Annes Verhaftung war der Anfang ihres Endes. Ihr Pakt mit Heinrich hatte darin bestanden, dass sie ihm den Sohn schenken würde, den Katharina ihm nicht geben konnte. In dieser Hinsicht war sie kläglich gescheitert, und die Reaktion des Königs auf ihre jüngste Fehlgeburt ließ lediglich darauf schließen, wie sehr er ihr die Schuld gab und wie wenig Hoffnung er inzwischen auf eine weitere Schwangerschaft hatte, die erfolgreich mit der Geburt eines Sohnes enden würde. Niemals gab sich Heinrich an etwas selbst die Schuld: Wenn er überzeugt war, dass seine Frau ihm geschadet hatte, dann waren ihre Tage als Königin gezählt. Er war ein Herrscher, der inzwischen in der Mitte des Lebens stand und eine schwarz-weiße Weltanschauung hatte: Es gab gehorsame Untergebene, und es gab Feinde, die besiegt werden mussten. Wolsey hatte nach seiner Verhaftung auf dem Weg nach Süden Sir William Kingston, der ihn damals eskortierte, gewarnt, dass er, sollte er jemals in den Rat des Königs aufgenommen werden, «gut beraten und seiner Sache sicher sein [müsse], welche Angelegenheit Ihr ihm in den Kopf setzt, denn Ihr werdet sie nie wieder aus ihm herausbekommen». Anne wusste von dem Vorfall vermutlich gar nichts, aber sie hätte gewiss verstanden.[1]
Am Freitag, dem 5. Mai, nach der Verhaftung von Francis Weston und William Brereton, schloss sich Heinrich in Whitehall ein. «Seine Gnaden kam, in diesen vierzehn Tagen, nicht heraus», teilte John Husee Viscount Lisle mit, «außer in den Garten, und nachts in seinem Boot, zu Zeiten, wo niemand ihn hindern konnte.»[2] Er wollte jedes Detail der bevorstehenden Gerichtsverhandlungen kontrollieren, genau, wie er es fünfzehn Jahre zuvor beim Duke of Buckingham getan hatte. Von seinen Beratern war nur Cromwell vollständig eingeweiht. Wenige Tage vor Beginn der Anhörungen wechselte der König von Whitehall nach Hampton Court. Ansonsten zog er sich weitgehend zurück. Eine Nachrichtensperre wurde verhängt, selbst für hohe Ratsmitglieder. Spät am Donnerstag, dem 11., warnte Sir William Paulet Cromwell eindringlich, dass der Duke of Norfolk, obwohl er auserwählt worden war, dem Gericht vorzusitzen, nicht sicher sei, ob er weitermachen solle. Er könne in der Angelegenheit keine weiteren Schritte unternehmen, «bis er die Pläsier des Königs kenne, und deshalb veranlasste er mich, dies Euch kund zu tun». Kurz danach erhielt der Herzog die Nachricht, man erwarte von ihm, dass er am nächsten Morgen den ersten Prozess eröffne.[3]
Cromwell, der unbedingt alle potenziellen Puzzleteile nützlichen Beweismaterials von der bereits geschlagenen Königin zusammentragen wollte, wies Kingston an, ihm jedes einzelne Wort, das sie von sich gab, direkt zu melden – eine Aufgabe, die der loyale Turmwächter akribisch ausführte. Er verfolgte, belauschte und dokumentierte alles, was Anne sagte, eifrig unterstützt von den vier sorgfältig ausgewählten Damen, die Heinrich dazu ausersehen hatte, ihr aufzuwarten und sie auszuhorchen. Sie verabscheuten Anne allesamt von Herzen, eine von ihnen gab sogar heimlich Informationen über sie an Chapuys weiter.[4] Die Königin konnte weder von ihrer Tante Lady Elizabeth Boleyn noch von Kingstons Frau Lady Mary Mitgefühl erwarten. Die anderen beiden Damen waren Mrs Coffyn und, laut dem Transkript des Antiquars John Strype, eine gewisse «Mistress Stonor». Abgesehen davon, dass sie tagsüber jede Bewegung Annes überwachten, schliefen Lady Boleyn und Mrs Coffyn auf Pritschen direkt an der Tür zu ihrem Schlafzimmer, um ganz sicher zu gehen, dass alles, was sie sagte, und sei es im Schlaf, Cromwell zu Ohren kam.[5]
Margaret Coffyn sind wir bereits als Frau von Annes Oberstallmeister begegnet. Sir William hatte es nunmehr eilig, in der Hexenjagd, zu der sich die Säuberung von Annes innerem Kreis rasch auswuchs, seine eigene Haut zu retten, und bot bereitwillig seine Frau als Spionin Cromwells an. Die Identität der fraglichen «Stonor» kann jetzt erstmals auf zwei Frauen eingegrenzt werden: Eine Kandidatin ist Elizabeth Stonor, Ehefrau von Walter Walsh, einem engen Vertrauten des Königs, und William Comptons Witwe. Um 1540 heiratete sie wiederum Sir Philip Hoby und wurde von Holbein gezeichnet. Die andere Kandidatin ist ihre Mutter, auch sie hieß Elizabeth, die zweite Frau von Sir Walter Stonor of Stonor Park, Oxfordshire, mit der die Boleyns in einem erbitterten Streit lagen. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die ältere Frau, weil die jüngere während Annes Zeit als Königin mit «Mistress Walsh» angesprochen worden wäre. Keine von beiden zählte laut den Aufzeichnungen zu Annes Haushalt, doch eine von ihnen ritt bei Jane Seymours Leichenzug an der Seite von Margery Horsman. Die Boleyns begingen den verhängnisvollen Fehler, einen extravaganten Verwandten, Adrian Fortescue, in einem heftigen Besitzstreit zu einem Zeitpunkt zur Seite zu stehen, als Cromwell die Stonors unterstützte. Der Umstand, dass Sir Walter ein weiterer Spitzel des königlichen Sekretärs war, goss lediglich Öl ins Feuer.[6]
