Die Prozesse gegen Anne und George fanden beim Lord Steward’s Court statt, vor einer Jury aus Peers. Heinrich erteilte Annes Onkel Norfolk den Vorsitz (wie beim High Constable ließ der König sonst das Amt des Lord Steward unbesetzt), und der Herzog berief 26 Peers. Die meisten Lords, die bei Annes Krönung eine offizielle Funktion innegehabt hatten, gehörten dazu. Georges Schwiegervater Lord Morley, ein Mann der sich lieber in seiner Bibliothek als in Gerichtsgebäuden aufhielt, wurde geladen, Thomas Boleyn allerdings entschuldigt, obwohl er sich im Rahmen seiner Bemühungen, sich von dem Schicksal, das über seine Familie hereingebrochen war, zu distanzieren, zum Jurydienst bereit erklärt hatte. Auch Harry Percy wurde nicht vergessen, den Anne einst zu heiraten gehofft hatte. Er hatte sich zwar in aller Stille in sein Haus in Newington Green, in der Nähe von Hackney, zurückgezogen und war außerdem schwerkrank, wurde aber dennoch angewiesen zu erscheinen. Er fürchtete mehr denn je, dass seine frühere Verbindung mit ihr sein Verderben sein werde. Bemerkenswert war das Fehlen von Annes Stiefsohn Henry Fitzroy, der Grund dafür ist allerdings nicht bekannt.[1]
Aus Sicherheitsgründen ließ Heinrich die Verfahren in der sogenannten «King’s Hall» im Tower abhalten, womit mit großer Wahrscheinlichkeit der große Saal im White Tower gemeint ist. Für den Gerichtssaal wurde ein Holzgerüst errichtet, mit Sitzmöglichkeiten für die Peers und die königlichen Richter, die an diesem Gerichtsverfahren nicht als Richter teilnahmen, sondern die Peers lediglich juristisch beraten sollten. Norfolk saß, mit einem weißen Amtsstab in der Hand, auf einem Podest unter einem prunkvollen Baldachin, mit Lordkanzler Audley zur Rechten und dem Duke of Suffolk zur Linken. Die eigens für Zuschauer aufgebauten Tribünen überblickten den ganzen Gerichtssaal. Der König hatte dafür gesorgt, dass Antoine de Castelnau unter den Zuschauern war. Wenn Heinrich Sicherheit wollte, so hatte er doch keine Bedenken bezüglich der Vertraulichkeit. Rund 2000 Personen nahmen laut Chapuys daran teil (möglicherweise eine leichte Übertreibung).[2]
Der Ablauf der Verhandlung war genau festgelegt. Der Constable of the Tower führte die Angeklagten in den Saal, die Anklage wurde verlesen, der beziehungsweise die Angeklagte bekannte sich «schuldig» oder «nicht schuldig», und die Staatsanwaltschaft (in der Regel der attorney-general) präsentierte ihre Beweise. Anschließend durfte der Angeklagte antworten, worauf er aus dem Gerichtssaal geleitet wurde, während die Peers über das Urteil berieten, das nicht unbedingt einstimmig ausfallen musste. Sie verkündeten ihre Entscheidungen einzeln, angefangen bei dem Adligen, der den niedrigsten Rang bekleidete, bis zum Ranghöchsten. Für einen Schuldspruch war die einfache Mehrheit ausreichend. Nachdem das Urteil gesprochen war, wurde dem Angeklagten das Recht des letzten Wortes gewährt. (Thomas More hatte dies zu einem umfassenden Angriff auf Heinrichs königliches Supremat genutzt.) Schließlich verkündete der Lord Steward das Strafmaß.[3]
Mehrere Biographen Annes behaupten, es würden Dokumente aus den Gerichtsakten fehlen, und mutmaßen, dass Cromwell oder sogar Annes Tochter Elizabeth sie womöglich entfernt hat. Gerichtsprotokolle in Verfahren wegen Hochverrat, die ausnahmslos auf Pergament geschrieben wurden, wurden in der sogenannten Bag of Secrets («Tasche der Geheimnisse») aufbewahrt. Baga de Secretis war die Bezeichnung in anglo-normannischem Französisch, die man im 14. Jahrhundert der großen Ledermappe gegeben hatte, die zum Schutz dieser besonderen Klasse an Dokumenten vor neugierigen Blicken diente. Später wurden sie in einem Schrank aufbewahrt, der sich nur in Anwesenheit der drei separaten Schlüsselbewahrer öffnen ließ. Die «Tasche» selbst ist im frühen 18. Jahrhundert verloren gegangen, aber viele der kleineren Taschen oder «Beutel», in denen einzelne Fälle abgeheftet waren, sind erhalten und ihr Inhalt ist, wenn auch zerknittert, in gutem Zustand. Für uns entscheidend ist, dass die Unterlagen der Verfahren Annes und Georges, die in der Bag of Secrets aufbewahrt wurden, intakt sind. Wenn man sie genau mit denen für alle anderen Staatsprozesse während Heinrichs Herrschaft vergleicht, fehlt nichts.
