Nach dem Tod von Anne und George stand es Heinrich nunmehr frei, Jane Seymour zu heiraten, das Bündnis mit Frankreich aufzugeben und eine vollständige Annäherung an Karl V. anzustreben. Cromwell entledigte sich seiner Rivalen, festigte seine Macht und wurde Heinrichs unumstrittener höchster Minister. Thomas Wyatt, durch sein eigenes knappes Entrinnen gebrandmarkt, flocht elegant spitze Epitaphe für jedes einzelne Opfer des Königs in die zentralen Strophen eines Poems:
Es heißt, «Rochford, wärst nicht so stolz du gewesen,
Wegen deines großen Geists hätten alle dich betrauert.»
Denn, weil dem so ist, rufen viele aus:
»Es ist ein großer Verlust, dass du von uns gegangen.»
Ach, Norris, Norris, meine Tränen beginnen zu fließen,
Wenn ich denke, welches Los dich also führte oder leitete,
Wodurch du sowohl dich als auch die Deinen vernichtetest,
Dies wird beklagt am Hof von jeder Seite …
Ach, Weston, Weston, liebenswürdig und jung wie er war,
Bei der Tat, wer könnte sich mit dir messen? …
Und wir, die wir am Hof unser Leben fristen,
Zumeist in Gedanken dich beklagen und bejammern …
Brereton, leb wohl, als einer, den ich kaum kannte.
Groß war, wie ich höre, deine Liebe zu diversen [d.h. vielen],
Doch die allgemeine Stimme schmerzt deine Reue nicht so sehr
Wie anderes, das zuvor ans Licht gekommen.
Und doch betrauern, ohne Zweifel, dich deine Freunde
Und andere hören deren kläglichen Schrei und Jammern …
Ach, Mark, welche Klage soll ich für dich noch verkünden
Denn du hast doch deinen Tod am ehesten verdient,
Außer dass mein Auge schmerzen muss
vor jämmerlicher Klage, dich mit den übrigen zu betrauern?[1]
Am 30. Mai 1536, nur elf Tage nachdem sein «Sweetheart» ihr Leben ausgehaucht hatte, heirateten Heinrich und Jane in aller Stille in Whitehall.[2] Er war überzeugt, dass er endlich eine Frau gefunden hatte, die ihm die Liebe, die er wünschte, und die Liebe, die er brauchte, gab, jedoch ohne zu versuchen, seine Politik zu beaufsichtigen, oder ihm zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte. Sir John Russell scherzte in einem Brief an Viscount Lisle darüber, wie Heinrich «aus der Hölle und in den Himmel» gekommen sei, denn Jane «ist eine so sanfte Lady, wie ich jemals eine kannte, und eine ebenso gerechte Königin wie jede in der Christenheit». Heinrich könne nunmehr die «Sanftheit» seiner neuen Königin genießen und die «Bosheit und Unglückseligkeit in der anderen» vergessen. Doch diese bekannte Beobachtung ist nicht ganz das, was es scheint. Der Rest des Schreibens umfasste Ratschläge für Lisle. «Weshalb, Mylord», schrieb er, «ich meine, es wäre sehr gut, wenn Ihr wiederum dem König schriebet, dass Ihr frohlockt, dass er mit einer so anmutigen Frau, wie sie es ist und wie Ihr hörtet, eine so gute Partie gemacht habe.» Heinrich mochte die Frau seiner Träume gefunden haben, doch er sehnte sich immer noch nach Bestätigung und Zustimmung.[3]
Einige lose Fäden blieben noch, die es galt zu verknüpfen. Am 1. Juni wurden alle Kinder, die Anne durch ihre Ehe mit Heinrich gehabt haben mochte, versehentlich vom irischen Parlament zu den legitimen Erben des Königs erklärt. In einer bizarren Wendung der Ereignisse hatte das Parlament am 1. Mai seine Arbeit aufgenommen, und am 17. teilte William Brabazon, Cromwells Vertreter, diesem von Dublin aus in einem Schreiben die Bezeichnungen der Gesetze mit, die im Unterhaus bereits verabschiedet worden waren: Die Zustimmung der Lords sollte in Kürze folgen. Es fehlte nur noch die Billigung des Königs, die stellvertretend durch zwei hochrangige Richter aus London erteilt werden sollte. Zu den englischen Gesetzen, deren Geltungsbereich in der Legislaturperiode auf Irland ausgedehnt werden sollte, zählte auch der Thronfolgeakt von 1534. Von diesem peinlichen Versehen überrumpelt, wies Cromwell den irischen Kronrat an, die Sitzung unverzüglich «zu stoppen». Sein Brief kam aber erst am 3. Juni an, zwei Tage zu spät. Danach musste alles wieder neu aufgerollt werden.[4]
Am 8. Juni trat das englische Parlament zusammen. In der Eröffnungsrede vor Mitgliedern beider Häuser verglich Lordkanzler Audley Heinrich mit dem König Salomo, dessen Mantra gelautet habe (zumindest behauptete er das): «Gedenke der Vergangenheit, prüfe die Gegenwart, sorge für die Zukunft.» Anne sei, betonte er, eine verruchte Frau gewesen und zu Recht wegen Verrats verurteilt worden. Sobald sich Heinrich ihrer Schlechtigkeit bewusst geworden sei, habe er seine Pflicht getan, indem er sie vor Gericht gebracht und dabei zuallererst das Wohlergehen seiner Untertanen und politische Stabilität im Blick gehabt habe. Das Parlament sei deshalb einberufen worden, fuhr er fort, weil jene Gesetze, die Anne und ihre Nachkommen begünstigten, abgelöst werden müssten.[5]