Anne hegte gegen alle vier Frauen eine Abscheu. Sie beschwerte sich zweimal wortreich bei Kingston. «Ich denke», sagte sie beim zweiten Mal bissig, es zeigt «eine große Lieblosigkeit beim König, mir solche [Frauen] zuzuteilen, die ich nie mochte». Auf Kingstons Antwort «Ich zeigte ihr, dass der König sie für ehrenwerte und gute Frauen halte» erwiderte Anne: «Ich hätte [jene] … vorgezogen, die ich am liebsten mochte.»[7]
Der erste Brief Kingstons schilderte, wie Anne sich von dem Moment an verhielt, als ihre Barke am Tower anlegte. Anfangs war sie einer Panik nahe. «Muss ich in ein Verlies gehen?», fragte sie ängstlich. Diesbezüglich konnte der Constable sie beruhigen. «Nein, Madam», erwiderte er, «Ihr werdet in Eure Gemächer ziehen, in denen Ihr bei Eurer Krönung gelegen habt.» Vor Erleichterung überwältigt, brach sie zusammen. «Das ist zu viel des Guten für mich», sagte sie und fiel in einem Weinkrampf auf die Knie. Doch dann wechselte sie, zu Kingstons Erstaunen, «in ein großes Gelächter», was sie «seither viele Male getan hat» – ein Anzeichen für die starke psychische Anspannung, unter der sie stand.[8]
Beim Betreten ihrer Gemächer war sie wiederum etwas gefasster und ersuchte Kingston, er solle Heinrich dazu «bewegen», ihr das heilige Sakrament «in dem Kabinett neben ihrer Kammer» zu gewähren, sodass «sie um Gnade beten möge». Ein oder zwei Tage später wiederholte sie ihre Bitte, als sie auch nach ihrem Almosenier John Skip fragte (er war nach der Befragung wegen seiner flammenden Predigt mittlerweile wieder auf freiem Fuß). Als sie sich weiter erkundigte, ob Kingston wisse, weshalb sie verhaftet worden sei, ließ sie durchblicken, dass sie eine gewisse Vorstellung von den möglichen Anklagen habe, vermutlich aufgrund der Befragung am selben Morgen durch ihren Onkel Norfolk. Sie sei, schwor sie, «frei von Männergesellschaft». Sie sei Heinrichs «wahrhaftig angetrautes Weib», habe jedoch gehört, dass man sie des Ehebruchs mit drei Männern anklagen werde. Ihr Problem sei es, dass sie keine Möglichkeit habe, ihre Unschuld zu beweisen, «ohne meinen Körper zu öffnen». Woraufhin sie sehr theatralisch «ihr Gewand aufknöpfte». Dabei entblößte sie ihre blütenweißes leinenes Unterkleid als Ausdruck ihrer Schuldlosigkeit.[9]
Sie hatte sehr wohl eine Vorstellung davon, wer zwei der Männer sein könnten. Norris, von dem sie glaubte, er habe sie womöglich angeklagt, befinde sich mit ihr im Tower, sagte sie, wie auch Mark Smeaton. Als Antwort auf ihre Ängste um den Aufenthaltsort ihres Bruders teilte Kingston ihr mit, er habe ihn am Vormittag «vor dem Essen am Hof» gesehen und ihn in Whitehall zurückgelassen, was nicht der Wahrheit entsprach, weil man George und Norris bereits zuvor am Tag in den Tower gebracht hatte.[10] Sie machte sich aber auch Sorgen um ihre Mutter, die, wie sie meinte, «vor Kummer» sterben werde, und um Elizabeth Browne, deren Kind sich, wie sie gehört habe, aus Angst um sie «in ihrem Leib nicht mehr rühre», was stark vermuten lässt, dass Anne nicht wusste, dass Browne sie ebenfalls belastet hatte.[11]
Nun fragte Anne Kingston, ob sie ohne Gericht sterben werde, und der Constable tadelte sie scheinheilig. Das sei ausgeschlossen, sagte er, weil selbst «der ärmste Untertan des Königs Gerechtigkeit erfahren» habe. Die Lachanfälle, die sie daraufhin bekam, waren absolut höhnisch; sie war lange genug an Heinrichs Seite gewesen, um zu wissen, wie ihr Gatte vorging. Etwa einen Tag später kam sie erneut auf das Thema zu sprechen und meinte: «Mir wird Gerechtigkeit widerfahren.» Als Kingston antwortete: «Zweifelt nicht daran», erwiderte sie zuversichtlich: «Wenn irgendein Mann mich anklagt, kann ich nur ‹Nein› sagen, und sie können keine Zeugen vorweisen.» Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was Cromwell alles gegen sie in der Hand hatte.[12]
Was sich Cromwell am sehnlichsten von Anne wünschte, waren Informationen über irgendeine Person, die er auch noch hineinziehen konnte, frische Beispiele für ihre sorglose Redeweise und die Bestätigung, dass die Zwischenfälle, von denen er vom Hörensagen wusste, auch wirklich stattgefunden hatten. Erst dann konnte er sie als belastend ausgeben und zugleich den Kreis der Angeklagten ausweiten. Sie hätte kaum entgegenkommender sein können. Von ihrer misslichen Lage und der Plötzlichkeit eingeschüchtert, konnte sie kaum klar denken und redete und redete, «plapperte» geradezu, wie es einmal hieß, bisweilen fast schon unzusammenhängend. Indem sie eingestand, dass Smeaton und Norris möglicherweise verhaftet worden seien, gab sie allem Anschein nach zu, dass die Disziplin in ihrer privy chamber womöglich zu nachlässig und ihr Verhalten taktlos gewesen sei. Sie machte sogar Scherze darüber, indem sie Mary Kingston fragte, ob jemand den Gefangenen die Betten mache. Auf die Antwort, dass dies unwahrscheinlich sei, spielte sie mit den Wörtern «pallets», was Betten heißt, und «ballets» im Sinne von jener Art von Dichtung, die sich in ihrem engsten Kreis und in der Devonshire-Handschrift großer Beliebtheit erfreute und für die, neben Wyatt, ihr Bruder George bekannt war: Smeaton und Norris «might make ballets well now», spottete sie.[13]
