Für Anne glich es einem Drahtseilakt, ihren christlichen Glauben zu artikulieren. Während sie Protestantin aus Überzeugung war, konzentrierte sich der Eifer ihres Gatten ausschließlich auf den Papst und auf die Gegner seines Bruchs mit Rom. Zur Verzweiflung der lutherischen Fürsten in Deutschland, die sich gerne mit ihm verbündet hätten, betrachtete er deren Doktrin von der Erlösung allein durch den Glauben als echte Ketzerei. Und in Anbetracht des Hasses der Katholiken auf Anne als die Hure von Babylon, die Katharina als Königin verdrängt hatte, musste Anne ihre Position fein austarieren. Ihre Kritiker, insbesondere Chapuys, griffen sie wegen ihres angeblichen Luthertums an, obwohl sie – wie Heinrich – Luthers zentrale These ablehnte. Ihre religiöse Überzeugung ist bereits endlos diskutiert worden, aber nach ihrer eigenen Auffassung war sie eine Anhängerin Lefèvres, die, genau wie Königin Claude oder Margarete von Navarra, den katholischen Glauben oder die Kirche selbst nicht auflösen, sondern von innen reformieren wollten. Dass sie fromm war, stand nie infrage: Unter ihren geschätzten Besitztümern waren «zwei kleine Kerzenständer aus Elfenbein, mit Silber und Gold besetzt» für den Altar in ihrem privaten Betsaal.[1]
Geht es nach ihrem Kaplan William Latymer, waren ihre Gemächer Bienenstöcke der Frömmigkeit, in denen ihre Hofdamen die englische Bibel lasen und Kleider für die Armen nähten. Nicht lange nach ihrer Krönung sprach sie ihren Kaplanen und Beamten aufmunternde Worte zu: «Ihr wisst», erklärte sie, «dass Fürsten eben jene Quellen und Ursprünge sind, aus denen alle niederen Magistrate ihre Autorität beziehen.»
Wer, wie im Theater oder auf offener Bühne, die Hauptrolle spielt, zur Bewunderung der niederen Untertanen und der Menge. Und uns selbst ist die notwendige Bürde, die einer so hohen Person abverlangt wird, nicht völlig unbekannt; nicht begründete Wünsche, nicht verhätschelte Vergnügungen, nicht unzüchtige Freiheit oder nichtige Trübsal, sondern tugendhaftes Betragen, gottgefälliges Reden, sachliche Verständigung und redliche Lebensweise.[2]
Dass ihr königlicher Rang die Zurschaustellung von Luxus und Pracht erfordere, betonte sie, bedeute keineswegs, dass man Verschwendung, Überfluss oder Prahlerei dulden dürfe. Ihre überschüssigen Ressourcen wollte sie in Form von Almosen weitergeben:
Deren Verteilung, mit der ich Euch, die Ihr meine Almoseniers seid, und, in Eurer Abwesenheit, Euch meine Kaplane beauftragt habe, ist meine große Freude: Dass Ihr alle besonderen Wert auf die Auswahl solcher armen Leute legt, die es am dringendsten nötig haben; keine Landstreicher und faulen Bettler … sondern arme, bedürftige und [arbeits-]unfähige Haushaltsvorstände, die von Kindern überlastet sind, kein Auskommen, keinen Trost oder sonstige Erleichterung haben; und diesen teile ich meine Almosen freigebig zu.[3]
Wir dürfen dies als authentische Wiedergabe der Überzeugungen Annes auffassen: Als Augen- und Ohrenzeuge war Latymer imstande, korrekt die grundlegenden Elemente dessen wiederzugeben, was Anne sagte, auch wenn seine Sprache idealisiert ist.[4]
Als sich Richard Lyst, ein Laienbruder unter den Franziskanerobservanten in Greenwich, 1533 in einem Brief an Anne über seinen herrschsüchtigen Vorsteher John Forrest beschwerte, fügte er einen Dank für ihre «gute und wohltätige» Fürsorge für seine Mutter ein.[5] Laut Latymers Darstellung erhöhte Anne, abgesehen von dem Waschen und Küssen der Füße «einfacher armer Frauen» am Gründonnerstag, beträchtlich ihre Almosen für diesen besonderen Tag. Als sie hörte, wie eine ehrliche Empfängerin zugegeben hatte, dass sie versehentlich zu viel bekommen habe, ließ Anne deren Anteil zum Lohn verdoppeln. Sie verteilte «Hemden und Kittel und Laken», die ihre Hofdamen «zum Nutzen der Armen» genäht hatten. Als Anne im Sommer 1535 während einer längeren royal progress mit Heinrich auf dem Weg nach Bristol «einem aufrichtigen und eifrigen Anhänger des Wort Gottes» und dessen Frau begegnete, die in Not geraten waren, ermahnte sie die beiden, das von Gott gesandte Los zu akzeptieren, versüßte ihnen die bittere Pille jedoch durch das Geschenk einer Börse mit 20 Pfund in Gold.[6]