Es fehlen allerdings vorbereitende Zeugenaussagen und vorgerichtliche Untersuchungen, die, wie man inzwischen als gesichert annehmen kann, einst existierten (siehe Anhang), aber niemals in der Bag of Secrets aufbewahrt wurden. In einem Brief an Stephen Gardiner in Frankreich behauptete Cromwell, dass, wie er sagte, «eben die Geständnisse so abscheulich» wären, «dass ein großer Teil von ihnen niemals als Beweis vorgelegt, sondern eindeutig geheim gehalten wurde».[4] Dafür helfen uns Quellen von dritter Seite, die Prozesse und ihr Nachspiel zu rekonstruieren. Chapuys liefert die vollständigste Schilderung, die durch die Briefe John Husees an Viscount und Lady Lisle sowie durch die Beobachtungen des Dieners von Norris George Constantine um einige Details ergänzt wird. Die wertvollsten Aufzeichnungen stammen von Sir John Spelman, der in seiner Funktion als Richter am Court of King’s Benchan den Voruntersuchungen in Westminster Hall und Deptford teilgenommen hatte. Er hatte am Schuldspruch gegen die vier Bürgerlichen mitgewirkt und als Berater der Peers dem Prozess vor dem Lord Steward’s Court beigewohnt. Das Original seines privaten Notizbuchs ist heute verschollen, doch ein Großteil des Inhalts wurde von Gilbert Burnet im Jahr 1679 sorgfältig transkribiert.[5]
Die Londoner Chronisten haben ebenfalls ihren Anteil. Edward Hall geht von Annes Verhaftung direkt zu ihrer Hinrichtung über und überspringt die Prozesse einfach, aber Charles Wriothesley, ein Cousin von Thomas Wriothesley und einer der Herolde, hinterließ eine Aufzeichnung seiner sorgfältigen Beobachtungen.[6] Das gilt auch für Anthony Anthony, Kammerdiener des Königs und Surveyor of the Ordnance im Tower. Das Original ist zwar verschollen, doch eine Kopie befand sich später im Besitz des elisabethanischen Antiquars John Stow und wurde anschließend von Burnet und einem gewissen Thomas Turner zu Rate gezogen.[7] In der Bodleian Library befinden sich Turners Notizen, von denen viele, nach seiner Aussage, «aus einem alten Originaltagebuch oder Journal» stammen, «geschrieben mit der korrekten Hand eines gewissen Mr Anthony Anthony … wobei der besagte Anthony ein Zeitgenosse der Handlung und (wie er selbst sagt) ein Augen- und Ohrenzeuge war».[8]
Zu guter Letzt liegen die Notizen hauptsächlich der Reden Annes und Georges auf dem Schafott vor, die sich inzwischen in der Bibliothèque nationale in Paris befinden und so gut wie sicher von Lancelot de Carle angefertigt wurden, der sie benutzte, als er das Gedicht La histoire de la royne Anne Boullant d’Angleterre verfasste, das er auf den 2. Juni 1536 datierte.[9] Sie inspirierten zu Spin-offs in verschiedenen Formaten und Sprachen:[10] In französischer, italienischer und portugiesischer Sprache gibt es in der Art von «Mitteilungsblättern» angelegte Varianten. Das bekannteste, leicht aufgeblähte von ihnen ahmt den Brief eines sogenannten «portugiesischen Edelmann» nach: Eine derartige Person gab es selbstverständlich gar nicht. Einen offenen Brief an einen fiktiven «Freund in dem Land» (oder einem anderen) zu schreiben, um ein Mitteilungsblatt in Umlauf zu bringen, war seit der Zeit Ciceros ein üblicher literarischer Kunstgriff.[11] Eine zweite Serie von Mitteilungsblättern geht auf eine pro-habsburgische Darstellung zurück, die entweder von oder für Chapuys an die Regentin Maria von Ungarn in Brüssel geschickt wurde.[12] Keine einzige dieser Quellen ist für sich allein endgültig: Sie alle müssen kritisch studiert und mit den Dokumenten aus der Bag of Secrets verglichen werden.
Annes Gerichtstag war Montag, der 15. Mai. Heinrich hatte diese Entscheidung am Wochenende getroffen und den Clerk of the Crown angewiesen, die Richter am Court of King’s Bench per königlichem Erlass anzuweisen, sich an diesem Tag den Peers als Berater zur Verfügung zu halten, damit auch wirklich alles «nach dem Recht und Brauch Englands» geschah.[13] Sie sollte am frühen Vormittag verurteilt werden, anschließend wäre George an der Reihe. Doch die Geschwister Boleyn waren mental und verbal geschickt. In einem, wie außer Zweifel stand, Kampf um Leben und Tod bewiesen beide Mut und Talent. Die von Panik erfasste, «plappernde» Anne war passé. Hier zeigte sich Anne von ihrer besten Seite; das war die selbstbewusste, äußerst eloquente Frau mit den dunklen, blitzenden Augen, die Heinrich einst angebetet hatte. Sie war furchtlos.