Außerstande, sich zu beherrschen, lieferte sie Details, die nur weiter bewiesen, wie nachlässig es dort zugegangen war. Am Mittwoch, dem 3. Mai, schilderte sie Mrs Coffyn eben jene Vorfälle mit Norris und Weston, welche die Krise ausgelöst hatten und von denen Cromwell bislang nur über seine Spione gehört haben konnte. Dass Anne mit eigenen Worten bestätigte, dass diese Begegnungen tatsächlich stattgefunden hatten, war mehr, als Cromwell sich hatte erträumen können. Das galt auch für den Vorfall mit Mark Smeaton. Über William Brereton sagte sie kein Wort. Möglicherweise wurde ihr nicht gesagt, dass er verhaftet worden war? Oder womöglich gab es dazu schlicht nichts zu sagen?[14]
Die wenigsten wagten es, sich offen für Anne oder für einen anderen Gefangenen auszusprechen: Zu ihnen zählten Westons Frau und Mutter, ferner George Boleyns Frau Jane Parker, sowie Jean de Dinteville und Erzbischof Cranmer. Da Anne schon immer eine polarisierende Person gewesen war, hatte sie nie die Fähigkeit oder vielmehr den Willen besessen, standhafte Anhänger um sich zu scharen, und sich weitgehend auf ihre Familie und deren Beziehungen gestützt.
Als sie sich die Niederlage eingestand, hoffte sie auf Hilfe von anderer Seite. Ihre Überzeugung, dass «der größte Teil Englands für mich betet», grenzte bereits an eine Wahnvorstellung, und sie hoffte vergeblich darauf, dass ihre Freunde einschritten. Wie Kingston Cromwell mitteilte, hatte sie ausgerufen: «Ich würde zu Gott [beten], dass ich meine Bischöfe hätte, denn sie würden alle für mich zum König gehen.» Außer Cranmer und Skip war in Wirklichkeit weit und breit keiner von ihnen zu sehen. Nicholas Shaxton, ihr erster Almosenier, denunzierte sie gegenüber Cromwell sogar als eine Frau, «die mich überaus getäuscht hat».[15]
Westons Mutter, die laut Lancelot de Carle «großen Schmerz litt», kam persönlich, um sich für Henry einzusetzen. Westons Frau Anne, eine Erbin aus eigenem Recht, bot ihre sämtlichen Einkünfte und Besitztümer für seine Freilassung an. Jane Parker schickte Francis Bryan und Nicholas Carew als Mittelsmänner in den Tower, um nachzusehen, wie es George ging, und ihm mitzuteilen, dass sie «demütig Seine Gnaden den König um ihren Gatten bitten werde». George zeigte sich dankbar wegen der Bemühungen seiner Frau, fragte Kingston jedoch, nunmehr selbst unter Tränen, wann er denn von dem Rat befragt werde – im Glauben, dass eine solche vor seinem Prozess noch stattfinden werde, und im Unklaren darüber, dass Cromwell bereits den eigentlichen Prozess vorbereitete.[16]
Jean de Dinteville, der verspätet am 17. Mai aus Boulogne eintraf, setzte sich ebenfalls vergeblich für Weston ein, dessen Vater er persönlich kannte.[17] Der einzige «ihrer» Bischöfe, der seine Stimme für Anne erhob, war Cranmer, und auch das nur ambivalent. Cromwell hatte, weil er seine Intervention fürchtete, am Tag ihrer Verhaftung und der ihres Bruders eine dringende Vorladung nach Lambeth Palace geschickt, die Cranmer auch jeden Versuch untersagte, sich mit dem König zu treffen. Weil alles, was Cranmer wusste, aus der Gerüchteküche kam, beschloss er am Mittwoch, dem 3. Mai, eine sorgfältig formulierte Verteidigung Annes an Heinrich aufzusetzen: «Ich bin in einer so großen Verwirrung», begann er, «dass mein Verstand völlig erstaunt ist; denn ich hatte noch nie eine bessere Meinung von einer Frau als von ihr, was mich dazu veranlasst anzunehmen, dass sie nicht schuldig sein dürfte.» Aber der Erzbischof, der Heinrich lange genug kannte, war immerhin so besonnen, sich den Rücken freizuhalten: «Und wiederum glaube ich, dass Eure Hoheit nicht so weit gegangen wäre, es sei denn, dass sie gewisslich schuldig gewesen war.»[18]
Mit einem Brief, der von doppelten Verneinungen, Zweideutigkeiten und ausweichenden Formulierungen nur so wimmelte, beruhigte Cranmer, ohne ein allzu großes persönliches Risiko einzugehen, sein eigenes Gewissen. Ob Heinrich seinen Brief las – einmal angenommen, er ist überhaupt bis zu ihm gelangt –, ist fraglich. Wenn ja, dürfte er ihn allenfalls überflogen haben, weil sein Entschluss bereits feststand. Er konnte sich – abgesehen von der sittsamen Jane Seymour – auf nichts anderes konzentrieren als auf den Umstand, dass man ihn brutal hintergangen hatte.