Latymers Schilderung wird durch Passagen in John Foxes Acts and Monuments (in den Ausgaben von 1563 und 1570) bestätigt. Nach einem kurzen Bericht über Thomas Mores Rücktritt als Lordkanzler im Mai 1532 fügte Foxe einen Abschnitt über Annes Wohltätigkeit ein, der sich auf Informationen stützte, die indirekt von ihrer Seidennäherin, der inbrünstig evangelischen Jane Wilkinson stammten, und direkter von Mary Howard und Simon Fishs Witwe. Laut Foxe verteilte Anne in dem Jahr vor ihrer Krönung jede Woche Kleider und 100 Pfund an Almosen an die Armen. Als Königin unterstützte sie großzügig Witwen und arme Haushaltsvorstände und verschenkte 3 und 4 Pfund auf einmal zum Kauf von Vieh. Sie schickte ihren Unter-Almosenier in die Orte rings um ihre Güter, um Listen der ärmsten Haushalte zu erstellen und ihnen anschließend Mittel zukommen zu lassen. Jeden Tag trug sie eine kleine Börse mit sich, aus der sie den Bedürftigen Almosen anbot.[7]
Annes Ethos stützte sich auf das Vorbild ihres wohltätigen Urgroßvaters Sir Geoffrey Boleyn und auf ihre religiösen Überzeugungen. Die Bücher, die sie am meisten schätzte, teilt uns Latymer mit, waren ihre Bibeln in französischer und englischer Sprache, insbesondere die Evangelien. Ein englischer Text stand für Mitglieder des Haushalts immer auf einem Lesepult zur Verfügung, «um darin zu lesen, wenn sie wollten». «Und auch Ihre Majestät», fährt er fort, «achtete in ihrer eigenen Person nicht die vielerlei Zeiten gering, um sich an den gewöhnlichen Schreibtisch zu begeben, wo die besagte Bibel auslag und gab damit anderen ein Vorbild für ähnliches Bestreben.» Gleichzeitig sorgte sie dafür, dass ihre Kaplane «mit den verschiedensten französischen Büchern ausgestattet wurden, welche die gesamte Schrift ehrerbietig behandelten; dabei klagte sie herrlich über ihre eigene Unkenntnis der lateinischen Sprache, wegen dessen Fehlens sie sich selbst auf wundersame Weise gebunden [gedemütigt, unvollkommen] wusste.»[8]
Nach ihrer Erhebung zur Lady Marquis of Pembroke verlangte Anne, dass alle ihre religiösen Texte Luxuseditionen sein mussten beziehungsweise dass, falls eine derartige Ausgabe nicht existierte, in Flandern ausgebildete Kunsthandwerker sie von Hand auf Pergament übertragen sollten, damit sie einer Königin würdig waren. Im Jahr 1534 sollte sie ein pergamentenes Exemplar der Antwerpener Edition Martin Lempereurs von Tyndales verbotenem New Testament erwerben. Auf der Titelseite waren ihren Wappenzeichen eingraviert und die Worte «Anna Regina Angliae» («Anna, Königin von England») auf die vergoldeten Buchecken gemalt. Von dem gleichen Drucker kaufte sie eine stattliche, zweibändige Ausgabe der überarbeiteten Fassung von Lefèvres vollständiger Bibelübersetzung ins Französische La saincte Bible en Francoys («Die heilige Bibel auf Französisch»). Sobald sie in ihrem Besitz waren, ließ Anne die beiden Bücher mit Prachteinbänden ausstatten, auf denen die Initialen «HA», in Gold geprägt, am oberen und unteren Rand der Einbanddeckel jeweils eine gekrönte Tudor-Rose flankieren.[9]
Von Chapuys erfahren wir, inwiefern Annes Bruder George ihre religiösen Ideale teilte und darauf bestand, die, wie der gelangweilte Gesandte es irrtümlich nannte, «lutherischen Grundsätze, auf die er so stolz sei», bei jeder Gelegenheit zu erörtern.[10] Auf ihre Bitte hin ließ George von Simon du Bois Bücher drucken, die als Vorlage für Prachtausgaben dienten. Die erste mit einem ganzseitigen Bild der Kreuzigung und Illuminationen von Annes Wappen als Lady Marquis war The Pistellis and Gospelles for the LII Sondayes in the Yere («Die Episteln und Evangelien für die 52 Sonntage im Jahr»). Gestützt auf Epistres et evangiles des cinquante et deux dimanches de l’an von Lefèvre aus einer in Alençon 1531/32 erschienenen und von der Sorbonne verbotenen Ausgabe enthält die fertiggestellte Handschrift die Schriftlesungen für jeden Sonntag im Jahr auf Französisch, gefolgt von Kommentaren, die George ins Englische übersetzte. In einem Vorwort an seine Schwester erklärt er:
Ich war so kühn, Euch nicht Juwelen oder Gold, wovon Ihr reichlich habt, zu schicken … sondern eine rohe Übersetzung eines Wohlwollenden, eine gute Sache mäßig ausgeübt, in dem überaus bescheidenen Wunsch, Ihr möget die Gnade haben, die Schwäche meines stumpfen Geistes zu erwägen und geduldig zu verzeihen, wo ein Fehler sein mag, stets in Anbetracht der Tatsache, dass ich aufgrund Eurer Anweisung gewagt habe, dies zu tun.[11]
Ein zweites Werk, das derselbe Schreiber kopierte, war The Ecclesiaste mit Text aus einer von Lefèvre vorbereiteten und von du Bois um 1531 gedruckten Ausgabe sowie einem Kommentar aus den Ecclesiastes Salomonis von Johannes Brenz, einem deutschen Protestanten. Das von Gerard Horenbout brillant mit kleinen illuminierten und acht größeren Initialen verzierte und reichlich mit Annes und Heinrichs Abzeichen und Wappentieren versehene Buch, das um 1899 für die Bibliothek von Alnwick Castle in Northumberland erworben wurde, hat immer noch seinen originalen (inzwischen verblassten) schwarzen Samteinband auf Holzdeckeln. Annes Wahlspruch The Most Happy ist aufgeprägt wie auch ihr Falkenabzeichen und ein kunstvolles Gerät mit einem Anker, das von einer Armillarsphäre herabhängt.[12]