Als die Peers und Richter ihre Plätze eingenommen hatten, führte Sir William Kingston seine Gefangene herein, die von Lady Elizabeth Boleyn und Lady Kingston begleitet wurde. Er führte sie zur Gerichtsschranke, wo man für sie einen Stuhl bereit gestellt hatte. Nach der Verlesung der Anklage hob Anne ihre rechte Hand und erklärte sich für nicht schuldig.[14] Erst dann hörte sie von attorney-general Christopher Hales das volle Ausmaß des Beweismaterials gegen sie. Abgesehen von der Anklageschrift gab es, laut Chapuys, einen zusätzlichen Anklagepunkt, dass nämlich zwischen ihr und Norris gewisse Zeichen ausgetauscht worden seien und diese auf das Versprechen hinausliefen, dass sie ihn nach Heinrichs Tod heiraten werde.[15] Er beschwor eindringlich die Gefahr herauf, die demnach für Heinrichs Familie bestanden habe: Hales unterstellte, dass Anne Katharina vergiftet und sich verschworen habe, dasselbe mit ihrer Stieftochter Mary zu tun. Obendrein erfuhr das Gericht, sie und George hätten den König ausgelacht und sich über seine Art sich zu kleiden lustig gemacht, sowie «dass sie auf bestimmte Weise zeigte, dass sie den König nicht liebte und seiner überdrüssig war».[16]
Spelman fügt hinzu, bei der Beweisführung sei beteuert worden, dass Anne und George «den Tod des Königs ausgeheckt hätten, denn sie sagte, dass der König niemals ihr Herz haben solle, ferner sagte sie jedem der vier [Bürgerlichen] persönlich, dass sie ihn mehr als die anderen liebte». Damit beleidigte sie, so Hales, «die Angelegenheit [Elizabeth], die zwischen ihr und dem König gezeugt wurde», allein das gelte nach einer Klausel im 1534 verabschiedeten Thronfolgegesetz bereits als Verrat.[17] Etwas bedeutsamer fuhr er fort:
Und sämtliche Beweise zeugten von Unzucht und Wollust, sodass es im ganzen Reich noch keine derartige Dirne gab. Man beachte, dass diese Angelegenheit von einer Frau namens Lady Wingfield aufgedeckt wurde, die eine Bedienstete der besagten Königin und von den gleichen Eigenarten war; und plötzlich wurde die besagte Wingfield krank und kurze Zeit vor ihrem Tod eröffnete sie diese Sache einem ihrer etc.[18]
Das abschließende «etc.» deutet möglicherweise nicht darauf hin, dass hier etwas fehlt. Juristen verwendeten diese Abkürzung routinemäßig, um auf selbstverständliche Angelegenheiten hinzuweisen. Als Burnet Spelmans Notizbuch transkribierte, stellte er fest: «und hier ist leider der Rest der Seite abgerissen», war jedoch nicht der Auffassung, dass dies eine finstere Erklärung erfordere.[19]
Bei ihrem Tod im Jahr 1534 war Bridget Wilshire (die Witwe von Sir Richard Wingfield und Sir Nicholas Harvey) noch die Frau von Robert Tyrwhitt. Als Tyrwhitt sich im Vorfeld der Prozesse nach den Anklagepunkten gegen Anne erkundigte, was er als erfahrener Höfling kaum versäumt haben dürfte, ließ er wahrscheinlich Cromwell einen Bericht über die Enthüllungen Bridgets zukommen, der zu einer Untersuchung ihrer Papiere führte. Der aus altem Adel von Lincolnshire stammende Tyrwhitt und sein Bruder Philip hatten über ihre Mutter Maud Tailboys enge Beziehungen zu Katharina und ihrer Tochter. Das könnte erklären, weshalb Annes Brief an Bridget, den sie kurz vor ihrer Ernennung zur Lady Marquis of Pembroke geschrieben hatte, am Ende im Archiv des königlichen Sekretärs landete.[20]
Wenn wir wüssten, ob und wenn ja, was Bridget über Annes Umgang mit Harry Percy und Thomas Wyatt herausgefunden hatte, wäre das Ganze womöglich klarer. Musste Anne etwas, das ihre Freundin wusste, vor Heinrich verbergen, etwas, das möglicherweise aus ihren Jahren in Kent oder aus der Zeit nach ihrer ersten Rückkehr aus Frankreich stammte? Und was meinte Spelman, wenn er Bridget als «eine Bedienstete der besagten Königin und von den gleichen Eigenarten» bezeichnete?