Heinrich wollte auf seine Weise Gerechtigkeit. Sein Stolz war bitter verletzt worden, und als Ausdruck dieses Gesinnungswandels setzte er sich an die Arbeit und begann eine «Tragödie» nach eigener Konzeption zu schreiben, in der Annes angebliche sexuelle Verbrechen scharf getadelt wurden – man konnte beobachten, wie er das Manuskript bei sich trug und es in Momenten blinder Wut Chapuys und anderen zeigte. Als Erstes behauptete er, dass mehr als hundert Männer unerlaubten Sex mit Anne gehabt hätten. Als er eines Abends mit John Kite, dem Bischof von Carlisle, speiste, einem ehemaligen Protegé Wolseys, und Kingston’s Partner beim Kartenspiel, erklärte Heinrich, dass er diese Wende der Ereignisse «schon lange erwartet» habe. Er zeigte seine «Tragödie» daraufhin Kite, der sie kurz durchblätterte und sich später erinnerte, dass sie eine Passage enthielt, in der sich Anne und ihr Bruder über die Dichtung des Königs lustig gemacht hätten. Das klingt glaubhaft, und eine vergleichbare Anspielung sollte während der Prozesse gegen Anne und George erneut auftauchen.[19]
Kingston schickte unterdessen fortlaufend Berichte an Cromwell. Das unter Druck unberechenbare, sprunghafte Verhalten Annes war zunehmend selbst einem alten Hasen wie ihm ein Rätsel. Einmal erklärte sie, sie werde «so grausam behandelt, wie man es noch nie gesehen» habe, doch «ich denke, der König tut das, um mich zu prüfen». Daraufhin «lachte sie obendrein und war sehr fröhlich».[20] Ein andermal sagte sie, sie wolle sterben, nur um im nächsten Moment zu betonen, dass sie leben wolle. Sie machte die wüstesten Prophezeiungen, dass es nicht mehr regnen werde, bis sie wieder frei sei; sie redete in einem fort, so lange, bis eine erschöpfte Lady Elizabeth Boleyn sie anging und unerbittlich ermahnte, dass ihre Liebe zu «Geschichten Euch hierher gebracht» habe. Gefangene oder nicht, hatte sie jedenfalls genug Appetit, um munter ein «großes Mahl» zu verzehren. Die Kosten ihrer «Diäten» (Lebensmittel und andere notwendige Dinge) für die siebzehn Tage im Tower beliefen sich auf £ 25 4s 6d (über 25.000 Euro nach heutigem Wert). Wenigstens leben wie eine Königin konnte sie noch in diesen, in ihren letzten Tagen.[21]
Sie war immer noch imstande, sich so zu benehmen, als hätte sie, und nicht Kingston, das Sagen. Wann immer sie Neuigkeiten hören wollte, erwartete sie, dass er zu ihr kam. «Wo seid Ihr denn den ganzen Tag gewesen?», blaffte sie einmal. In der Sorge um ihren Bruder «schickte» sie nach dem Constable und forderte ihn auf, ihr zu sagen, wo George sich aufhielt. Als Kingston ihr den Gefallen tat, erwiderte sie, sie sei froh, dass sie und George so nahe beieinander wären. Und sie «wünschte», dass Kingston Cromwell einen Brief brachte – eine Aufgabe, die der Constable ablehnte, er willigte jedoch ein, stattdessen eine mündliche Botschaft zu überbringen.[22]
Kingstons Weigerung, für sie einen Brief weiterzuleiten, lässt vermuten, dass es ihr überhaupt nicht erlaubt war, Briefe zu verschicken. Doch in der British Library befinden sich sechs Kopien eines berühmten Briefes, datiert mit «aus meinem kummervollen Gefängnis im Tower, an diesem 6. Mai», der mit «Eure allergetreuste und stets ergebene Gattin» unterschrieben ist und den Anschein erweckt, er sei von Anne aus «meinem kummervollen Gefängnis im Tower» an Heinrich verfasst worden. Die Schreiberin beginnt mit der Bemerkung, sie habe seine Nachricht erhalten, die ihr von jemandem, der ihr «uralter erklärter Feind» (Cromwell?) sei, überbracht worden sei. Er habe ihr demnach gesagt, dass sie, wenn sie «eine Wahrheit» gestehe, wieder Heinrichs Gunst erlangen werde.
Kaum erhielt ich diese Botschaft von ihm, da begriff ich ganz richtig Euren Sinn. Und wenn, wie Ihr sagt, das Gestehen einer Wahrheit wirklich meine Sicherheit gewähren möge, so werde ich mit aller Bereitwilligkeit und Pflicht Eurem Befehl Folge leisten. Doch lasst Euer Gnaden niemals sich ausmalen, dass Euer armes Weib jemals dazu gebracht werde, einen Fehler einzugestehen, wo nicht einmal der Gedanken daran geschah. Kein Fürst hat je eine treuere Gattin in aller Pflicht und Zuneigung gehabt, als Ihr in Anne Boleyn gefunden habt, mit deren Name und Ort ich mich bereitwillig hätte zufrieden geben können, wenn es Gott und Eurer Gnaden Pläsier gefallen hätte. Weder habe ich mich bislang jemals in meiner Erhöhung vergessen noch die Königinnenkrone erhalten, sondern habe stets nach einem derartigen Wandel gestrebt, wie ich ihn nun erkenne, denn weil der Anlass meiner Beförderung auf keinem sichereren Fundament basierte als auf dem Wohlwollen Eurer Gnaden, war der geringste Wandel (wie ich wusste) geeignet und ausreichend, um dieses Wohlwollen auf einen anderen Untertan zu lenken.
Sie flehte ihn an, sich nicht von einer «leichten Laune und schlechtem Rat» gegen sie beeinflussen zu lassen, auf dass kein «Makel» auf ihrem Ruf und dem ihrer Tochter liege. Sie bat ihn eindringlich um einen gerechten Prozess, keinen, der bereits von ihren «geschworenen Feinden» inszeniert sei, denn, beteuert sie: «meine Wahrheit wird keine öffentliche Schande zu fürchten haben».