Eine weitere edle Handschrift, die Anne als Königin geschenkt wurde, ist ein französisches evangelisches Gedicht mit 490 Zeilen: Le pasteur évangélique («Der evangelische Pastor»), eine Variante einer kürzeren Fassung, die später unter dem Titel Le sermon du bon pasteur et du mauvais («Die Predigt vom guten und vom schlechten Hirten») veröffentlicht wurde. In der späteren Form wurde das Gedicht in die Ausgabe von 1541 der Psaumes («Psalmen») von Clement Marot aufgenommen, das in Antwerpen erschien. Marot, der Meister der französischen Dichtung unter der Herrschaft Franz’ I., war ein prominenter Protestant, der bekanntermaßen von Margarete von Navarra aus dem Gefängnis gerettet wurde.[13]
Das Frontispiz von Annes Exemplar präsentiert auffällig ihr Wappenzeichen innerhalb eines Kranzes aus Eichenblättern, aus dem Eicheln sprießender gekrönte Silberfalke steht auf einem Baumstumpf. Die letzten fünfzig Zeilen, die die «Freundschaft» zwischen England und Frankreich über den grünen Klee preisen, vergleichen schmeichelhaft Anne mit Margarete und Heinrich mit Franz und enden mit der Prophezeiung, dass Christus, der gute Hirte, Anne einen Sohn nach Heinrichs Ebenbild schenken werde, dessen Heranwachsen zu einem Mann sie erleben werden. Der Geber ist noch nicht genau bekannt, aber zu den wahrscheinlichen Kandidaten zählt Jean de Dinteville.[14]
Von Latymer erfahren wir, dass Anne auf ihrer Seite des Hofes «selten oder nie» mit Heinrich speiste,
ohne dass ein Streit der Heiligen Schrift gründlich disputiert wurde. Und in gleicher Weise beteiligten sich ihr Lord-Kämmerer und Vizekämmerer für den Moment völlig bei all ihren Diners und Soupers an der Diskussion eines Zweifels oder etwas Anderen in der Schrift.
Heinrich schaltete sich «zu verschiedenen und vielerlei Zeiten» in diese Diskussionen ein. Einmal argumentierten er und Annes Onkel Sir James Boleyn gegen Hugh Latimer und Nicholas Shaxton und setzten anschließend ihren Wortwechsel schriftlich fort.[15]
Einmal habe Anne, so Latymer weiter, «gewisse müßige Gedichte» in ein Gebetbuch geschrieben gefunden – etwas, das Anne, wie er offenbar vergisst, während ihrer frühen Werbung um Heinrich selbst auch getan hatte, und offenbar Anne selbst möglicherweise auch vergessen hatte – und war entschlossen, den Schuldigen aufzuspüren. «Sie würde sich auf keinen Fall zufrieden geben, ehe sie nicht mit Sicherheit wusste, wem das Buch gehörte.» Als sie nach einiger Zeit herausfand, dass ihre Cousine Mary Shelton die Übeltäterin war, tadelte sie sie «auf wunderbare Weise, dass sie derart schamlos Spiele in ihren Gebetbüchern zuließ, die sie als einen Spiegel oder Glas bezeichnete, in dem sie lernen mochte, ihren umherirrenden Gedanken eine Richtung zu geben».[16]
Doch die Geschichte hat noch eine völlig andere Seite. Die Heilige Schrift und «Freizeit» (also Erholung und Vergnügungen) passten in Annes Haushalt nicht recht zusammen. Sowohl die Bücher, die Auskunft über Annes eigenes Vermögen geben (privy purse accounts), als auch die revels accounts (die Einblick in die Kosten offizieller königlicher Unterhaltungen geben), sind für die Jahre, in denen sie Königin war, verschollen, sodass uns ein Großteil des Glanzes, der Pracht und des Überflusses ihres Hofes verborgen bleibt. Es ist jedoch genügend erhalten, um uns zu zeigen, dass beinahe augenblicklich eine verblüffende Veränderung eintrat: Gut eine Woche nach Annes Krönung verfasste ihr Vizekämmerer Sir Edward Baynton einen redseligen Brief an ihren Bruder George, der zur Beobachtung des französisch-päpstlichen Treffens in Marseille gereist war. «Und was die Freizeit in den Privatgemächern der Königin angeht», schrieb er, «so gab es nie mehr davon. Wenn auch nur einer von euch, die ihr jetzt abgereist seid, eine Dame habt, von der ihr meint, sie würde euch mögen und wäre ein wenig traurig über die Trennung von ihrem Diener, so kann ich dasselbe an dem Tanzen und den Vergnügungen, denen sie hier frönen, nicht die Spur erkennen.»[17]
Die Verwendung des Wortes «Diener» in diesem Zusammenhang ist aufschlussreich. Mit «Diener» meinte er selbstverständlich serviteurs nach dem Kodex, der die Spiele der höfischen Liebe regelte: jene Männer, die, wie Margarete von Navarra so voraussichtig gewarnt hatte, Sex ohne Einschränkungen wünschten, ob eine Frau verheiratet war oder nicht.