Wie immer die genauen Umstände gewesen sein mochten, Bridgets Beweis war zum einen Hörensagen und zum anderen mindestens zwei Jahre alt. Burnet stellte diesbezüglich verächtlich fest: «Die sicherste Form der Fälschung … ist es, etwas im Namen einer toten Person vorzulegen, wo man keine Entlarvung fürchten muss.»[21]
Es wurde keine weitere Zeugenaussage vorgelegt. Der womöglich bemerkenswerteste Aspekt von Annes Prozess war, dass sie niemals Mark Smeaton gegenübergestellt wurde, der einzigen Person, die unbestritten Ehebruch mit ihr gestanden hatte – folglich war Cromwell wohl nicht so ganz überzeugt, dass er seine Aussage nicht doch noch widerrufen würde. Hätte der junge Musiker wirklich das Selbstbewusstsein oder das Bedürfnis gehabt, zumal in Anbetracht der Tatsache, dass er ohnehin bereits ein verurteilter Mann war, sein Geständnis Auge in Auge mit Anne zu wiederholen? Womöglich ist das, vor allen anderen, der Hauptgrund, weshalb der einzige nennenswerte Beweis ihrer Schuld, der den Peers vorgelegt wurde, die Aussage einer toten Frau war.[22]
Anne stritt alles ab. So, wie sie Kingston im Tower gesagt hatte: «Wenn irgendein Mann mich anklagt, kann ich ‹Nein› sagen, und sie können keine Zeugen vorbringen.» Und «Nein» sagte sie auch fortwährend. Sie bestritt, dass sie Heinrich untreu gewesen sei; sich seinen Tod ausgemalt oder sich gar dazu verschworen habe; dass sie mit ihrem Bruder Inzest begangen habe; dass sie mit Norris geheime Zeichen ausgetauscht oder versprochen habe, ihn zu heiraten; dass sie Katharina vergiftet oder geplant habe, Mary zu vergiften. Sie gab lediglich zu, Francis Weston Geld gegeben zu haben, fügte aber hinzu, dass das auch auf andere mittellose junge Höflinge zutreffe und nie mit einer kriminellen Absicht verbunden gewesen sei.[23]
Viele waren von ihrem Auftritt beeindruckt. Nach Turners Notizen könnte man meinen, Anthony Anthony habe lediglich geschrieben: «Sie wollte nicht gestehen», doch John Stow, der ein Exemplar von Anthonys Tagebuch vor sich liegen hatte, fügt in seinen Chronicles of England gegen Ende der 1570er Jahre hinzu: «Sie schien sich vollständig von allen Punkten, die ihr zur Last gelegt wurden, frei zu machen.»[24] Wriothesleys Chronicle stimmt dem zu und führt aus: «Sie gab so kluge und direkte Antworten auf alle Punkte, die gegen sie vorgebracht wurden, entschuldigte sich mit ihren Worten so klar, als hätte sie sich niemals derselben schuldig gemacht.» Sowohl Chapuys als auch de Carle waren tief beeindruckt.[25] Sie habe sich stark verteidigt, meint Chapuys, «indem sie mehr als ausreichend überzeugende Antworten auf jeden einzelnen Anklagepunkt gab».[26] Angesichts dessen, dass er ihr eingefleischter Gegner war, haben seine Worte desto mehr Gewicht. «Sie hielt sich strammer als ein Baumstumpf/der nicht Hagel noch stürmischen Wind fürchtet», erklärt de Carle.
Sie verteidigte ihre Ehre nüchtern,
ohne nervös zu werden, doch stets
bot ihr Antlitz Gewähr, dass ihre Worte
kein leeres Geschwätz waren.[27]
Dennoch stand der Schuldspruch von vornherein fest. Und als er gesprochen wurde, war er einstimmig. Zu Recht hieß es: «Die Frage, die sich den Köpfen der Lords stellte, war nicht, ob sie der in den Anklagepunkten enthaltenen Vorwürfe schuldig war, sondern ob sie sterben sollte oder nicht.»[28] Mit den Worten Wriothesleys: «Nachdem sie zusammengetreten waren, wurde der jüngste Lord der besagten Untersuchung als Erster aufgefordert, [ein] Urteil zu fällen, der ‹schuldig› sagte, und so erklärte jeder Lord und Earl nach ihren Rängen bis zum letzten ‹schuldig› und verurteilte sie damit.»[29]
Daraufhin sprach der Duke of Norfolk das Urteil.[30] Das kalte Latein der Dokumente in der Bag of Secrets gibt den Urteilsspruch wieder, den Wriothesley Wort für Wort überträgt:
Weil Ihr unseren Souverän, Seine Gnaden den König, verletzt habt, indem Ihr Verrat gegen seine Person begangen habt, und hier desselben beschuldigt worden seid, lautet das Gesetz des Reiches folgendermaßen, dass Ihr den Tod verdienet habt, und Euer Urteil lautet wie folgt: Dass Ihr hier innerhalb des Tower von London auf dem Green verbrannt oder Euch der Kopf abgeschnitten werden soll, wie der König später sein Pläsier kund tun wird.[31]