Aber wenn Ihr bereits über mich entschieden habt, und dass nicht nur mein Tod, sondern auch eine infame Verleumdung Euch den Genuss des ersehnten Glücks bescheren müsse, so flehe ich zu Gott, dass er Euch Eure große Sünde dabei vergeben möge, wie auch meinen Feinden, den Werkzeugen des ganzen, und dass er Euch wegen Eures unfürstlichen und grausamen Umgangs mit meiner Person beim Jüngsten Gericht nicht streng zur Rechenschaft ziehe, vor das wir beide, Ihr und ich selbst, in Kürze treten müssen und an dessen gerechtem Urteil ich nicht zweifle, was immer die Welt von mir glauben mag, wird meine Unschuld öffentlich bekannt und hinreichend geklärt werden.
Hier ist allem Anschein nach die alte Anne wieder zurück, die selbstbewusste, redegewandte, trotzige Anne. Das sind genau die Worte, die sie hätte sagen müssen. Außerdem hätten wir auch von ihr erwartet, dass sie um die Leben derjenigen bittet, die wahrscheinlich mit ihr sterben werden, und genau das tut sie auch:
Meine letzte und einzige Bitte sei, dass ich allein das Gewicht von Euer Gnaden Missfallen zu tragen habe und dass es nicht die unschuldigen Seelen der armen Edelleute treffen möge, die, wie ich höre, ebenfalls in strengem Gewahrsam sind um meinetwillen … Wenn ich jemals in Euren Augen Gunst gefunden habe, wenn der Name Anne Boleyn jemals in Euren Ohren freudvoll geklungen hat, so gewährt mir diese letzte Bitte.[23]
Das ist zwar wundervolles Material, doch es existiert kein handschriftliches Original. Ist der Brief also echt oder eine Fälschung?[24] Der erste sichere Verweis darauf tauchte ein Jahrhundert nach Annes Tod auf, als der Brief in Lord Herbert of Cherburys The Life and Reign of King Henry the Eighth («Das Leben und die Herrschaft König Heinrichs VIII.») abgedruckt wurde, ein Werk, mit dem der Autor im Jahr 1632 zu schreiben begonnen hatte und das erstmals 1649 publiziert wurde.[25] «Ich hielt es für angebracht, [den Brief] hier zu übertragen», teilt Herbert uns mit, «jedoch ohne andere Referenz, als dass er dem Vernehmen nach unter den Papieren Cromwells, des damaligen Sekretärs, gefunden wurde und im Übrigen alt und im Einklang mit der fraglichen Angelegenheit scheint.» Herbert war, nach damaligen Standard, ein echter Profi: der erste ernsthafte Historiker, der sich mit der Herrschaft Heinrichs VIII. beschäftigt hat, und einer der besten bis zum 20. Jahrhundert. Indem er dieses Dokument mit verifizierten Briefen verglich, die Anne geschrieben hatte, unter anderem mit dem Brief an Wolsey, erkannte er – so, wie wir – sehr schnell, dass das, was hier vorgibt, das «Original» zu sein, weder in ihrer Handschrift verfasst ist, noch ihrer speziellen Orthographie, ihrem Sprachgebrauch oder den Schreibgewohnheiten entspricht. Aber auch wenn Herbert zögert, ihn für eine Fälschung zu halten, erklärt er ihn auch nicht für echt: «Aber ob dieser Brief elegant von ihr geschrieben wurde oder ehemals von jemand anderem, weiß ich ebenso wenig, wie welche Antwort man darauf geben mag.»[26]
Hat sie ihn also geschrieben? Wenn ja, dann wäre Anne imstande gewesen, einen überzeugend formulierten Abschiedsbrief zu verfassen, und das nur vier Tage, nachdem sie in unkontrollierte Lachanfälle ausgebrochen war und unter extremen Stimmungsschwankungen gelitten hatte, die Kingston so sehr alarmiert hatten. Der Brief ist datiert, aber Anne versah keinen einzigen ihrer genuinen Briefe mit einem Datum. Ist der Ton allzu trotzig? Hätte sie es gewagt, Cromwell oder Jane mit diesen doch recht eindeutigen Worten zu erwähnen? Hätte sie sich angemaßt, Heinrich daran zu erinnern, dass er vor Gott für seine Taten Rechenschaft ablegen musste? Möglicherweise, denn Anne war eine mutige Frau. Aber wäre sie wirklich so weit gegangen, wenn sie wusste, dass ihr Leben am seidenen Faden hing? Das ist dann doch eher unwahrscheinlich.
Merkwürdigerweise hat bis heute offenbar niemand die Stelle unter dem Ende des Briefes auf dem Verso des Blattes untersucht, wo sich eine stark angekohlte Anmerkung über zehn Zeilen befindet, ein weiteres Vermächtnis des Brandes von 1731. Burnet, die letzte Person, die das Dokument vor der Beschädigung zu Gesicht bekam, versäumte es, diese Zeilen zu transskribieren, aber nach dem, was man noch entziffern kann, wird «ein Kurier» zur Königin geschickt, «der ihr zu gestehen suggeriert», indem er sagt, «sie darf nichts verbergen». Allem Anschein nach schuldete sie dies Heinrich, der sie so sehr erhöht hatte, als letzte Pflicht.[27] Kann das echt sein? Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass der Autor der Anmerkung auch der Autor oder Kopist des Briefes war, der auf dem Recto des Blattes beginnt: Handschrift und Rechtschreibung sind identisch.