Latymers Beschreibung hat wenig mit der Bayntons zu tun, und Lancelot de Carle bestätigte eher die Sichtweise des letzteren, als er Anne beschrieb, wie sie den Vorsitz über einen Hof der Vergnügungen und der höfischen Liebe nach französischer Art führte. In ihrem Umkreis gab es
Tänze, Spiele und vielerlei Zeitvertreibe,
Jagden und Vergnügen ohnegleichen
Zur Beschäftigung der Lords und demoiselles.
Viele Turniere wurden für die Damen geführt:
Jeder Mann legte seine Lanze an die Hüfte,
Oder kämpfte eifrig mit dem Schwert,
Schließlich endeten alle Vergnügen,
Belustigungen und Spielereien friedlich.[18]
Immer mit dabei war Annes Närrin, die Witze und anstößigere Kommentare beisteuerte. Für sie erwarb die Königin Kleider und eine «grüne Satinmütze», geschmückt mit «Saum und Verzierungen». Der Name der Närrin ist nicht bekannt, aber sie beherrschte mehrere Sprachen und hatte eine Pilgerreise nach Jerusalem gemacht. Womöglich handelte es sich um dieselbe «Jane the fool», die später sowohl Königin Katherine Parr als auch Heinrichs Tochter Mary diente.[19]
Dichtung, insbesondere in der lyrischen Form, war die Kunstform, über die sich das Spiel der höfischen Liebe zum großen Teil abspielte. Freundeskreise rezitierten poetische Texte nicht nur, sondern sangen und (in einem Fall) tanzten sie sogar.[20] Anhand der außergewöhnlichen Devonshire-Handschrift, die ihren Namen daher hat, dass sie Anfang des 19. Jahrhunderts von G. F. Nott aus der Bibliothek des Duke of Devonshire in Chatsworth entliehen wurde, können wir ablesen, wie diese Kultur in Annes Kreis aufblühte. Nott gab die Handschrift nicht zurück, stattdessen wurde sie im Januar 1842 verkauft und befindet sich jetzt in der British Library.[21] Das Büchlein im Taschenformat aus 114 Blättern samt zehn leicht fragmentarischen Vorsatzblättern kursierte unter einer Clique aus Freunden und Liebhabern zu privaten Zwecken; sie schrieben Gedichte hinein und fügten Kommentare und Unterschriften wie in einem Freundschaftsbuch hinzu. Möglicherweise begann das Ganze als amüsanter Zeitvertreib. Jedenfalls enthält das Büchlein Gedichte und Verse, manche im Original, etliche kopiert, und Auszüge aus literarischen Werken, die von Liebenden erzählen, die durch die Politik ihrer Welt getrennt waren; dazu kryptische Botschaften, Notizen, Ziffern, Anagramme, Marginalien und Zeugnisse von Liebe und Verlust. Viele Teile stammen aus Chaucers Versepos Troilus and Criseyde, das zu dieser Zeit dank William Thynnes Ausgabe der gesammelten Werke des Dichters von 1532 problemlos erhältlich war.[22] In einer bissigen Satire mit dem Titel Pasquil the Playne, gedruckt 1533, scherzte Sir Thomay Elyot, der Katharina unterstützte, dass man modebewusste Höflinge nie ohne ein Exemplar des Troilus zu Gesicht bekam.[23]
Der Inhalt der etwa im Laufe eines Jahrzehnts zusammengestellten Devonshire-Handschrift lässt vermuten, dass die intensivste Schreib- und Rezeptionsphase Mitte bis Ende der 1530er und Anfang der 1540er Jahre war. Das Büchlein gehörte ursprünglich offenbar Mary Howard (Fitzroys Ehefrau), weil die Initialen «MF» in Gold auf den vorderen Einband geprägt sind, aber Mary Sheltons Unterschrift findet sich auf dem Vorsatz, und sie fungierte als eine Art Aufseherin.[24] Zwölf bis zwanzig Personen haben daran mitgeschrieben, wobei manche Einträge kaum mehr als ein oder zwei Wörter umfassen, zufällig im Laufe der Jahre eingefügt und häufig mit vielen Lücken dazwischen. Es wimmelt nur so von Streichungen, Unterstreichungen, Tintenklecksen, Flecken und Randnotizen. Alles in allem sieht die Handschrift wie ein typisches Notizbuches aus.[25]
Die Devonshire-Handschrift beinhaltet drei wiederkehrende Motive: Die Heimlichkeit in der Liebe ist lebenswichtig, weil Ohren stets horchen und Augen immer schauen. Liebe ist niemals von Politik, Macht oder Verrat unberührt, ganz besonders gilt das für Frauen. Und Gefühle vorzutäuschen ist unerlässlich, weil unbedachte Liebesaffären unter Umständen katastrophale Konsequenzen haben. Das erste Gedicht vermittelt einen Eindruck:
Take hede be tyme leste ye be spyede [spied],
Yor lovyng Iyes [eyes] can not hide;
At last the trwthe [truth] will sure be tryde [tried];
Therefore, take hed [heed].