Ein alternatives Strafmaß wurde laut Spelman deshalb verkündet, «weil sie eine Königin war», obwohl der eigentliche Grund war, dass weder Norfolk noch sonst jemand zu diesem Zeitpunkt wusste, woran Heinrich seine Freude hätte. Nur er durfte über die Hinrichtungsmethode entscheiden. Das veranlasste, fügte Spelman hinzu, die königlichen Richter zu murren, «denn einen solchen Urteilsspruch … habe man noch nie gesehen».[*1] Wie Anthony Anthony unabhängig notierte, müsste nach «den alten Bräuchen des Landes» eine Verräterin verbrannt werden. Doch bislang war nie zuvor eine englische Königin wegen verräterischen Ehebruchs verurteilt worden, außer in der romantischen Fiktion von Malorys Le Morte d’Arthur.[32]
Jetzt hätte Anne eigentlich in den Tower zurückgebracht werden müssen, aber wenn Chapuys und de Carle recht haben, wurde ihr gestattet, einige Worte zu ihrer Entlastung zu sagen. (Genaugenommen hätte dies nach dem Urteilsspruch der Peers erfolgen müssen, aber noch vor der Bekanntgabe des Strafmaßes.) Äußerte sie sich wirklich? Laut Chapuys tat sie es. Sie sei bereit zu sterben, sagte sie ihm zufolge, doch sie bedauere es außerordentlich zu hören, dass andere, die unschuldig und treue Untertanen des Königs seien, «nur ihretwegen sterben müssten». Danach bat sie um eine kurze Frist für die «Beichte», um vor dem Tod ihr Gewissen zu erleichtern (pour disposer sa conscience).[33]
Während sie aus dem Gerichtssaal geführt wurde, war es auf der Geschworenenbank unruhig geworden. Harry Percy war, leichenblass, zusammengebrochen und musste hinausgetragen werden.[34] Anschließend folgte George seiner Schwester zu seiner eigenen Abrechnung in die King’s Hall. Man hatte Anne bereits weggebracht, bevor er hereingeführt wurde, sodass es zu keiner letzten Begegnung zwischen den beiden kam. George sah sich derselben Gruppe Peers wie seine Schwester gegenüber (mit Ausnahme des unpässlichen Percys) und wurde weitgehend mit denselben Anklagepunkten konfrontiert. Wie sie plädierte er auf nicht schuldig, auch er war bereit, um sein Leben zu kämpfen. Und genau wie sie musste er sich ohne Beistand verteidigen.[35]
Kaum fing Hales an, seine Beweise vorzutragen, ging ein Murmeln durch den Saal, weil deutlich wurde, dass ein Schuldspruch in der Sache George schwierig werden könnte. Die Hauptanklage, dass George mit seiner Schwester Inzest begangen habe, war nicht leicht zu beweisen. Wie Chapuys ausführte, stützte sie sich auf nicht mehr als «Annahmen». Es hieß lediglich, dass er «einmal viele Stunden in ihrer Gesellschaft verbracht» habe und dass es «ungehörige Vertraulichkeiten» gegeben habe, die aber nicht näher benannt wurden.[36] Die angeblichen Verstöße sollten im November und Dezember 1535 stattgefunden haben, aber es wurden keine Details genannt. Es war unvermeidlich, dass Anne und George, weil die Boleyns praktisch seit Beginn von Heinrichs Werben um Anne in großer Einmütigkeit gehandelt hatten, häufig zusammen gewesen waren, aber in Wirklichkeit konnte eine substanzielle Anklage nur mit einem Vorfall in Verbindung gebracht werden: der Episode im Juni 1535, als George plötzlich die englisch-französische Konferenz mit Admiral Chabot in Calais verlassen hatte, um seine Schwester auf den aktuellen Stand zu bringen, nachdem die Verlobung von Prinzessin Elizabeth mit Charles, dem Herzog von Angoulême, gescheitert war. Damals war er mehrere Stunden allein mit ihr in ihrem Schlafgemach gewesen.[37]
Auf Hales’ Vortrag habe George, laut Chapuys, so eindrücklich geantwortet, dass «viele, die beim Prozess anwesend waren und hörten, was er sagte, keine Schwierigkeiten hatten, die Chancen zwei zu eins abzuwägen, dass er frei gesprochen würde, desto mehr, weil keine Zeugen aufgerufen wurden, um gegen ihn auszusagen» – und das trotz der Verurteilung Annes rund eine Stunde zuvor für dasselbe Verbrechen. Wriothesley schreibt ganz ähnlich: George «gab so umsichtig und klug Antwort auf alle gegen ihn vorgebrachten Anklagepunkte, dass es wundersam war, dies zu hören, und er gestand niemals etwas, sondern machte sich so rein, als habe er nie etwas verbrochen».[38]
Auch de Carle kommentierte Georges ruhige Widerlegung der Beweise:
Auf alles antwortete er überzeugend,
Punkt für Punkt, ohne sie durcheinanderzubringen,
so sehr, dass man noch nie einen Mann besser antworten sah.