Heinrichs Ersatz für das Thronfolgegesetz von 1534 legte die rechte Lehre bezüglich der Boleyns fest, die für den Rest seiner Herrschaft galt. Er habe demnach seine Ehe mit Anne für «rein, aufrichtig, vollkommen und gut» gehalten, bis «Gott in seiner unendlichen Güte, vor dem kein Geheimnis verborgen werden kann, es gefügt hat, dass … gewisse gerechte, wahre und gesetzliche Hindernisse ans Licht kamen». Anne habe sich als falsch erwiesen und nicht nur die Ehre des Königs in Gefahr gebracht, sondern sein Leben «bis hin zum völligen Verlust, der Enterbung und der Verwüstung dieses Reiches».[6]
Der überarbeitete Gesetzestext entzog Elizabeth ihren Titel als Prinzessin und erklärte sie für unehelich, überließ den Thron ferner den Erben des Königs von Jane, oder, falls es keine geben sollte, einer beliebigen Person, die Heinrich in seinem letzten Willen dazu auserwählte. Womöglich spielte er mit dem Gedanken, Mary wiedereinzusetzen, er hatte das Karl gegenüber angedeutet, nur dass das Gesetz auch sie, zum ersten Mal, ausdrücklich für unehelich erklärte. Erst im Jahr 1544, als Heinrich schließlich als Verbündeter Karls nach Frankreich und ein Heer gegen Franz I. anführte, setzte er seine Töchter wieder in die Thronfolge ein, obwohl keine der beiden legitimiert wurde.[7] Wahrscheinlich ging es ihm jedoch eher um Henry Fitzroy, den er im frisch fertiggestellten St James‘s Palace unterbrachte, den Anne für ihren und des Königs künftigen Sohn und Erben vorgesehen hatte.[8] Wenn das tatsächlich seine Überlegungen waren, so wurde nichts daraus. Die Frage der Thronfolge Fitzroys wurde obsolet, als der Teenager am oder um den 8. Juli an einer Bronchopneumonie erkrankte. Zwei Wochen später war er tot.[9]
Jane Seymour, deren Motto «Verpflichtet zu gehorchen und zu dienen» lautete, erwies sich als die ideale Ehefrau und Königin Heinrichs.[10] Sie stritt niemals mit ihrem Mann – nur einmal und nur kurz stellte sie seine Entscheidung, kleine Klöster zu enteignen, infrage, machte aber rasch einen Rückzieher, als er sie an Annes Schicksal erinnerte. «Denkt daran», warnte er sie drohend, «dass die letzte Königin gestorben war als Folge dessen, dass sie sich allzu oft einmischte.»[11] Jane konnte kleinlich und engstirnig sein, doch sie hatte ihren eigenen Stil – einen dezidiert und bewusst englischen Stil ganz im Gegensatz zu Annes. Für Jane kamen keine französischen Roben und Hauben infrage: Die altmodische englische Giebelhaube war ihr Markenzeichen für Loyalität.[12]
Am 12. Oktober 1537, kaum sechzehn Monate nach der Hochzeit, brachte Jane in Hampton Court einen gesunden Sohn zur Welt. Auf eine ereignislose Schwangerschaft folgte eine schwierige Geburt, die zwei Tage und drei Nächte dauerte. Heinrich nannte seinen Sohn Edward, nach Eduard III., seinem königlichen Vorfahr über die Beaufort-Linie. Zwölf Tage später erhielt Jane, die sich von den schweren Wehen nicht mehr erholte, die Letzte Ölung. Sie starb im Alter von nur achtundzwanzig Jahren an einer postnatalen Blutung. Heinrich fühlte sich beraubt, wie er Franz schrieb: «Es hat der göttlichen Vorsehung, deren Wille hochheilig ist, wohl gefallen, meine Freude mit der Bitterkeit zu vermengen, jene Frau niederzustrecken, die mir dieses Glück bescherte.» Er ließ allein in London 1200 Messen für sie lesen, und sie wurde feierlich in der St George’s Chapel in Windsor in einem Grab beigesetzt, das er später mit ihr zu teilen beschloss.[13]
Mit der Verabschiedung des neuen Thronfolgegesetzes wurde die Geschichte neu geschrieben und die Gerichtsurteile gegen Anne und George wurden gesetzlich verankert. Wie konnten so viele kluge Menschen offenkundig den Anklagen, die gegen die beiden vor Gericht vorgebracht wurden, Glauben schenken? Dass dies eine politische Entscheidung war, liegt auf der Hand, aber es steckt mehr dahinter. Was Anne angeht, so begriff sie niemals ganz, wie sehr die höfischen «Vergnügungen», denen sie sich in ihren Gemächern hingegeben hatte, einen Sexskandal geschürt hatten. Spiele und Liebeleien von einer derart gewagten, französisch inspirierten Art sollte man in England nie wieder erleben, nicht einmal während der Herrschaft Karls I., nachdem er die französische Prinzessin Henrietta Maria geheiratet hatte. Der einzige weitere Fall auf den Britischen Inseln ereignete sich am Hof Marias I., Königin von Schottland, wo die Vorkommnisse dazu beitrugen, eine weitere Königin zu stürzen.[14]
Was Heinrich betrifft, so war ihm nichts wichtiger als die Ehre, das Ansehen und das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Was ihn dazu trieb, Anne fallen zu lassen, waren Anklagen, von denen er meinte, er könne sie nicht unbeschadet ignorieren, rasch gefolgt von einer Untersuchung, die scheinbar zwingende Beweise zutage brachte und ein eigenes tragisches Momentum entwickelte. Die unerbittlich von Cromwell gelenkten Ermittlungen erreichten einen Punkt, wo bereits die leiseste Andeutung, Anne könnte unschuldig sein, als Beweis für die Schuld des Sprechers selbst gewertet wurde. Die ganze Zeit über erschienen Heinrich seine Handlungen absolut gerechtfertigt, verantwortungsvoll und vernünftig. Ob er Norris’ Begegnung mit Anne mit der zwischen Sir Lancelot und Guinevere aus Morte d’Arthur verglich, wobei er den Part des gehörnten König Artus spielte, ist reine Spekulation. Als er jedoch beschloss, Anne wegen verräterischen Ehebruchs vor Gericht zu bringen, legte nicht zuletzt Malorys Werk konzeptionell die Basis für dieses Vorgehen.[15]