For Som ther be of crafite [crafty] Kynde,
Thowe [though] yow shew no parte of yor mynde,
Sewrlye there Ies [surely their eyes] ye can not blynde;
Therefore, take hed [heed].[*1] [26]
Auch wenn rund 129 von insgesamt 185 Gedichten in dem Bändchen Thomas Wyatt zugeschrieben wurden, dieses eingeschlossen, taucht seine Handschrift auf den Blättern nirgendwo auf, und es existiert kein Hinweis, dass er jemals damit zu tun hatte. Seine Kompositionen wurden entweder anderswo abgeschrieben oder, was wahrscheinlicher ist, der oder die Betreffende kannte sie auswendig.[27]
Das Büchlein landete um 1537 schließlich im Besitz von Margaret Douglas. Von den identifizierbaren Handschriften kommt die Mary Sheltons relativ häufig vor. Sie unterschrieb an zwei verschiedenen Stellen abgesehen vom Deckblatt mit ihrem Namen und fügte eigene Verse ein. An den Rand von einem schrieb sie «r[h]yme dogrel», einen Knittelvers. Neben ein anderes Gedicht kritzelte sie: «lerne es zu singen». An den Rand eines anderen, in dem ein liebeskranker Freier sich als «vor Kummer leidend» bezeichnet, kritzelte jemand (vermutlich Margaret Douglas) den giftigen Kommentar: «Vergiss es». Mary konterte: «Es lohnt sich». Allem Anschein nach standen sie und die Nichte der Königin sich nahe, weil ihre Einträge häufig auf die von Margaret folgen. Dann fügte, unter einer Endstrophe, Mary noch hinzu: «ondesyerd sarwes/reqwer no hyar/mary shelton» («unerwünschter Dienst/erfordert keinen Lohn/Mary Shelton»). Das Gedicht dürfte für sie geschrieben worden sein, weil die Anfangsbuchstaben der sieben Strophen das Akrostichon SHELTUN bilden. Solche Leistenverse und Rätsel, voller Doppeldeutigkeiten und versteckten Bedeutungen, waren alle Teil der höfischen Syntax, die Mary – und Anne selbst – nur zu gut kannten.[28]
Mit «songes» oder «balettes», also Liedern oder Balladen, bezeichneten die Zeitgenossen, auch Anne, diese Art von Gedichten, und nach seinem Tod wurde George Boleyn als vollendeter «makar» (Macher) «diverser Lieder und Sonnette» gewürdigt, wenn auch nicht in Wyatts Liga.[29] Mögliche Gedichte von George sind von Literaturexperten viel diskutiert worden, allerdings kann kein sicherer Kandidat für einen Kanon seines Werks genannt werden.[30] Einige Verse von ihm sind dem Vernehmen nach jedoch in dem ominösen Werk Courte of Venus («Hof der Venus») abgedruckt, das 1538 erschien und von dem kein vollständiges Exemplar erhalten ist.[31] John Harington, der Patensohn von Königin Elisabeth I., dessen Vater zu Heinrichs Musikern zählte und Wyatt persönlich kannte, nannte George als Autor eines gefeierten Gedichts in Courte of Venus, das in einer Variante in der Devonshire-Handschrift auftaucht, wo es Wyatt zugeschrieben wird. Unter der Überschrift «The lover complaineth of the unkindness of his love» («Der Liebhaber klagt über die Lieblosigkeit seiner Liebe») beginnt es wie folgt:
Meine Laute erwache; führe die letzte
Mühsal auf, die du und ich verschwenden,
und, was ich neu begonnen, das beende;
denn ist dieses Lied einmal verklungen,
so sei still Laute, denn ich habe es vollbracht.[32]
Ein weiterer wichtiger Mitwirkender an der Devonshire-Handschrift war der dreiundzwanzigjährige Lord Thomas Howard, dessen älterer Bruder William die Herausforderer bei Annes Krönungsturnier anführte. In seiner Handschrift sind 28 Gedichte geschrieben, hauptsächlich von Wyatt, einige etwas abgeändert, aber acht sind Eigenkompositionen von ihm.[33] Von den übrigen Einträgen sind zwei die Verse eines Verwandten von Mary Shelton, des siebenundzwanzigjährigen Edmund Knyvet, auch wenn keiner davon in seiner Handschrift geschrieben ist.[34]