Nein, nicht einmal More, der über eine solche Fülle
von Eloquenz und Wissen verfügte.[39]
Georges Glanzleistung ist gewiss ein Beweis dafür, dass er eine größere Gefahr für Cromwell war, als jene Biographen glauben, die ihn verächtlich als kaum mehr als eine Chiffre oder einen hochgelobten Laufjungen betrachteten, der Liebesbriefe zwischen Heinrich und Anne überbrachte.[40] Er schwang sich zu noch größeren Höhen auf, als Hales ihm, in einer neuen Wendung eines packenden Prozesses, ein Blatt Papier übergab, das er still, nicht laut lesen sollte und worauf er mit «Ja» oder «Nein» antworten sollte. In einer eklatanten Trotzhandlung, die Cromwell, der die Frage gerne geheim gehalten hätte, empörte, las George den Text laut und vollständig vor, sodass alle in den Reihen ihn hören konnten. Der Text fragte, ob seine Frau Jane Parker ihm jemals mitgeteilt habe, dass Anne ihr anvertraut habe, Heinrich sei «unfähig, mit seiner Gattin zu schlafen, und dass er weder Geschick noch Manneskraft besäße (ne vertu ne puissance)».[41]
Da Anne ihr rückhaltlos vertraute, war es durchaus im Rahmen des Möglichen, dass sie ein solches Geheimnis mit ihrer Schwägerin teilte, die es wiederum George hätte erzählen können. Höchstwahrscheinlich tat sie dies auch, denn George weigerte sich zu antworten: «Ich werde», erklärte er in der Manier eines guten Anwalts, «in diesem Punkt keinen Verdacht erregen, der den Angelegenheiten des Königs schaden könnte.»
Hales war nicht bereit, diese Richtung der Befragung aufzugeben, und behauptete als Nächstes, George habe boshafte Berichte in Umlauf gebracht, welche die Vaterschaft von Annes Kind Elizabeth infrage gestellt hätten. George würdigte diese Unterstellung keiner Antwort. Er kannte seine Schwester.
Sein anhaltender Widerstand war sein Verderben: Alle Peers sprachen ihn schuldig. Norfolk verkündete daraufhin das Strafmaß und die ominöse Abkürzung «T&S» wurde in die Gerichtsprotokolle eingetragen. Wie die vier Bürgerlichen sollte George den Tod eines Kapitalverbrechers am Galgen erleiden – ein Strafmaß, das er mit Gleichmut hinnahm. Er bat lediglich darum, dass seine Schulden beglichen würden, weil sein Besitz nun an den König fielen.[42]
Es folgten etliche Mutmaßungen, wie seine angeblichen Verbrechen denn überhaupt entdeckt worden seien. De Carle ließ George die Richtern Folgendes fragen:
Und auf den Rat nur einer Frau hin
wollt Ihr eine so große Schuld verhängen,
dass Ihr, wegen ihrer Unterstellung,
beschließt, mich zu verurteilen.[43]
Constantine war überzeugt, dass George freigesprochen worden wäre, «wenn es nicht einen Brief gegeben hätte».[44] Der sogenannte portugiesische Gentleman spricht von «jener Person, die mehr aus Neid und Eifersucht als aus Liebe zum König dieses verfluchte Geheimnis verriet und im Zusammenhang damit die Namen jener, die sich an den Missetaten der unzüchtigen Königin beteiligt hatten».[45] Es werden keine Namen genannt, doch im portugiesischen Original ist das Geschlecht des ersten Personalpronomens feminin. Wenn man den Berichten John Husees an Lady Lisle Glauben schenken kann, ist damit Elizabeth Browne gemeint (siehe Anhang).
Am Dienstag, dem 16., kam Cranmer in den Tower. Er hätte durchaus ein schlechtes Gewissen wegen seines Besuchs haben können, denn er kam nicht aus seelsorgerischen Gründen oder gutem Willen. Heinrich hatte ihn geschickt, weil er von Anne vor ihrem Tod Gründe hören wollte, die eine rechtmäßige Annulierung ihrer Ehe gerechtfertigt hätten. Wie im Fall Katharinas legte er Wert auf seine Überzeugung, dass die Ehe ungültig gewesen sei, und zwar von Anfang an. Heinrichs Psyche brauchte das Gefühl, sich wie ein Junggeselle zu fühlen, als er Jane Seymour zur Frau nahm.[46]