Nunmehr begannen die Vorbereitungen auf den Prozess. Bereits am Montag, dem 24. April, hatte Cromwell aus eigener Initiative Briefe aufgesetzt, die Sonderausschüssen für Kent und Middlesex die Befugnis erteilten zu oyer et terminer («zu hören und zu entscheiden») – und zwar außerhalb der üblichen zweijährlichen Generalausschüsse, in denen zwei Richter des Königs, unterstützt von den höchsten Magistraten, Strafverfahren wegen schwerer Vergehen, hauptsächlich Hochverrat und Kapitalverbrechen, durchführten, die zuvor durch eine Anklageerhebung eingeleitet worden waren. Diese beiden Ausschüsse waren so ungewöhnlich, dass der Sekretär des Lordkanzlers, Ralph Pexall, sie in sein Buch der Präzedenzfälle aufnahm.[28]
Der Zweck dieser Sonderausschüsse wurde am Dienstag, dem 9. Mai, deutlich, als Erlasse an die Sheriffs von Kent und Middlesex ergingen, Grand Jurys einzuberufen, die Gefangene anklagen sollten, die schändlicher Verbrechen verdächtigt wurden.[*1] Cromwell bereitete alles akribisch vor. Der Sprecher der Grand Jury in Middlesex war Giles Heron, ein stramm katholischer Schwiegersohn Thomas Mores, der nach Rache an den Boleyns dürstete. In Kent war Richard Fisher, der Bruder John Fishers, des hingerichteten Bischofs von Rochester, unter den ausgewählten Geschworenen. Die Jury von Middlesex versammelte sich schon am nächsten Tag in Westminster, das Gremium von Kent am 11. in Deptford. Beide erhoben weitgehend identische Anklagen gegen jeden der sechs Angeklagten, die anzüglich und aufsehenerregend waren. Kenntnisreich ausgearbeitet, um zu schockieren und abzustoßen, waren die Anklageschriften genial, weil sie so weit gefasst und erschöpfend detailliert waren. Einige Punkte waren mit bestimmten Daten und Orten verknüpft, andere allgemein gehalten, und sie zogen sich über alle drei Jahre seit Annes Krönung hin.[29]
Verführt hatte Anne angeblich «in boshafter Absicht gegen den König, und indem sie ihre eigene hinfällige und fleischliche Lust verfolgte … auf falsche und verräterische Weise mehrere enge Leibdiener des Königs dazu, ihre Geschlechtspartner zu werden, mit Hilfe obszöner Worte, Berührungen, Geschenke, niederträchtiger Provokation und liederlicher Anreize». Weiterhin «verführte und erregte» sie Norris, Brereton, Weston und Smeaton «zu fleischlicher Vereinigung» und «ihren eigenen leiblichen Bruder» George zum Inzest, «indem sie ihn mit ihrer Zunge in seinem Mund und des besagten Georges Zunge in ihrem köderte, sowie mit Küssen, Geschenken und Juwelen». Anne und George hätten, laut Anklageschrift, «die Gebote Gottes und alle menschlichen Gesetze missachtet», mehrmals miteinander Geschlechtsverkehr gehabt, «mal auf seine Veranlassung hin, mal auf ihre». Norris, Brereton, Weston und Smeaton lockte sie mit «süßen Worten, Küssen, Berührungen und auf andere Weise» ins Bett. Als Folge wurden diese Männer, weil sie «so durch die fleischliche Liebe der Königin entflammt waren», aufeinander eifersüchtig. Und «um ihre unzüchtigen Sehnsüchte zu befriedigen … erlaubte sie ihnen nicht, mit einer anderen Frau zu verkehren ohne ihr großes Missfallen und Empörung».
An mehreren Orten und Tagen überreichte Anne ihnen «großartige Geschenke und Belohnungen», um sie zum Geschlechtsverkehr zu verleiten. Hinzu kam, sie und die Männer hätten in mehreren Fällen «Heinrichs Tod ins Auge gefasst und sich ausgemalt», und Anne habe mehrmals jedem der Verräter versprochen, dass sie einen von ihnen heiraten werde, wann immer sich der König aus diesem Leben verabschiede. Dabei beteuerte sie angeblich, dass sie «ihn niemals in ihrem Herzen lieben» werde. Schließlich sei Heinrich, als er von diesen Lastern, Verbrechen und abscheulichen Verraten Kenntnis erhalten habe, so getroffen gewesen, dass «sein königlicher Leib gewisse Schäden und Gefahren leiblich genommen» habe. Folglich hätten Anne und diese abscheulichen Verräter voller Verachtung gegen ihn und «in Gefährdung seiner königlichen Person und seines Leibs» gehandelt, und das «zum Skandal, Gefahr, Schaden und Nachteil der Angelegenheiten und Erben des besagten Königs und Königin».