Schrieb auch Anne etwas in das Buch? Manche Gelehrte behaupten, ein kryptisches Anagramm verweise auf sie:
am el men
anem e
as I haue dese
I ama yowrs an
Die Antwort darauf lautet demnach: ANNA.[35]
Doch das ist Wunschdenken. Das Anagramm hat keine offensichtliche Auflösung, und die Handschrift ist der Annes überhaupt nicht ähnlich. Die Zeilen sind willkürlich über diese Seite verstreut. Die Silbe «an» in der letzten Zeile ist keine Signatur. Das letzte «e» in der zweiten Zeile ist außerhalb der Reihe und wirkt eher hochgestellt. Möglicherweise probierte an der Stelle einfach jemand die Feder aus.[36]
Dichtung und Kunst, die in den Maskenbällen am Hof zur vollen Entfaltung gelangten, waren eng mit Tanz und Musik verbunden. Der Tanz war für gesellschaftliches und politisches Engagement an Heinrichs Hof von zentraler Bedeutung, und Anne tanzte in Masken, Verkleidungen und auf Festivals seit dem Château Vert. Mit Blick auf ihre Jahre mit Königin Claude schrieb de Carle: «Sie wusste, wie man gut singt und tanzt/… wie man die Laute und andere Instrumente spielt.» Ob in ihrer privy chamber Chansons von Jean Mouton und Claudin de Sermisy aufgeführt wurden, als sie Heinrichs Königin war, ist nicht mit Sicherheit bekannt. Der vielsagende Fingerzeig ist, dass das Musikbuch, das sie aus Frankreich mitbrachte, Vortragsbezeichnungen in einer allein in England verwendeten Type enthält.[37] Doch, und das spricht dagegen, hätten die Zweifel und Ängste, die damit verbunden waren, dass eine Frau Macht besaß, auch den Vorwurf provozieren können, sie sei eine tanzende Hure.[38]
Ein Lied auf den letzten Seiten von Annes Musikbuch mag uns einen etwas besseren Einblick vermitteln. Das Lied mit dem Titel Jouyssance vous donneray von de Sermisy war die Vertonung eines lyrischen Gedichts von Marot. Seine Texte befassen sich mit Liebe in all ihren Facetten, höfisch, komisch und ernst, und die Natur der hier versprochenen Vergnügen scheint unmissverständlich: «Ich werde dir Freude bereiten, meine Geliebte/Und ich werde dich führen, wohin deine lebhafte Hoffnung dich verführt./Ich werde dich nie wieder verlassen, wenn ich tot bin.» Eine imaginäre Vorführung eben dieses Liedes, die um das Jahr 1520 entstand, ist auf einem bemerkenswerten Gemälde vom sogenannten «Meister der weiblichen Halbfiguren» zu sehen. Dort wird das Stück von drei Frauen zu ihrem privaten Vergnügen aufgeführt. Mit der Partitur auf einem Tisch vor ihnen, spielt eine die Flöte, eine andere die Laute, während die dritte singt.[39]
In Annes privaten Gemächern herrschte ein munteres Treiben, das zum Nachdenken über das größte Rätsel von allen anregt: In Anbetracht der neuen Leichtigkeit, mit der Männer die Räume der Königin aufsuchen konnten, welche männlichen Höflinge außer Lord Thomas Howard fanden noch dorthin, während die Aufmerksamkeit auf etwas Anderes gerichtet war? Anfangs kamen die engsten Vertrauten Heinrichs auf einen Sprung vorbei, um Anne hauptsächlich (wie sie meinten) «die Aufwartung zu machen», um ihm zu schmeicheln, dass er eine wahre Vorzeigefrau geheiratet habe, und aus Eigeninteresse. Schon bald merkten sie jedoch, dass die neckischen Spielchen und der gesellschaftliche Umgang mit diesen Frauen diesen Gang zu einem sehr angenehmen Zeitvertreib machten. Unter den männlichen Höflingen, die ein und aus gingen – abgesehen von Annes Onkel Sir James Boleyn und anderen hohen Beamten –, hatte ihr Bruder George das Sagen. Sie hatten sich schon immer nahegestanden, und Annes Aufstieg war zum großen Teil ein Familienprojekt der Boleyns.