Warum Heinrich genau das starke Gefühl hatte, dass ihr Tod unerlässlich sei, ist allerdings eine faszinierende Frage. Warum stoppte er nicht in letzter Sekunde ihre Hinrichtung, wie er es in anderen Fällen gelegentlich tat und wie Anne bis zu einem gewissen Grad geglaubt hatte? Wenn er Jane heiraten wollte, kam es doch in erster Linie darauf an, dass seine Ehe mit Anne annulliert wurde. In Anbetracht ihrer Bereitschaft, sich in ein Nonnenkloster zurückzuziehen, dürfte sie ihm kaum weitere Probleme bereitet haben, auch wenn ihr Bruder George genau das zweifellos getan hätte. Zum Teil lag es an dem skandalösen Charakter des Vorwands für ihre Verhaftung: Sobald man sich für eine Anklage wegen verräterischen Ehebruchs entschieden hatte, fühlte er sich verpflichtet, die Hinrichtung auch zu vollstrecken. Zum Teil lag es daran, dass er von dem Gerede, er sei außerstande, in der eigenen Familie und im Haushalt für Ordnung zu sorgen, so aufgebracht war, weil es zugleich implizierte, er eigne sich nicht zum Herrschen.
Der Hauptgrund war jedoch, dass er Anne am Ende wirklich für schuldig hielt. Sein Gefühl, verraten zu sein, war so schmerzhaft, dass er in den «Opfermodus» rutschte und sich selbst einredete, er sei das Ziel einer finsteren, von Anne gelenkten Verschwörung, ihn zu ermorden und einen ihrer Liebhaber, vermutlich Norris, zu heiraten. Vor lauter rührseligen Selbstmitleids konnte er nur an die glückliche Errettung denken, die ihm und seinen Kindern offensichtlich gelungen war. Am Abend nach Annes Verhaftung, als Fitzroy kam, um Heinrich Gute Nacht zu sagen, mahnte er seinen Sohn unter Tränen, dass er und seine Schwester – also Mary, nicht Elizabeth – «Gott dafür danken müssten, dass sie den Fängen jener Frau entronnen wären, die ihren Tod durch Gift geplant habe».[16]
Nur einen Moment lang hatte Heinrich geschwankt. Und nachdem die Entscheidung gefallen war, empfand er wegen Annes Hinrichtung überhaupt keine Gewissensbisse oder Schuldgefühl. Das bestätigt seine extreme Reaktion im Juni 1537, nachdem Sir Francis Bryan ihn warnte, dass das Gedicht Lancelot de Carles La histoire de la royne Anne Boullant d’Angleterre gedruckt worden sei und in Frankreich ungehindert verbreitet werde. Vor Wut schäumend befahl Heinrich Stephen Gardiner, unverzüglich eine Audienz bei Franz zu beantragen, und verlangte, sämtliche Exemplare zu vernichten. Erstaunlicherweise entsprach Franz diesem Wunsch: Das Druckwerk verschwand und tauchte erst im Jahr 1545 wieder auf, als es in Lyon erneut publiziert wurde.[17]
Nicht alle im Parlament oder darüber hinaus hielten Anne für eine Hure. Karls Schwester, Maria von Ungarn, berichtete über Neuigkeiten aus England und teilte ihrem Bruder nur zehn Tage nach dem Prozess gegen Anne und George mit, dass die Leute, weil außer Smeaton keiner gestanden hatte, glaubten, Heinrich habe «diese Art des Plädoyers» (ce stil) erfunden, um Anne loszuwerden.[18] In London, und insbesondere unter evangelischen Mitgliedern der Mercers’ Company, gab es Anzeichen von Unmut. Sir John Allen, der Lord Mayor, der sowohl dem Prozess gegen Anne als auch dem gegen die Bürgerlichen und den Hinrichtungen beigewohnt hatte – ein Mann, der Heinrich und Cromwell wohlbekannt war und regelmäßig im Kronrat saß –, vermutete von jeher, dass Anne unschuldig sei. Laut George Constantine gab es «wegen Königin Annes Tod viel Gemurmel». Chapuys, der zwar kein Freund von Anne, aber im Grunde ein aufrechter Mann war, gab die Stimmung treffend wieder mit der Beobachtung: «Obwohl alle über die Hinrichtung der putain [Hure] jubeln, gibt es manche, die wegen der Art des Vorgehens murren, das gegen sie und andere angewandt wurde, und die Leute reden unterschiedlich über den König.»[19]
Eine Generation später hielt George Wyatt, als er in seinem Werk Life of Anne Boleyn über die ihm zur Verfügung stehenden Beweise nachdachte, es «unter den Umständen für unmöglich», dass sie die angeblichen Verbrechen des Inzests und des Ehebruchs begangen habe. Unmöglich «wegen der nötigen und nicht geringen Anwesenheit von Hofdamen stets um sie, von denen manche, wie sich später zeigte, sogar nach ihrem Platz und Recht in der Liebe des Königs trachteten». Und auch deshalb unmöglich, «weil sie ebenso wenig so hohe Damen, die von Amts wegen damit beauftragt waren, sich fortwährend um sie zu kümmern, davon abhalten konnte, zu Zeuginnen ihres Handelns zu werden».[20]