Von rund zwanzig Anklagepunkten ereigneten sich demnach diejenigen, an denen Norris und Brereton angeblich beteiligt waren, hauptsächlich im Jahr 1533, die mit Weston im Jahr 1534, Smeaton 1534 und 1535 und George 1535. Cromwell war nach dem Gießkannenprinzip vorgegangen und kühn davon ausgegangen, dass das kein Mensch nachprüfen würde, denn die genannten Daten und Örtlichkeiten stimmten in den seltensten Fällen mit Annes Reiserouten überein. Mehrmals sollten die Verstöße in Whitehall stattgefunden haben, als Anne sich in Wirklichkeit in Greenwich aufhielt. Norris hatte beispielsweise angeblich am 12. Oktober 1533 in Whitehall mit ihr geschlafen, als sie sich noch in Greenwich von Elizabeths Geburt erholte. Selbst anhand der noch heute verfügbaren Quellen lässt sich nachweisen, dass höchstens sechs oder sieben der zwanzig Anklagepunkte zumindest theoretisch überhaupt möglich gewesen wären. In dreizehn Fällen steht unbestreitbar fest, dass sich Heinrich und Anne nicht an den Orten aufhielten, an denen die angeblichen Verbrechen stattgefunden haben sollen. Diese und andere Details waren offenkundige Fälschungen. So sorglos dies scheinen mag, steckte der Teufel nicht in diesen Details, sondern in den verallgemeinerten Anklagen, die sich im Falle jedes einzelnen Häftlings angeblich an «diversen», «verschiedenen» oder «mehreren» Gelegenheiten ereigneten, ehe oder nachdem die konkreten Daten genannt werden. Es wäre sinnlos gewesen, hätten Anne oder ihre angeblichen Liebhaber versucht, eine dieser Datierungen oder Gelegenheiten anzufechten, weil es so viele nicht genauer präzisierte und deshalb unwiderlegbare Unterstellungen gab. Später zeigte sich, dass die Anklagen womöglich juristisch durchaus mangelhaft gewesen waren. Zuallererst war Geschlechtsverkehr mit einer willigen Königin an sich noch kein Hochverrat. Zum zweiten gelangte ein Rechtsbeistand 1579 in einem Fall, der den Besitz von Norris betraf und nach dessen Verurteilung an die Krone zurückgefallen war, zu der Auffassung, dass diese Verwirkung ungültig sei, weil nicht in jedem Fall exakt nachgewiesen worden sei, wann und wo sein Verrat begangen wurde.[30]
Die Hauptanklage, aus juristischer Sicht, lautete, dass Anne durch das Angebot, einen ihrer «Liebhaber» zu heiraten, sobald Heinrich nicht mehr sei, zusammen mit ihren Mitangeklagten sich den Tod des Königs sowohl ausgemalt als auch konstruktiv geplant hätten – und das war, sofern es zutraf, Hochverrat. Doch war es die überaus dramatisch vorgetragene Anklage des Inzests, die die Richter und die Geschworenen am meisten entsetzte. Inzest war absolut tabu, und für Heinrich besonders abstoßend und neuralgisch, weil er seit Beginn seiner Kampagne für die Scheidung von Katharina behauptet hatte, dass Geschlechtsverkehr mit der Witwe des eigenen Bruders schlichtweg Inzest sei und «in höchstem Grad gegen das Gesetz der Natur» verstoße. Ebenso hatte er Anne trotz seiner früheren, allgemein bekannten Affäre mit ihrer Schwester Mary geheiratet. In den Augen vieler Kirchenjuristen war auch das inzestuös – Ansichten, die seine aufrichtige Empfindung von Ekel möglicherweise noch verstärkten.
In einem Brief an Lady Lisle am Sonntag, dem 13. Mai, äußerte John Husee die Auffassung, dass die Anklagepunkte fast schon zu abscheulich wären, als dass sie einer tugendhaften Frau wie ihr zu Ohren kommen sollten.
Madam, ich denke wahrhaftig, wenn all die Bücher und Chroniken vollständig umgedreht [studiert, erörtert] und bis zum Äußersten verfolgt und gerichtlich belangt würden, die seit Adam und Eva gegen Frauen verfasst, ausgeheckt und geschrieben wurden, so wären dieselben, wie ich meine, wahrlich nichts im Vergleich mit dem, was von der Königin Anne getan und begangen wurde.[31]
In den Augen Husees mussten die Anklagen schon allein wegen ihres Ausmaßes und des abstoßenden Wesens wahr sein. Dafür gab es, erstaunlicherweise, einen juristischen Präzedenzfall. Im Gegensatz zum modernen Rechtsstaatsprinzip war eine «Verurteilung wegen schlechten Rufs» eine, wenn auch selten angewandte, Auffassung, die den Juristen der Tudorzeit durchaus geläufig war. Im Jahr 1533 räumte etwa Thomas More ein, dass Richter nach englischem Recht bisweilen Verdächtige verhaften und ohne Anklage verurteilen konnten, allein aufgrund «des Rufs und Betragens, [das] der Mann in seinem Land hat».[32]
Der erste Prozess begann am Freitag, dem 12. Mai, in Westminster Hall – nur drei Jahre zuvor der Schauplatz von Annes Krönungsbankett. Am stärksten zeigte sich de Carle von dem beklemmenden Anblick der «großen Axt» beeindruckt, die am Rand des Gerichtssaals ausgestellt wurde: Die Klinge drehte sich anfangs von den Gefangenen weg, konnte jedoch jederzeit wieder zurückschwingen um zu demonstrieren, dass sie verloren waren, wenn das Urteil gegen sie gefällt wurde. (Dieses Detail deutet stark darauf hin, dass de Castelnaus Sekretär unter den sehr zahlreichen Zuschauern war, die sich im Saal und auf der Galerie drängten.)[33]
Es wurde beschlossen, zuerst die Fälle der einfachen Bürger – Norris, Brereton, Weston und Smeaton – anzuhören. Dafür gab es einen naheliegenden Grund. Indem diese vier zu federführenden Akteuren und nicht zu bloßen Gehilfen erklärt wurden, konnten sie separat vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Als Peers hatten Anne (als Lady Marquis of Pembroke) und George (als Viscount Rochford) stattdessen das Recht auf eine Verhandlung vor dem Lord Steward’s Court, bei der die übrigen Peers die Jury gebildet hätten, unterstützt vom Lordkanzler und den Richtern am Court of King’s Bench. Indem deren Fälle erst angehört wurden, nachdem die Schuld der Bürgerlichen bereits festgestellt worden war, konnte man den nicht ganz so leicht beeinflussbaren Peers einen Fall präsentieren, der einem Fait accompli gleichkam. Wenn die Bürgerlichen des verräterischen Ehebruchs schuldig waren, so galt das auch für Anne. Mit der weiteren Anklage wegen Inzest wollte Cromwell dafür sorgen, dass ihr Bruder ebenfalls in die Falle ging und mit ihr gestürzt wurde. Er wollte kein Risiko eingehen, dass George überlebte, um ihm Konkurrenz zu machen oder sich ihm in den Weg zu stellen.