Aufgrund der Logistik höfischer Kommunikation erschien Henry Norris als der oberste Kammerherr des Königs zwangsläufig ebenfalls regelmäßig und überbrachte Botschaften. Als einer der Lieblingsdiener Heinrichs spätestens seit 1517 teilte er Annes evangelische Sympathien und war froh, dass sein Sohn in ihrem Haushalt von Nicholas Bourbon erzogen wurde. Mit Anfang dreißig und kürzlich verwitwet, kam er für Annes Hofdamen als möglicher Ehemann durchaus in Frage. Sein Wappen zeigte einen Zwergfalken, und Baynton schreibt in seinem Klatschbrief an George, unmittelbar nach der Stelle mit den serviteurs: «Es gibt einen Falken, der ein Merlin genannt wird, von dem ich denke, er ist noch nicht bereit zum Vergnügen, in diesem Land umherzufliegen.» Wenn Baynton damit Norris meint, was stark anzunehmen ist, so gibt uns dies zu verstehen, dass dieser, auch wenn er noch nicht bereit war wieder zu heiraten, doch als gute Partie für Annes unverheiratete Damen angesehen wurde.[40]
Francis Weston, einer der Knights of the Bath, die während Annes Krönung berufen wurden, und ein Neffe William Westons, Prior des Johanniterordens, zählte ebenfalls zu den Besuchern: Das wissen wir, weil Anne kein Geheimnis daraus machte.[41] Heinrich mochte ihn ebenfalls, zahlte für seine Kleidung und schenkte ihm anlässlich seiner Hochzeit Geld. Der 1511 geborene Weston, der seit seinem einundzwanzigsten Geburtstag ein gentleman of the privy chamber war, war ein bekannter Tänzer, Reiter und Tennisspieler und auch berühmt für sein Geschick beim Kartenspiel, beim Bowls und im Würfelspiel, wo er gelegentlich Annes Partner war und regelmäßig Heinrich schlug. Seine Heirat mit Anne Pickering, der Tochter und Erbin von Sir Christopher Pickering of Killington in Cumbria, hielt ihn nicht davon ab, das Spiel der höfischen Liebe mitzuspielen. George Cavendish beschrieb ihn als jemanden, der «schamlos ohne Angst oder Hemmung lebte», der, da er keinen Gott fürchtete, «seiner Fantasie und liederlichen Lust» folgte.[42]
Mark Smeaton war ein Musiker und groom of the privy chamber, der gelegentlich von Anne gerufen wurde, um das Virginal zu spielen. Möglicherweise hat er seine Laufbahn im Dienst für ihren Bruder begonnen, der sein Exemplar einer französischen Übersetzung des Liber Lamentationem Matheoluli aus dem 15. Jahrhundert Smeaton schenkte. Er schrieb hinein: «A moi, M. Marc S.». Das Manuskript, das inzwischen in der British Library aufbewahrt wird, enthält nicht nur die lateinische Satire auf Frauen und das Elend der Ehe in Versen von Matheolus (oder Matthaeus von Boulogne) selbst, sondern auch die Widerlegung des Übersetzers.[43] Ansonsten ist Smeaton eine schemenhafte Figur, über die wenig bekannt ist. Ein Gelehrter behauptet, dass mehrere Kommentare in Annes Musikbuch von Smeaton stammten, doch es gibt keinen Beleg dafür. Allgemein ist man sich einig, dass er aus niederem Stand kam: Cavendish behauptete, sein Vater sei Tischler gewesen und seine Mutter habe sich mühsam mit Spinnen den Lebensunterhalt verdient.[44]
Von William Brereton, der im Juni 1530 eine Belohnung in Höhe von 40 Pfund bekommen hatte, weil er Heinrichs Bittgesuch an den Papst durch das ganze Land zur Unterschrift getragen hatte, heißt es häufig, er habe viel Zeit in den Gemächern der Königin verbracht, doch das ist eher unwahrscheinlich.[45] Die unzuverlässige Spanish Chronicle behauptet, er sei unter denjenigen gewesen, denen Anne besondere Gunst erwiesen habe, nennt dafür jedoch keinen Beweis.[46] Wie dem auch sei, Brereton war mit Ende vierzig kein edler Jüngling, der um Anne herumscharwenzelte. Da er seinen Vater als Kämmerer von Chester abgelöst hatte, bevor Anne Königin wurde, war er nicht mehr häufig am Hof. Bayntons Klatschbrief an George beginnt mit den Worten: «Meister William Brereton ist seit der Abreise von Eurer Lordschaft, um in der Angelegenheit, die Eure Lordschaft mir anvertraut haben, Gespräche zu führen, nicht mehr hier gewesen.» Höchstwahrscheinlich hatte sein jüngerer Bruder Urian, mit dem Anne auf die Jagd ging, mehr mit ihr zu tun.[47]
Am bemerkenswertesten ist die Abwesenheit Thomas Wyatts: Es existiert kein Hinweis darauf, dass er Annes Seite des Hofes aufsuchte, während sie Königin war. Es ist gut möglich, dass er, nachdem er seinen Vater als Mundschenk auf dem Krönungsbankett vertreten hatte, einen großen Teil der folgenden drei Jahre damit verbrachte, den Status seiner Familie in Kent und Yorkshire zu festigen. Im Jahr 1535, als er zum Ritter geschlagen wurde, sicherte sich Wyatt das einträgliche Amt des Verwalters des Klosters von West Malling in Kent und eine achtzigjährige Pacht auf Arygden Park in Yorkshire. Aus der erhaltenen Korrespondenz geht hervor, dass er das Amt des Verwalters Heinrich verdankte, nicht Anne.[48] Abgesehen von der Devonshire-Handschrift liegen keine bezeichnende Beispiele für Tändeleien vor, die Bayntons Enthüllung untermauern würden, dass «nie mehr Freizeit in den Gemächern der Königin» geherrscht habe als unter Königin Anne. Der Schweigekodex, der das Thema umgibt, ist verständlich: Sowohl die Ehre als auch die Diskretion erforderten dies. Es gibt jedoch eine sensationelle Ausnahme, die belegt, inwiefern die Disziplin in Annes Gemächern nachlässiger als unter Katharina wurde, mit einer relativ ungehinderten Vermischung der Geschlechter.