Als nur sieben Wochen nach der Hinrichtung Annes die Nachricht von Margaret Douglas’ heimlicher Heirat durchsickerte, wurden sie und ihr Liebhaber verhaftet. Heinrich schickte sie in den Tower, doch als ihre Mutter, die ältere Schwester des Königs, energisch protestierte, verbannte Heinrich seine Nichte fast ein Jahr lang in das Nonnenkloster bei Syon.[21] Das Parlament klagte Lord Thomas Howard des Hochverrats an und erklärte es zum Verrat, ohne ausdrückliche Erlaubnis des Königs in die königliche Familie einzuheiraten. Die Todesstrafe wurde zwar ausgesetzt, doch Lord Thomas erkrankte schwer und starb fünfzehn Monate danach im Tower.[22] Unterdessen wurde Douglas die Rückkehr an den Hof gestattet, wo sie künftig als «Lady Margaret Howard» geführt wurde – ein eindeutiger Beweis, dass Heinrich ihre heimliche Heirat zwar zerstören, aber nicht auflösen konnte.[23]
Außer dem Duke of Suffolk, dessen Selbsterhaltungstrieb bis zur Perfektion ausgereift war, überlebten nur wenige derjenigen lange, die nach Annes Sturz noch aufrecht stehen konnten oder die am meisten von ihm profitiert hatten. Sosehr ihre Eltern auch katzbuckeln mochten, um Heinrichs Vertrauen und ihre Stellung am Hof zurückzugewinnen, gelang es ihnen doch nie wirklich. An die Peripherie gerückt starb Thomas Boleyn 1539 zuhause in Hever und liegt dort noch heute in St Peter’s, wo ein lebensgroßes Abbild auf einer Gedenktafel an ihn erinnert. Annes Mutter war ein Jahr zuvor im Londoner Haus der Familie gestorben und wurde mit dem Boot zur Kirche der Gemeinde Lambeth am Ufer der Themse gebracht, um dort «mit brennenden Fackeln und vier Flaggen an allen Seiten des Boots» beigesetzt zu werden.[24] Thomas einigte sich mit Georges Witwe Jane Parker über die finanzielle Seite. Sie machte am Hof Karriere und diente Jane Seymour ebenso wie Anna von Kleve, ehe sie verhängnisvoll in Katherine Howards Techtelmechtel mit Thomas Culpepper hineingezogen wurde. Im Jahr 1542 wurde auch sie auf einem Schafott, der auf dem Tower Green errichtet wurde, vor dem House of Ordnance geköpft.[25]
Wenige Wochen nach Annes Tod war Cromwell als höchster Minister des Königs in der Position angekommen, nach der er sich schon immer gesehnt hatte. Mit umfassenden neuen Vollmachten als «Generalvikar» der Kirche ausgestattet sowie als Lordsiegelbewahrer und schließlich Lord Great Chamberlain, setzte er seine Tätigkeit als evangelischer Reformer fort, häufig auch hinter dem Rücken des Königs, und ließ damit auf seltsame Weise Annes Werte nachhallen, selbst nachdem er sie vernichtet hatte.[26] Nicht umsonst nannte John Foxe Anne und Cromwell die – wenn auch eindeutig schlecht zusammenpassenden – Zwillingsarchitekten der englischen Reformation. Als auch Cromwell die Grenze überschritt und 1540 hingerichtet wurde, kehrte Heinrich zu traditionelleren, katholischen theologischen Auffassungen zurück, hielt jedoch an seiner politischen Ablehnung Roms und des Papsttums fest.
Von Annes Freiern starb Harry Percy im Sommer 1537 im Alter von kaum fünfunddreißig Jahren. Er hatte seine Stimme verloren und nurmehr ein blasses Augenlicht; sein Bauch war aufgebläht und «sein ganzer Körper so gelb wie Safran». Thomas Wyatt nahm nach seiner Entlassung aus dem Tower seine diplomatische Karriere wieder auf, obwohl er sich selbst zunehmend für ungeeignet für diese Aufgabe hielt. Durch eine grausame Wendung des Schicksals führte eine boshafte Anklage wegen Verrats durch Edmund Bonner im Jahr 1541 dazu, dass er erneut in den Tower musste. Beinahe ebenso grausam war die Tatsache, dass Heinrich – in einem gehässigen Akt der Scheinheiligkeit – für Wyatt, nachdem dieser seine Unschuld bewiesen hatte, anordnete, der Preis für seine Freiheit sei die Rückkehr zu der Ehefrau, die er vor so langer Zeit verstoßen hatte, und mit ihr als guter Ehemann zu leben. Zähneknirschend tat er das allem Anschein nach auch, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad und nicht allzu lange, weil er nur ein Jahr später starb.[27]
Annes Cousin Francis Bryan genoss seinen Moment des Ruhms als neuer chief gentleman of the privy chamber, doch sein Einfluss nahm ab, nachdem man ihn verdächtigte, für eine Versöhnung mit Rom einzutreten. Ende 1538 wurde er abgelöst. Er starb 1550 in Irland. Sein Schwager Nicholas Carew und Henry Courtenay, der Marquis of Exeter, wurden beide einen Kopf kürzer gemacht, weil Cromwell sie anklagte, sich zu einer Wiedereinsetzung Marys auf ihren rechtmäßigen Platz in der Thronfolge verschworen zu haben. Mehr Glück hatte Annes Onkel Norfolk. Er wurde zwar in der Abenddämmerung von Heinrichs Herrschaft im Parlament des Verrats angeklagt, überlebte jedoch, weil der König in den frühen Stunden eben jenes Morgens starb, an dem er Bekanntschaft mit dem Henkerbeil machen sollte. Sein Sohn Henry Howard, Earl of Surrey, der vierzehn Tage vor ihm vor Gericht gestanden hatte und verurteilt worden war, hatte weniger Glück.