Am einfachsten wäre es gewesen, die Idee eines Vorvertrags mit Harry Percy wieder aufzugreifen, doch Annes ehemaliger Verehrer spielte nicht mit. Bereits am 13., also zwei Tage bevor man ihn zu den Peers berufen hatte, die über sie Gericht halten sollten, hatte Percy Cromwell schriftlich seine Leugnung wiederholt, dass zwischen ihnen ein Vorvertrag existiert habe. Höflich, aber bestimmt erinnerte er den königlichen Sekretär daran, dass er dazu bereits befragt worden sei, und zwar unter Eid. Was sich zwischen Cranmer und Anne bei ihrer Begegnung abspielte, können wir nur vermuten, doch angesichts dessen, was kurz danach folgte, scheint sie die Rechtmäßigkeit ihrer Heirat bis zuletzt verteidigt zu haben (und damit auch die Legitimität ihrer Tochter).[47]
Noch am selben Tag wurde Kingston zu einer Audienz bei Heinrich nach Whitehall gerufen. Er erhielt Anweisungen, dass George und die Bürger «morgen sterben» sollten. Während des Gesprächs übergab der gequälte Constable mündlich «Petitionen» von George, welche der König kühl aufnahm. Bezüglich Anne teilte Heinrich ihm mit, dass Cranmer «ihr Beichtvater sein solle». Als Kingston dies gut eine Stunde später Cromwell berichtete, merkte er an, dass der Erzbischof früher an diesem Tag bereits bei ihr gewesen sei, aber «nicht in dieser Angelegenheit».[48]
Nach der Rückkehr in den Tower teilte Kingston Annes Bruder sein Schicksal mit, «und er nahm es sehr gut an und wird sein Bestes tun, bereit zu sein». George wünschte unterdessen, dass Cromwell wegen seiner Bittgesuche bezüglich der Schulden tätig werde, weil diese «sein Gewissen sehr belasteten, wie er sagte». Am meisten machte ihm eine Zahlung in Höhe von 100 Pfund verbunden mit dem Versprechen einer weiteren an Pfingsten zu schaffen, die er von einem Zisterziensermönch erhalten hatte. Im Gegenzug sollte der Mönch zum Abt von Valle Crucis im Nordosten von Wales bestimmt werden. George hatte gehört, dass Cromwell im Begriff war, Valle Crucis zu unterdrücken, doch er war außerstande, dem Mönch die Summe zurückzuerstatten, weil Heinrich sein ganzes Hab und Gut eingezogen hatte. Wenn man nichts unternahm, würde der Mönch «ruiniert» werden.[49]
Beim Abendessen im Tower an jenem Tag sprach Anne davon, sich in ein Nonnenkloster zurückzuziehen, und hatte immer noch «Hoffnung auf Leben». Als Kingston diese Information Cromwell meldete, drängte er ihn, die Wünsche des Königs «bezüglich der Königin» in Erfahrung zu bringen, «ebenso für ihren Trost als auch für die Vorbereitungen des Schafotts und anderer notwendiger Dinge». Im Gegensatz zum Tower Hill, wo ständig ein Schafott stand, befand sich auf dem Tower Green keines. Und wenn man eines brauchte, mussten die Zimmerleute gerufen werden. Eine weitere Sorge des Constable betraf den Umstand, dass George und die Bürgerlichen dazu verurteilt worden waren, in Tyburn zu sterben. Ob das immer noch der Fall sei, fragte er sich?[50]
Man muss Cromwell zugutehalten, dass er umgehend antwortete. Bislang sei noch kein Hinrichtungsbefehl für George und die Bürgerlichen vorbereitet worden, sagte er, aber er werde in Kürze kommen. In Annes Fall habe Heinrich beschlossen, dass sie enthauptet, nicht verbrannt werden solle, von einem Henker, der aus Calais geschickt werde.[51]
In seiner Antwort äußerte Kingston seinen Dank: «Ich bin sehr froh», schrieb er, «von dem Henker aus Calais zu hören, weil er die Angelegenheit regeln» könne. George und die Bürgerlichen seien «alle bereit und, wie ich vertraue, vor Gott rein». Er werde sie, sagte er, am Morgen informieren. Und er werde nach den Zimmerleuten schicken, damit sie mit dem Bau eines Schafotts von «einer angemessenen Höhe, damit alle anwesenden Männer es sehen», auf dem Tower Green beginnen.[52]
Eine Sache, die Anne sehr beunruhigte, war noch nicht geklärt. «Bis dato», führte Kingston aus, «habe ich nichts von My Lord of Canterbury gehört, und die Königin sehnt sich sehr danach, dass ihr die Beichte abgenommen werde.» Ob der Erzbischof tatsächlich noch einmal in den Tower kam, um ihre letzte Beichte entgegenzunehmen, wissen wir nicht mit Sicherheit, da er jedoch von Heinrich ausdrücklich dazu aufgefordert wurde, können wir nur annehmen, dass er gehorchte.