Im schwülen Sommer des Jahres 1535, als der Hof nach Bristol reiste, befand Margaret Douglas, inzwischen knapp zwanzig, es für gut, mit Lord Thomas Howard nicht nur Gedichte auszutauschen, sondern auch eine heiße sexuelle Affäre zu beginnen. Die Devonshire-Handschrift enthält 17 Gedichte in ihrer Handschrift (und sie markierte oder kommentierte weitere 43), und mindestens ein führender Wissenschaftler ist fest davon überzeugt, dass Margaret mittels dieser Gedichte eine Chronik über die frühe Phase der Beziehung führte sowie über ihr eher verhängnisvolles Ende:[49] Die höfische Liebe mit ihrer erheiternden Sprache und Schlagfertigkeit, der Musik, Dichtung und dem erregten Schauer war schließlich außer Kontrolle geraten. Acht oder neun Monate nach Beginn der Beziehung, um Ostern 1536, machte ihr Liebhaber ihr heimlich einen Antrag, und kurz danach ließen er und Margaret Douglas sich heimlich trauen, wobei sie sich gegenseitig das Jawort gaben, per verba de praesenti («durch in der Gegenwart gegebene Schwüre»), und nicht de futuro, was – wenn es sich denn so zugetragen hat – hieß, dass sie gesetzlich verheiratet waren.[50]
Das Paar gab sich große Mühe, damit Anne keinen Verdacht schöpfte, und das gelang ihnen auch – erst sechs Wochen nach Annes Hinrichtung kam die Wahrheit allmählich ins Licht. Cromwell beauftragte den jungen, ehrgeizigen Angestellte im königlichen Siegelamt Thomas Wriothesley, der Teile der ersten Fassungen des King’s Book zur Scheidung kopiert und William Brereton geholfen hatte, Unterschriften für das Bittgesuch an den Papst zu sammeln, die Befragungen vorzunehmen.[51] Ein entsetzter Thomas Smith, ein Diener von Lord Thomas, sagte aus, wie sich sein liebeskranker Herr in den Gängen in der Nähe von Annes privaten Gemächern herumdrückte und abwartete, bis er freie Bahn hatte. «Er beobachtete stets», sagte er, «bis meine Lady Boleyn[52] gegangen war und stahl sich dann in ihre Kammer», um mit Margaret zu schlafen. Hinzu kam, Mary Howard war häufig anwesend, half den Sündern und stiftete sie noch an.[53] Als Lord Thomas selbst verhört wurde, gestand er, dass die Affäre vor «rund zwölf Monaten» begonnen habe und dass das Paar Zeichen ausgetauscht habe. Er hatte Margaret Krampfringe geschenkt, und sie schenkte ihm einen Diamanten und ein Miniaturporträt von sich. Eine weitere Komplizin ihrer Affäre war Annes Hofdame Margaret Gamage, die später Lord William Howard als seine zweite Frau heiratete.[54]
Das Paar hatte Margarete von Navarras klugen Rat missachtet, dass eine Frau am Königshof eine Liebe meiden sollte, die zu mächtig wird, um verheimlicht zu werden. In der Folge begann in Annes Haushalt, direkt vor ihrer Nase, eine absolut verbotene Affäre, an der keine geringere Person als Heinrichs Nichte beteiligt war. Wusste Anne davon und tolerierte die Beziehung, was in Anbetracht des strengen Protokolls für Eheschließungen in der Königsfamilie oder auch ihrer eigenen strikten Zurückweisung ihrer Schwester Mary wegen eines vergleichbaren Verstoßes unwahrscheinlich ist? Oder verlor sie die Kontrolle über das, was in ihrem unmittelbaren Umfeld geschah? Wie dem auch sei, die Affäre enthüllte eine Verletzlichkeit, die Annes Sache abträglich war.
*1 Gib Acht beizeiten, auf dass man dich nicht ausspioniert,/Deine liebenden Augen können sich nicht verstecken;/Am Ende wird die Wahrheit gewiss auf die Probe gestellt;/Deshalb gib Acht./Denn manche sind von schlauer Art,/Auch wenn du nichts von deiner Gesinnung zeigest,/So kannst du doch deren Augen gewiss nicht blenden,/Deshalb gib Acht.