Was die Prozesse gegen Anne und George angeht, wie auch die Prozesse gegen die vier Bürgerlichen in Westminster Hall, so liegen uns eindeutige Darstellungen der Anklagepunkte, der Namen der Richter, des Ablaufs der Verfahren, der Urteile des Gerichts und des Strafmaßes vor, aber kein wörtlicher Augenzeugenbericht über das, was genau von den Angeklagten oder dem attorney-general gesprochen wurde. Von Chapuys und anderen Quellen wissen wir, dass keine Zeugen aufgerufen wurden, aber es gibt keine amtliche Liste, welche, wie viele oder wie wenige Beweise vorgelegt wurden.[1]
Die Verwirrung ist auf das Schicksal aller vorbereitenden Zeugenaussagen und vorgerichtlichen Untersuchungen zurückzuführen, die einst existierten, aber inzwischen verschollen sind. In Fällen des Hochverrats wurden die Angeklagten von den Ratsmitgliedern des Königs wiederholten Befragungen unterzogen. Umfassende Fragenkataloge wurden vorbereitet, um die Befragung zu lenken, und wörtliche Transkripte, fast ausschließlich auf Papier, von den Antworten angefertigt. Solche Fragenkataloge und Zeugenaussagen sind für ähnliche Verfahren jener Zeit teilweise erhalten, etwa für den Prozess gegen den Duke of Buckingham im Jahr 1521, sowie für die Prozesse gegen More und Bischof Fisher, ferner in größerem Umfang für die Anklagen, die 1542 gegen Königin Katherine Howard vorgebracht wurden.[2]
Kein einziges dieser Dokumente kam jemals in die Bag of Secrets. Sie wurden in Bündeln neben größeren Mengen der bedeutenderen staatlichen Papiere, Korrespondenz und diplomatischen Dokumente aufbewahrt, die in Heinrichs Arbeitszimmer neben seiner «alten Schlafkammer» in seinem «geheimen Gemach» in Whitehall gestapelt waren. Mit Ausnahme der Entwendungen durch Sir Robert Cotton blieben die Papiere unangetastet, bis sie 1618 in den Übergang, der die östlichen und westlichen Teile des Palastes miteinander verband – im Volksmund das «Holbein Gate» –, gebracht wurden. Im Jahr 1619 entgingen die Akten knapp einem großen Brand, wurden allerdings im Bürgerkrieg weiter dezimiert. Viele hatte man bei Bränden «hastig und wahllos durcheinander in Decken geworfen», darüber hinaus richteten Feuchtigkeit und Ungeziefer unweigerlich Schaden an.
Erst im Jahr 1825 wurde ein ernsthafter Versuch unternommen, die Dokumente zu katalogisieren, zu konservieren und zu veröffentlichen, doch inzwischen waren viele bereits zerfallen.[3] Bis heute konnte nicht geklärt werden, wie es ein Inventar, das im Jahr 1544 von den wichtigsten Dokumenten erstellt worden war, geschafft hat zu überleben. William Paget wies damals William Honnyngs an, die Dokumente zu sortieren, wegzupacken und neu in Schränke, Kisten, Truhen und Vitrinen einzuordnen, und heute liegt das Inventar versteckt in einer obskuren Archivklasse selten ausgefertigter Dokumente in den National Archives in Kew.[4] Entstanden ist das Inventar zu der Zeit, als Paget Ralph Sadler ablöste, den Nachfolger Cromwells als königlicher Sekretär. Stets methodisch vorgehend, beauftragte Paget Honnyngs, einen Schreiber des Kronrats, auch gleich ein Inventar dieser Dokumente anzulegen, wenn er sie schon mal sortierte.
Aus dem bis jetzt von Biographen, die über Heinrich und Anne schrieben, nie genutzten Inventar geht hervor, dass sich unter den Papieren, die sich auf mutmaßliche Verräter oder deren Komplizen zwischen 1531 und 1544 bezogen, «eine kleine Kassette der Schriften von Mr Norris», «eine kleine Kassette der Schriften Lord Rochfords [d.h. George Boleyns]» und «eine Tasche der Briefe Lady Rochfords [d.h. Jane Parkers]» befanden. Parkers Briefe wurden eindeutig zur Zeit des Sturzes von Katherine Howard beschlagnahmt, wie ein benachbarten Eintrag in dem Inventar bezüglich «einer Tasche von Briefen [und] Geständnissen etc. betreffs der Angelegenheit der enteigneten Königin» belegt.[5] Die Beschlagnahmung der Schriften von Norris und George kann jedoch nur zur Zeit der Prozesse im Jahr 1536 erfolgt sein. Sie wurden von Cromwell nicht vernichtet, sonst hätten Paget und Honnyngs sie im Jahr 1544 nicht ablegen können, als Annes Nemesis bereits seit vier Jahren tot war. Tragischerweise wurden sie zu der Zeit, als man sie ablegte und neu einsortierte, nicht einzeln aufgezählt, sodass wir heute nicht sagen können, wie viele Quellen verschollen sind.