Zu den Richtern für die Bürgerlichen wurden Annes Vater, ihr Onkel Norfolk, der Duke of Suffolk und vier weitere Adlige berufen (die von Gesetz wegen befugt waren, über Bürgerliche Gericht zu halten, umgekehrt galt dies nicht), dazu Audley, Cromwell, Fitzwilliam, Paulet und die königlichen Richter. Wie schon bei früheren Anlässen ging Cromwell bei der Zusammenstellung der Jury auf Nummer sicher. Jeder einzelne, der in die Jury kam, war ein königlicher Bediensteter oder jemand, der einen Groll gegen einen der Gefangenen hegte, oder ein Gegner Annes und des Bruchs mit Rom oder jemand aus Cromwells Einflusssphäre. Heinrichs Kumpane Sir Thomas Palmer, Sir Thomas Spert, Geoffrey Chamber und Gregory Lovell, die allesamt in der Geschworenenjury gesessen hatten, die Thomas More verurteilt hatte, tauchten hier wieder auf. Christopher Morris, Master of the Ordnance, kam nunmehr hinzu. Unter den Geschworenen, die einen persönlichen Groll hegten, war Mores Schwiegersohn William Dauntesey.[34]
Die von Kingstons Wachleuten in die Hall eskortierten vier Angeklagten hatten kaum Aussicht auf einen Freispruch. Bei Prozessen wegen Hochverrats hatten die Angeklagten, sofern keine Zeugen aufgerufen wurden, nie eine Gelegenheit, die Quellen für die Beweise der Anklage herauszufinden oder selbst Zeugen vorzubringen. Sie hatten nicht nur keinen Anspruch auf einen Rechtsbeistand: Es war sogar ausdrücklich verboten. Wenn nötig, konnte das Gericht einem Gefangenen einen Verteidiger zuteilen, um einen juristischen Einwand gegen seine Anklage vorzubringen. Ansonsten wurde von königlichen Richtern erwartet, dass sie die Angeklagten darüber in Kenntnis setzten, wie sie ihren Fall vertreten sollten, und dafür sorgten, dass das Recht strengstens eingehalten werde. Dies alles entsprach völlig dem damaligen Standard. Wenn man den Quellen Glauben schenken kann, traten während des Verfahrens keine Zeugen auf. Alle Beweise, die vorgelegt wurden, wurden lediglich indirekt über einen Bericht oder im Rahmen der juristischen Argumentation präsentiert. Gemäß einem langjährigen Übereinkommen waren grundsätzlich zwar zwei Zeugen für einen Schuldspruch erforderlich, doch das Recht ließ in Fällen des Hochverrats, wie Thomas Mores Prozess gezeigt hatte, die Aussage von nur einem zu. In den Prozessen der vier einfachen Bürger und ebenso bei Annes und Georges basierten jedoch sämtliche am Verhandlungstag vorgebrachte Beweise auf dem Hörensagen.[35]
Vermutlich weil er auf Gnade oder einen weniger schmerzhaften Tod als die barbarischen Qualen des Hängens, Ausweidens und Vierteilens hoffte, die für Verräter vorgesehen waren, bekannte sich Mark Smeaton schuldig, dreimal mit der Königin Ehebruch begangen zu haben, bestritt aber die übrigen Anklagen. Die anderen beteuerten allesamt ihre Unschuld und plädierten auf «not guilty» in allen Punkten, jedoch vergebens.
Die Schuldsprüche waren unvermeidlich. Auf die Ränder der Gerichtsprotokolle, die inzwischen in den National Archives in Kew aufbewahrt werden, war vier Mal das ominöse Kürzel «T&S» geschrieben, einmal für jeden Angeklagten. Das war die lateinische Abkürzung für «trahendum et suspendum», also: «muss [auf einem Karren zum Galgen in Tyburn] gezerrt und dann gehängt werden».[36]
Chapuys, der womöglich von der Galerie aus zusah, erklärte das Ganze zu einem Fehlurteil. Die Angeklagten seien, teilte er Karl mit, «aufgrund reiner Vermutungen oder sehr dünner Begründungen verurteilt worden, ohne juristischen Beweis oder gültiges Geständnis» (par presumption et aucuns indices, sans preuve ne confession valide). Smeatons Geständnis war offenkundig unter Folter erpresst worden.[37]
Nachdem man die Verurteilten wiederum in Kingstons Gewahrsam übergeben hatte, wurden sie zurück zum Tower gerudert. Beim Betreten des Innenhofs wurde ihnen mitgeteilt, dass sie sich auf den Tod vorbereiten sollten. Stets unter den Ersten, die Bescheid wussten, meinte Husee, die Hinrichtung könnte am Montag, dem 15. stattfinden. Am 13. änderte er jedoch seine Meinung. «Hier kursieren so viele Geschichten, dass ich nicht gut entscheiden kann, von welcher ich schreibe», stellte er nüchtern fest. Gleichwohl sagte er scharfsinnig voraus: «Ich nehme wahrhaftig an, dass sie alle leiden werden.»[38]
*1 Vor den Reformen des Justizsystems in England und Wales im Jahr 1933 wurden angeklagte Personen zuerst von Grand Jurys in deren lokalen Zuständigkeitsbereichen angeklagt und dann zur Verhandlung übergeben, wo Geschworene ein Urteil über ihre Schuld fällten. Das System der Tudor ähnelt den heutigen Verfahren in den USA, wo das Recht auf die Anklage durch eine Grand Jury in Bundesgerichtshöfen für schwere Verbrechen vom Fifth Amendment geschützt ist.