Mary Howard, Surreys Schwester und Fitzroys Witwe, fiel wegen ihrer Beihilfe zur Verheimlichung der Affäre von Margaret Douglas in Ungnade. Sie versuchte verzweifelt, ihre Mitgiftgüter zu bekommen, und war gezwungen, ihre Juwelen zu verkaufen. Sie überlebte knapp die Verhaftungen Norfolks und Surreys und zog die Kinder ihres hingerichteten Bruders auf, wobei sie John Foxe als Hauslehrer beschäftigte. Sie heiratete nicht wieder, auch wenn ihr Vater versuchte, sie mit Thomas Seymour zu verloben, dem jüngeren Bruder Janes.[28]
Annes Cousine Mary Shelton weigerte sich anfangs ebenfalls zu heiraten, hatte aber eine lange Affäre mit Thomas Clere, dem Diener und lebenslangen Freund Surreys. Als Clere 1544 sein Testament aufsetzte, bedachte er sie mit dem halben Anteil an einem Dutzend Güter in Norfolk, und als er starb, schrieb Surrey ein Epitaph, das folgende Zeilen enthielt:
Shelton zur Geliebten, Surrey zum Herrn erwähltest du;
Oh je, solange das Leben währte, war dieser Bund liebevoll.
Erst dann heiratete Mary als zweite Frau von Sir Anthony Heveningham einen reichen Grundbesitzer in Norfolk, und nach dessen Tod den deutlich jüngeren Philip Appleyard, Stiefbruder von Amy Robsart, der unseligen ersten Frau von Elizabeths Liebling und Verehrer Robert Dudley.[29]
Der junge Prinz Edward wurde nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1547 im Alter von neun Jahren König, starb jedoch vor seinem sechzehnten Geburtstag, ebenfalls an Bronchialpneumonie. Unter Cranmers Aufsicht lenkte er das Land in eine klar protestantische Richtung. Als seine überzeugt katholische Halbschwester Mary ihm nachfolgte, heiratete sie Karls Sohn Philipp, den damaligen Regenten und Thronerben Spaniens, und brachte eine Wiedervereinigung mit Rom zuwege. Die Ehe blieb kinderlos. Mary starb 1558 als traurige und einsame Frau und machte den Weg für Annes Tochter frei, die am Ende die einzige echte Gewinnerin war.
Sobald Elisabeth Königin war, beharrte sie auf dem Bruch mit Rom. Ohne Anne und ihre Tochter wäre England niemals ein protestantisches Land geworden. In dem 1559 veröffentlichten Buch An Harborowe for Faithfull and Trewe Subiectes («Ein Hafen für fromme und treue Untertanen») rühmt John Aylmer, dessen Ausbildung in Cambridge Anne unterstützt hatte, sie als «den wichtigsten, ersten und einzigen Grund dafür, dass das Untier von Rom mit seinem ganzen erbärmlichen Gerümpel verbannt wurde». Sie sei «die Frucht und Wurzel» der Reformation gewesen. «Wurde jemals in England», fragte er, «von einem Mann eine größere Heldentat begangen als diese von einer Frau vollbrachte?»[30]
Während ihrer langen Herrschaft blieb Königin Elisabeth I. ihrer Entscheidung treu, keine schlafenden Königinnen zu wecken. Es gibt jedoch einige Hinweise auf ihre Gefühlslage. Dazu zählt etwa der Chequers Ring, eine erstaunliche Goldschmiedearbeit, die später der Nation vermacht wurde und heute im offiziellen Landhaus des Premierministers in Buckinghamshire aufbewahrt wird. Mit ihrem Monogramm auf der Fassung, wobei das «E» aus sechs sorgfältig geschliffenen Diamanten gebildet wird und das «R» in blaues Email geätzt ist, öffnet sich die Kuppe des Perlmuttrings und zeigt die emaillierten Büsten und Miniaturporträts zweier Frauen. Eines ist ein Profil von Elisabeth selbst, das zweite ein En-face-Bildnis Annes, das der 1534 geschlagenen Medaille sehr stark ähnelt. Elisabeth kritisierte ihren Vater niemals, aber es ist doch bezeichnend, dass die Porträts sie selbst und ihre Mutter zeigen, ihn aber nicht.[31]
Als Königin verließ sich Elisabeth stark auf die Verwandten ihrer Mutter. In der Praxis waren das für gewöhnlich Mary Boleyns Sohn Henry Carey und dessen Tochter Katherine «Kate». Nur wenige Wochen nach ihrer Thronbesteigung ernannte sie ihn zum Lord Hunsdon, teilte ihm das Herrenhaus Hunsdon ihrer Mutter zu und gewährte ihm weitere Güter in Hertfordshire, Kent und Essex im Wert von 4000 Pfund jährlich. Wann immer sie jemanden brauchte, dem sie völlig vertrauen konnte, schickte sie nach ihm. Kate machte sie im Alter von zwölf Jahren zu einer ihrer Ehrenjungfern und mit kaum fünfzehn zur Hofdame, zur gentlewoman of the privy chamber. Kate war wohl die Frau, die man noch am ehesten eine echte Freundin Elisabeths nennen konnte. Später heiratete sie Karl, Sohn von Lord William Howard und Margaret Gamage und Oberbefehlshaber über die Flotte, die die Spanische Armada besiegte.
William Staffords zweite Frau Dorothy, die er nach Mary Boleyns Tod heiratete, zählte zu den Lieblingsbettgenossinnen Elisabeths. Beinahe dreißig Jahre lang war sie eine von drei oder vier Hofdamen, die die Königin ausgewählt hatte, neben ihr auf einer Pritsche zu schlafen.