Früh am nächsten Tag, am Mittwoch dem 17. Mai, erhielt Kingston den Hinrichtungsbefehl, der ihn anwies, George und die vier Bürgerlichen für die Hinrichtung zum Tower Hill zu schaffen. Das kürzlich entdeckte Dokument, das in Ralph Pexalls Präzedenzbuch kopiert wurde, widerlegt die alte Annahme, dass Mark Smeaton nach Tyburn gebracht und dort gehängt worden sei.[53] Kingston hatte vermutlich recht, wenn er meinte, dass sie sich in ihr Schicksal gefügt hätten. Manche Romantiker wollen sogar glauben, dass einer von ihnen seine letzten Augenblicke im Diesseits dafür genutzt hat, Annes Falken, allerdings ohne Krone, in die Mauer des Beauchamp Tower zu ritzen.[54] Ein Abschiedsbrief von Weston ist erhalten, fein säuberlich an eine Liste seiner Schulden geheftet, die sich auf rund 900 Pfund beliefen. «Vater und Mutter und Frau», beginnt er rührend:
Ich werde Euch zu meinem Seelenheil demütig bitten, mich von dieser Schuld zu befreien und mir alle meine Kränkungen, die ich Euch angetan habe, zu verzeihen, vor allem meiner Frau, von der ich mir um der Liebe Gottes wegen wünsche, mir zu vergeben und für mich zu beten.[55]
Gut eine Stunde später, um neun Uhr, als die Verurteilten sich auf den Tod vorbereiteten, eröffnete Cranmer in Lambeth ein Sonderkirchengericht, um sich Heinrichs Antrag auf Annullierung seiner Ehe mit Anne anzuhören.[56] Nach einer Sitzung von nicht einmal zwei Stunden bestätigte Cranmer, dass die Heirat schon immer ungültig gewesen sei, und erklärte, das habe «diverse, wahre, rechtliche und legitime Gründe», ohne jedoch einen einzigen dieser Gründe konkret zu benennen. In seinem Notizbuch vermerkte Spelman als Grund, dass «vor der Heirat zwischen ihr und dem König von der Königin ein Vorvertrag mit einem anderen [gemeint ist Harry Percy] geschlossen» worden sei.[57]
Husee, ein Augenzeuge auf dem Tower Hill, versicherte Lady Lisle, dass alle fünf Gefangenen «sehr wohlgefällig starben». Norris habe, berichtet George Constantine, «so gut wie gar nichts» gesagt. Brereton erklärte lediglich: «Ich habe es verdient, tausend Tode zu sterben, doch den Anlass, weswegen ich sterbe, glaubt nicht. Aber wenn ihr urteilt, so urteilt richtig.» Vermutlich wagte er es nicht, seine Unschuld noch inständiger zu beteuern. Weston sagte: «Ich hatte angenommen, dass ich diese zwanzig oder dreißig Jahre in Abscheu gelebt habe, und doch es am Ende hätte wiedergutmachen können.» Smeaton vereinte Konvention mit Kürze und erklärte: «Meine Herren, ich flehe Euch an, betet alle für mich, denn ich habe den Tod verdient.»[58]
George war kühner. Von seiner Rede existieren mehrere Versionen, die sich im Großen und Ganzen in Motiv und Format ähneln. Am Anfang hielt er sich noch an die Konvention:
Ihr Herren alle, ich bin nicht zum Predigen hergekommen, sondern zum Sterben, denn ich habe es verdient zu sterben, wenn ich noch zwanzig Leben schändlicher als man sich ausmalen kann gelebt hätte, denn ich bin ein armer Sünder und ich habe schändlich gesündigt … Ich flehe Euch an, hört auf mich, und insbesondere meine Lords und Edelleute des Gerichts, unter denen ich einst gewesen bin, hört auf mich, und hütet Euch vor solch einem Fall, und ich flehe zu Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, drei Personen und ein Gott, dass mein Tod Euch allen ein Exempel sein möge, und hütet Euch: Vertraut nicht auf die Eitelkeit der Welt, und insbesondere der Schmeichelei des Hofes.[59]
Normalerweise würde eine Rede auf dem Schafott hier enden, nicht so Georges. Chapuys irrte, wenn er glaubte, George werde seine evangelischen Überzeugungen widerrufen. Im Gegenteil, er pries sie:
Für gewöhnlich heißt es, ich sei ein Bekenner des Heiligen Evangeliums Jesu Christi gewesen. Damit das Wort Gottes nicht meinetwegen in Verruf gerate, sage ich Euch allen, dass ich, wenn ich mich wirklich an das Wort Gottes gehalten hätte … nicht in die Lage geraten wäre, in der ich jetzt stecke. Ich las das Evangelium Jesu Christi, aber ich befolgte es nicht. Wenn ich das getan hätte, würde ich noch unter Euch leben. Deswegen, Sires, wegen der Liebe Gottes, haltet an der Wahrheit fest und folgt ihr, weil ein Anhänger mehr wert ist als drei Leser.[60]
Als George enthauptet wurde, hielt sich Anne hinter verschlossenenen Türen auf. Chapuys behauptet, Heinrich habe darauf bestanden, dass sie das Ende ihres Bruders «vom Fenster ihres Gefängnisses aus» mit ansehe. Gnädigerweise war das unmöglich: Von den Gemächern der Königin aus konnte man den Tower Hill nicht sehen.[61] Aber wenn ihr auch erspart wurde, den Tod ihres «süßen Bruders» und der anderen zu verfolgen, so ging ihre eigene Tortur dennoch weiter. Umgeben von Frauen, die sie nicht ausstehen konnte und von denen sie weder Mitgefühl noch Trost erwarten konnte, sah sie sich mit der grausamen Ungewissheit des Wartens auf Kingston konfrontiert.
Ebenso ungeduldig warteten Heinrich und seine neue Geliebte.
*1 Was die Richter am meisten störte, war ein Urteilsspruch, dem es an der Bestimmtheit fehlte, die die Juristen so hoch schätzten.