ihrer Cousine, Lady Mary Howard, der Tochter von Norfolk, die ihre Schleppe trug, und in Anwesenheit von sage und schreibe sechzig Damen nahm sie «die Festlichkeiten» in Empfang, die man zuvor Katharina überreicht hatte. In der Kapelle angekommen, setzte sie sich auf die erhöhte Kirchenbank der Königin und verließ sie nur, um Almosen zu spenden, bis es an der Zeit war, in ihren Audienzsaal zurückzukehren.[34]
Noch am selben Tag änderte Anne ihren Titel von «Lady Marquis» zu «Queen», und Heinrich wies die Prediger an, öffentlich und namentlich für sie zu beten – ein Akt, der eingesetzten Monarchen vorbehalten war. Aber als George Browne am Ostersonntag in der voll besetzten Klosterkirche seine Gemeinde drängte, für «Königin Anne» zu beten, und so zur ersten Person wurde, der den Londonern jenseits des Hofes mitteilte, dass sie und Heinrich verheiratet seien, verließ mehr als die Hälfte die Kirche. «Die ganze Welt ist darüber erstaunt», schrieb Chapuys an Karl, «denn es wirkt wie ein Traum, und selbst jene, die sich auf ihre Seite stellen, wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen.» Voller Zorn bestellte Heinrich den Lord Mayor, Sir Stephen Peacock, ein und befahl ihm, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommen würde. Niemand, erklärte er, dürfe es wagen, «über diese Heirat zu murren». Von den Londoner Bürgersfrauen hieß es, sie schmähten Anne besonders heftig.[35]
Am Karfreitag hatte Cranmer demütig um Heinrichs Erlaubnis gebeten, ein erzbischöfliches Gericht zu eröffnen, «um die Prüfung, endgültige Entscheidung und das Urteil» der ersten Ehe des Königs fortzuführen. Sobald diese gewährt war, erhielten Heinrich und Katharina eine offizielle Ladung, vor ihm zu erscheinen, im Kloster Dunstable in Bedfordshire, fernab der Blicke der Öffentlichkeit. Die erste Sitzung fand am 10. Mai statt, Heinrich wurde von Dr. Bell vertreten. Katharina erleichterte das Ganze, indem sie nicht erschien. Der Prozess selbst begann am 12., als die Beweise, die zum großen Teil aus dem Prozess in Blackfriars wiederverwertet wurden, angehört wurden, und endete am 23., als Cranmer die Ehe für null und nichtig erklärte. Um den ganzen Vorgang abzuschließen, war jetzt nur noch der Urteilsspruch nötig, dass Annes und Heinrichs Heirat gültig sei.[36]
In London wartete de Dinteville auf Nachrichten und wollte unbedingt wissen (wie er Franz berichtete), «ob die andere Königin nun [Heinrichs] Frau ist oder nicht», machte sich aber mehr Sorgen hinsichtlich der Frage, ob eine erzbischöfliche Scheidung, gepaart mit einem Gesetz zur Einschränkung von Berufungen, Clemens womöglich dazu bringen könnte, das Treffen in Nizza abzusagen. Um das zu verhindern, drängte de Dinteville Heinrich, eine Verschiebung des Act in Restraint of Appeals in Betracht zu ziehen, doch der lehnte dies ab. Das galt auch für die Bekanntgabe von Cranmers Urteilsspruch, sobald er gefällt war. «Das ist unmöglich», erwiderte Heinrich, «weil er vor [Annes] Krönung, die am Pfingstsonntag stattfinden muss, veröffentlicht und allgemein bekannt sein muss.» Der Grund dafür, sagte er, sei naheliegend: Anne war sichtlich schwanger. «Das Kind soll der einzige Erbe des Königreichs werden. … Ich werde nicht zulassen, dass der Papst ein früheres Urteil fällt oder etwas unternimmt, um dessen Legitimität in Zweifel zu ziehen.»[37]
Am 28. Mai sprach Cranmer das Urteil von einer Empore im Palast des Erzbischofs in Lambeth, gegenüber von Westminster am anderen Themseufer gelegen, in Anwesenheit von Cromwell und vier weiteren Zeugen: Annes und Heinrichs Eheschließung sei gültig. Rasch wurde eine beglaubigte Kopie des Urteilsspruchs auf Pergament in die Unterlagen der königlichen Kanzlei aufgenommen, gleich nach dem zuvor ergangenen Erlass bezüglich der Scheidung. Damit war das weitere Vorgehen klar.[38]
Heinrich hatte in den vier Monaten seit ihrer heimlichen Hochzeit intensiv über das Format der Krönung von Anne in der Westminster Abbey nachgedacht. Am 28. April fing er an, Einladungen an die Frauen zu verschicken, auf deren Teilnahme an ihrem Krönungszug Anne bestand.[39] Er begann außerdem, den Krönungseid des Königs zu überarbeiten, sodass er die frisch «wiederentdeckte» imperiale Vollmacht widerspiegelte, wie sie im Dossier der Durham-House-Gruppe und in der Präambel zum Gesetz zur Beschränkung von Berufungen dargelegt wurde. Lediglich die erste Seite seines Entwurfs ist erhalten, aber die Änderungen waren drastisch und spiegelten seine Ablehnung der päpstlichen Autorität und die Behauptung des königlichen Supremats über die englische Kirche wider.[40]
Aber wenn Heinrich den Krönungseid des Königs überarbeitete, dann muss er, zumindest anfangs, auch eine zweite Krönung seiner eigenen Person zusammen mit Anne in Betracht gezogen haben, so wie er zu Beginn seiner Herrschaft auch darauf bestanden hatte, dass Katharina an seiner Seite gekrönt wurde. Eine zweite Krönung wäre eine Option gewesen, durch die er sich selbst hätte neu betrachten können. Falls dies tatsächlich für kurze Zeit erwogen wurde, so trat es nicht ein. Es blieb nicht genügend Zeit, um einen so radikalen Wandel der Tradition zu gestatten. Annes erster Auftritt als Königin während des Osterwochenendes war kein Zufall gewesen. Ostern war das heiligste Fest des christlichen Kalenders. Das zweitheiligste war der Pfingstsonntag – Pentekoste –, jener Tag, an dem der Heilige Geist in der Gestalt einer Taube am 50. Tag nach Ostern die Jünger überkam, gleichbedeutend mit der Gründung der Kirche. Wie Heinrich bereits de Dinteville erklärt hatte, bestand er unerbittlich darauf, dass Anne an diesem Tag gekrönt wurde. Auf jeden Fall musste sie gekrönt werden, bevor ihre Schwangerschaft noch unübersehbarer wurde.
Anne sollte allein gekrönt werden, doch hieß das keineswegs, dass bei der Zeremonie, der Ausstattung oder den öffentlichen Feierlichkeiten in irgendeiner Form Abstriche gemacht werden würden. Als Höhepunkt ihrer sechsjährigen Wartezeit und gemeinsamen Bemühungen würde Annes Krönung einen Übergangsritus zu ihrer Zukunft und ihrer Liebe markieren. Aber sie war zugleich ein Kuhhandel. Heinrich erfüllte das Versprechen, Anne alles zu geben, was sie sich wünschte, und im Gegenzug würde sie ihm nicht nur die Liebe, nach der er sich sehnte, schenken und die Liebe, die er nach seinem Empfinden brauchte, sondern auch den legitimen Sohn und Erben, der die Thronfolge sichern würde. In diesem wesentlichen Punkt sollte sich ihre Beziehung als zutiefst transaktional erweisen.