Anne war Heinrichs Liebe seines Lebens. Obwohl er später ganz vernarrt in die junge Katherine Howard war, sollte er nie wieder eine solche Intensität der Leidenschaft wie mit Anne empfinden. Man kann ihr den Vorhalt machen, dass sie, nachdem sie das Herz des Königs gewonnen hatte, eifersüchtig war auf jede und jeden, der oder die drohte, sich zwischen Heinrich und sie zu drängen – ein Fehler, den sie möglicherweise selbst zugegeben hätte. Lancelot de Carles Gedicht enthält eine umfangreichere Fassung der Rede, die sie vermeintlich nach der Verkündung des Strafmaßes vor Gericht hielt. Darin bekennt sie: «Ich habe [dem König] nicht immer die Demut erwiesen, die ich sollte … wegen einer Eifersucht. Ich weiß, dass mich in dieser Beziehung die Tugend verließ, aber ansonsten ist Gott mein Zeuge, dass ich keine anderen Verfehlungen gegen ihn begangen habe.»[32]
Der Umstand, dass sie so empfand, war die Folge der Verwundbarkeit, die sie in Krisen spürte. Als sie und Heinrich als Team auf seine Scheidung hinarbeiteten, waren sie ein Herz und eine Seele. Sie hatten ein gemeinsames Ziel, trachteten mit der gleichen Zähigkeit und Entschlossenheit danach, es zu erreichen. Kaum waren sie verheiratet, jagten sie nicht länger der gleichen Beute nach. Und je mehr Zeit verging, desto stärker drohte das, was Heinrich einst so bezaubernd an ihr wahrgenommen hatte, zu verblassen, umso mehr, wenn sie ihm nicht den versprochenen Sohnschenken sollte. Was an einer Geliebten noch so bezaubernd war, sollte sich bei einer Ehefrau als weniger reizvoll erweisen. Doch die Anne, die ihren Vorbildern Luise von Savoyen und Margarete von Navarra folgte, hätte sich nie mit der Selbstverleugnung abfinden können, die von einer untertänigen, gehorsamen Ehefrau erwartet wurde. Dafür hatte sie zu viel Elan, zu viel Wagemut und zu viele unerfüllte Ambitionen.
Anne war eine außerordentlich moderne Frau, ein überaus begabter, fesselnder Kopf. Sie fühlte sich wohl in ihrer Haut und war sich ihres Schicksals sicher. Selbst ihr Erzfeind Cromwell erklärte sich bereit, ihren Geist, ihre Klugheit und Courage zu rühmen.[33] Sie war ganz eindeutig das Produkt der Erfahrungen und Traditionen ihrer Familie und besaß einen einzigartigen Charme und eine außergewöhnliche Zähigkeit. Als Stimme, die entschlossen war, sich in der Kakophonie an Heinrichs Hof Gehör zu verschaffen, las Anne ihre Bücher, bildete sich ihre eigene Meinung und war bereit, sie gegen jeden Herausforderer zu verteidigen. Sie war die erste Königin Englands, die eine Reformagenda propagierte, mit Sicherheit gilt das für die Religion. Ihr größter Charakterfehler verblasste vor den schwindelerregenden Wirkungen von Macht und Hybris. De Carle lag nicht weit daneben, wenn er sie im Grunde als gut und tugendhaft schilderte, bis der Ehrgeiz ihr den Kopf verdrehte:
Vielleicht lag es am gesunden Menschenverstand
eines nicht konstanten und wechselnden Glücks,
oder daran dass Gott uns häufiger zeigen möchte
dass große Ehren und weltliche Güter nur Schall und Rauch sind …[34]
Von Heinrichs Hingabe angespornt, glaubte sie alles bekommen zu können, was sie wollte, und dass das, was sie wollte, auch richtig sei. Irgendwie gelang es ihr, die Nebenwirkungen zu ignorieren, die diese Haltung auslösen konnte. Wenn sie für etwas kämpfte, seien es Profite und Ämter für ihre Familie oder Protegés, sei es eine Sache, an die sie glaubte – Religion, Bildung, Armenhilfe –, sei es der dynastische Status ihrer Tochter, dann war sie der Inbegriff von Disziplin und Entschlossenheit. Doch wie im Fall der Instrumentalisierung von Skips Predigt konnte sie häufig, auch wenn ihre Motive ehrenhaft waren, nicht erkennen, wie weit sie eine Grenze überschritten hatte und dass sie so ihren Gatten in Rage bringen würde. Wohl ihre größte Schwäche entsprang aus ihrer Weigerung, sich selbst vor der Heirat zu fragen, wie es denn wirklich wäre, mit Heinrich zu leben. Welche Qualität würde ihre Beziehung haben? Konnten sie sich rückhaltlos vertrauen? Eine stabile Ehe ist, selbst auf der höchsten gesellschaftlichen Ebene, eine Ehe mit einem emotionalen Anker.
Die Frage, ob sie Heinrich wirklich liebte, ist am schwersten zu beantworten. Ihr brennendes Erlebnis mit Harry Percy hatte sie gelehrt, nie allzu viel von romantischer Liebe zu erwarten. Als ihre Schwester mit dem niederen William Stafford dann die wahre Liebe fand, mag die Heftigkeit ihrer Reaktion eine gewisse sexuelle Eifersucht kaschiert haben, womöglich gespiegelt in ihrem privaten Geständnis, dass Heinrich im Bett nicht gut sei, weil er «weder Geschick noch Manneskraft» habe. Der beste Hinweis auf ihre Gefühle sind die Worte, die sie während der Messe Heinrich als Antwort auf dessen Botschaft zusteckte, zu einer Zeit, als sie umeinander warben. Als sie schrieb: «Durch tägliche Beweise werde ich Euch zeigen/dass ich Euch lieb bin und zu eigen», kamen diese Worte aus ganzem Herzen oder hatte sie das Gefühl, in diesem Moment genau das sagen zu müssen? Genau betrachtet sind ihre Worte sanftmütig, nicht leidenschaftlich, eher die Art der Zuneigung, die man von Frauen, die sich in arrangierten Ehen wiederfanden, erwartete, wenn sie ihrem Gatten versprachen, ihn «zu lieben, zu achten und ihm zu gehorchen». Heinrich zog ein ganz anderes Register: «Wenn Ihr Euch meiner Liebe in Euren Gebeten so innig erinnert, wie ich Euch verehre, werde ich wohl kaum vergessen werden, denn ich bin der Eure, Heinrich R, immer.»
Nachdem er Anne hatte fallen lassen, versuchte Heinrich sie komplett aus seinem Leben zu verbannen. Unermüdlich ordnete er an, ihre Porträts, Kleider, Kunstwerke, persönlichen Besitztümer und Briefe zu vernichten, sodass sich Biographen schwer tun zu erkennen, wer sie wirklich war. Wenn sie jemals für Holbein Modell saß, so dürfte ihr Porträt um diese Zeit verschwunden sein. Der einzige nennenswerte Besitz, der dieser Tabula rasa entkam, waren rund fünfzig Bücher und Handschriften, die ihr und ihrem Bruder gehört hatten. Viele wurden Heinrichs Sammlungen einverleibt, wobei ihre Herkunft durch das Einfügen seiner eigenen Inventarnummern verschleiert wurde, und ein paar wurden zur Zeit ihrer Haft als Andenken weggeben oder entwendet. Die meisten landeten später in den Sammlungen der British Library, andere wurden irgendwann auf Auktionen versteigert oder an Händler weitergegeben, zum Beispiel Lefèvres The Ecclesiaste in Alnwick Castle, Annes französischer Psalter, der von J. Paul Getty erworben wurde, und die beiden Stundenbücher, die sich heute in Hever befinden.
Es war bereits die Rede davon, dass das Stundenbuch, in dem Heinrich und Anne Liebesbekundungen austauschten, in den Besitz von Bess Holland gelangte. Von den Büchern aus Hever landete das pergamente Stundenbuch, in das Anne «Remember me when you do pray/That hope doth lead from day to day/Anne Boleyn» geschrieben hatte, bei ihrer Hofdame Elizabeth Hill. Unter ultraviolettem Licht sind teilweise ausradierte Inschriften unter anderen von Hills Mutter, Tante und Cousine zutage gekommen. Keine handfesten Beweise stützen die romantische Überlieferung, dass Anne diese Bücher Holland und Hill auf dem Schafott überreicht hätte – aus Kingstons Berichten geht eindeutig hervor, dass keine der Frauen bei ihr im Tower war.[35]
Anne war nicht verantwortlich für die umfassenden Zerstörungen, die mit Heinrichs Vorgehen gegen die Klöster verbunden waren, auch wenn ihr Plan, einen Teil des monastischen Vermögens einer nützlicheren Verwendung zuzuführen, dessen Ideen förderte. Die Plünderung der Kirche durch den König – nicht lange nach Annes Tod konfiszierte er den Besitz aller rund 600 Ordenshäuser – allein, um die königlichen Finanzen aufzubessern, nicht etwa, um Schulen, Universitäten und Hospitäler zu gründen oder Stipendien und Lehrstellen zu finanzieren, löste in Lincolnshire, Yorkshire und im größten Teil des Nordens Massenunruhen aus. Die Rebellen kamen einem Erfolg gefährlich nahe, ehe der Aufstand brutal niedergeschlagen wurde und viele von ihnen an den Bäumen baumelten.
Heinrich hatte seine Herrschaft als «leutseliger» Fürst begonnen. Er bestieg im Lichtschein der Verehrung den Thron, und doch lauerten in seinem Innern tief sitzende Unsicherheiten. Vierzehn Tage vor seiner Krönung heiratete er schnell entschlossen Katharina und hörte eine Zeit lang auf sie, doch dann, als er ihrer überdrüssig geworden war, lenkte er seine Zuneigung woanders hin. Als er sich in Anne verliebte und sie heiratete, war die Leidenschaft echt. In den friedvollen Tagen der sechsjährigen Brautwerbung, als ihn allein schon ihre Gegenwart an seiner Seite berauschte, mag er geglaubt haben, er könne seine Verantwortung der Herrschaft mit ihr teilen, doch das war eine Illusion. Würde ein Mann, der seine Gesandten und Diplomaten mit bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Anweisungen aussandte, der schon im Voraus ihre Antworten auf eine Vielzahl hypothetischer Fragen formulierte, wirklich einen beträchtlichen Anteil seiner Autorität an die eigene Ehefrau abgeben?
Von einer vernarrten Mutter allzu sehr verhätschelt und von einem autokratischen Vater allzu sehr behütet, wuchs Heinrich zu einem Narzissten heran, der die Ausübung der Kontrolle als sein Geburtsrecht ansah, zu einem Mann, der niemals die eigene Schuld für seine Handlungen akzeptierte und stets nach Sündenböcken Ausschau hielt. Der Gehorsamsfanatiker Heinrich, der weder Reue noch Schuldgefühle kannte, reagierte auf jede Herausforderung seiner Autorität mit einem Wutausbruch. Seine Ängste und Unsicherheit waren so gut verborgen, dass Heinrich nicht einmal deren Existenz einräumte. Indem er zunächst die einflussreicheren Kritiker Annes, allen voran Thomas More und John Fisher, unterminierte und dann vernichtete und am Ende über Anne und ihren Bruder triumphierte, verwandelte sich Heinrich schrittweise vom hochbegabten Teenager, der er einst gewesen war, in die grüblerische, ehrfurchtgebietende Person, die Holbein verewigte. Ungesunde Ernährung, übermäßiges Trinken und ein Mangel an Bewegung nach seinem beinahe tödlichen Unfall beim Tjost im Jahr 1536 machten die Sache nur noch schlimmer. Laut den Maßen, die für eine neue Rüstung genommen wurden, war sein Brustumfang auf knapp 1,45 Meter und die Taille auf 1,37 Meter aufgebläht: Er wurde zu dem einzigen König von England, den man auf Anhieb an seiner Figur erkannte.[36]
Seine Ehe mit Anne hinterließ bei ihm unauslöschliche psychische Spuren. Wenn seine von Frauen dominierte Kindheit in ihm eine stärkere Neigung aufkommen ließ, dem Rat von Frauen zu trauen, als es für einen Herrscher des 16. Jahrhunderts üblich war, so machte die Verstoßung Annes diese Tendenz zunichte. Nie wieder, sagte er sich, werde er diesen Fehler begehen. In seinem Trachten nach dynastischer Sicherheit war er unablässig auf der Hut vor Intrigen und Verschwörungen. Indem er jeden Einzelnen in seinem Umfeld einschüchterte und tyrannisierte, bis er seinen Willen bekam, wurde er unendlich misstrauisch. Sein großes Ziel war unverändert. Statt England nach dem Bruch mit Rom von Europa loszulösen, hatte er die Absicht, es in einem weit größeren Ausmaß als zuvor mit dem Kontinent wieder zu verbinden, indem er den Papst und die Herrscher der Christenheit unter seiner prophetischen Vision zur Ordnung rief. Bei alledem fühlte er sich nie völlig sicher. Seine Annäherung an Karl stieß schon bald auf mehrere Hindernisse. Heinrich und Franz brauchten sich immer noch gegenseitig, zankten sich jedoch endlos wegen Grenzstreitigkeiten um Calais und wegen des französischen Einflusses in Schottland, bis es zum Krieg kam und Heinrich unter enormen Kosten Boulogne einnahm, nur um von Karl hintergangen zu werden.
Wyatt wagte es nicht, Annes Grabinschrift zu schreiben. Dennoch gelang es ihm, in nur wenigen Verszeilen eines der zwingendsten Urteile über ihre Katastrophe und über Heinrichs Herrschaft zu komponieren. Der während ihres ganzen Lebens präsente Wyatt, bisweilen im Vordergrund, häufiger im Schatten, aber stets beobachtend und zuhörend, vergaß niemals seine Begegnungen mit ihr. Lebendige Strophen in einem Poem, das er zur Zeit ihrer Haft im Jahr 1536 schrieb, loten die Tiefen seines Gefühls aus:
These bloody days have broken my heart.
My lust, my youth did them depart,
And blind desire of estate.
Who hastes to climb seeks to revert,
Of truth, circa Regna tonat.
The Bell Tower showed me such sight
That in my head sticks day and night.
There did I learn out of a grate,
For all favour, glory, or might,
That yet circa Regna tonat.[37] [*1]
Ob Wyatt Annes Hinrichtung nun wirklich von einem oberen Fenster des Glockenturms aus beobachtete oder dies nur in seiner Fantasie geschah, spielt keine Rolle. Indem er Heinrichs Hof als einen vergoldeten Käfig darstellt, als eine Welt der Angst und Ungewissheit, voller Falltüren und Schiebewände, in der tragische Ereignisse durch Getuschel forciert werden konnten, bewies er weit treffender als die Devonshire-Handschrift, wie Dichtung mit ihren subversiven Mitteln als ideales Medium fungieren kann, um auszudrücken, was in anderer Form niemals gesagt werden durfte.
Bei allen gegenteiligen Beteuerungen Heinrichs war die Stimmung am Hof in seinen letzten Jahren beinahe ebenso unruhig und klaustrophobisch wie während der Rosenkriege. John Husee antwortete auf den Vorwurf, dass er den Lisles keine Berichte mehr über die staatlichen Angelegenheiten schicken würde, mit folgender Erklärung: «Ich könnte mich dadurch selbst in Lebensgefahr bringen … denn es gibt Informanten hier, die dafür bestraft wurden, dass sie Nachrichten lasen und kopierten und danach überall verbreiteten; jawohl, einige von ihnen sitzen zur Stunde noch im Tower.»[38] Die öffentliche Ordnung wurde bewahrt, aber nur weil Heinrich den Großteil der konfiszierten Klosterländereien zu Schleuderpreisen an willige Käufer verscherbelte, um eine ganz neue Klasse Grundbesitzer zu schaffen, die ein Eigeninteresse an dem Erhalt des Status quo hatte. Spitzel schlichen durch das ganze Land, Geleitbriefe waren nötig, um ins Ausland zu reisen, und die Korrespondenz wurde abgefangen – niemand fühlte sich völlig sicher.
Mit den turbulenten Szenen ihres Liebeswerbens und ihrer Ehe haben Heinrich und Anne fast ein Jahrzehnt lang alle in Atem gehalten. Sie haben England für immer verändert. Aber es war nicht Anne, die Heinrich verändert hat. Er veränderte sich selbst.
*1 Diese blutigen Tage brachen mir das Herz./Meine Lust, meine Jugend ich verlor,/Und blinde Gier nach Stand./Wer eilig nach oben strebt, trachtet nach Umkehr,/Fürwahr, circa Regna tonat.//Der Glockenturm zeigte mir ein solches Bild,/Das Tag und Nacht mir aus dem Kopf nicht will./Dort erfuhr ich durch ein Gitter,/Bei aller Gunst, Ruhm oder Macht,/Dass doch circa Regna tonat.