John Husee betonte in seinen Briefen an Lady Lisle nachdrücklich, dass Elizabeth Browne, die Countess of Worcester, die Hauptquelle für Cromwells Beweismaterial gegen die Boleyn-Geschwister gewesen sei. Am 24. Mai 1536 schrieb er: «Die ersten Ankläger [waren] die Lady Worcester und Nan Cobham, sowie eine weitere Jungfer. Aber Lady Worcester war, wie Gott weiß, der erste Grund.» Am 25. fuhr er fort: «Was die Ankläger der Königin angeht, so hat meine Lady Worcester die Ehre, die wichtigste zu sein.»[1]
Sir John Spelman gibt in seinen Anmerkungen zu den Prozessen gegen Anne und George an: «Und sämtliche Beweise zeugten von Unzucht und Wollust, sodass es im ganzen Reich keine solche Dirne gab. Man beachte, dass diese Angelegenheit von einer Frau namens Lady Wingfield aufgedeckt wurde, die eine Bedienstete der besagten Königin und von den gleichen Eigenarten war …«[2] Mit Lady Wingfield meint Spelman eindeutig nicht die Countess of Worcester, sondern Annes Freundin aus Kindertagen Bridget Wilshire (die Witwe von Sir Richard Wingfield und Sir Nicholas Harvey) – eine Aussage, die nicht unbedingt Husees Anmerkungen widerspricht. Es ist durchaus möglich, dass Wingfields posthume Zeugenaussage während der Prozesse vorgetragen wurde, die ursprünglichen Anklagepunkte sich jedoch auf die Befragungen von Browne und Nan Cobham vor dem Prozess stützten.
Dies ungeachtet behaupten mehrere Historiker, dass sich die Argumentation der Anklage beim schwersten Vorwurf, nämlich dem des verräterischen Inzests, möglicherweise auf die Aussage Jane Parkers stützte, was hieße, dass George von seiner Frau hintergangen worden wäre.[3] Dies zu glauben erfordert einen beträchtlichen Vertrauensvorschuss: Wriothesley, Spelman, Chapuys, Husee, de Carle, die unzuverlässige Spanish Chronicle, George Constantine und der sogenannte portugiesische Edelmann nennen allesamt Jane Parker nicht in diesem Zusammenhang, ungeachtet einiger robuster, aber irrtümlicher Behauptungen des Gegenteils.[4] Eine ähnliche Behauptung, dass Jane auf dem Schafott nach dem Sturz von Katherine Howard gestanden habe, sie habe George zu Unrecht angeklagt, stützt sich auf die schamlose Fälschung von Gregorio Leti, der auch Briefe fälschte, die angeblich von Anne stammten.[5]
Für eine Unterstellung, Jane habe ein Motiv gehabt, weil ihre Ehe kinderlos und unglücklich gewesen sei, verknüpft mit einer ähnlichen Behauptung, George habe einen unehelichen Sohn gehabt, gibt es keine Beweise, und sie ist auch nicht schlüssig.[6] Im Jahr 1593 schrieb ein gewisser George Boleyn, Dean of Lichfield, einen Brief an den Earl of Shrewsbury, in dem er Mary Scudamore, die Tochter von Sir John Shelton junior und Margaret Parker, als «meine gute Freundin und Cousine, die ich sehr lieb habe», bezeichnet.[7] Aber «Cousine» war im 16. Jahrhundert ein heikler Begriff, und dieser jüngere George hätte ein unehelicher Sohn eines beliebigen Mitglieds des Stamms der Boleyn sein können. In seinem Letzten Willen nennt der Dean of Lichfield Mary Boleyns Enkel George, den 2. Lord Hunsdon, als einen seiner Wohltäter, und einen weiteren Enkel, Sir William Knollys, als seinen Testamentsvollstrecker, «weil er mein Verwandter ist».[8] Einmal mehr ist der Verweis nicht eindeutig. Sir Thomas Boleyn hinterließ zwar bei seinem Tod im Jahr 1539 ein Testament, doch es ist nicht erhalten, und sein Inhalt ist lediglich aus einem nachfolgenden Kanzleifall teilweise bekannt.[9] Aber das, was sich als die testamentarische Regelung seiner Ländereien entpuppte, die auf dem Totenbett verfasst und später von Heinrich gebilligt wurde, macht Mary Boleyn zu seiner Haupterbin, ohne dass ein ehelicher oder unehelicher Sohn von George, erwähnt oder in irgendeiner Form berücksichtigt wäre.[10]
Andere jüngste Behauptungen, eine Anmerkung von Thomas Turner, die Jane als «ein besonderes Werkzeug beim Tod Königin Annes» darstellt, stamme aus dem Tagebuch von Anthony Anthony, sind falsch. Bei der Überprüfung in der Bodleian Library stellte sich heraus, dass der Quellenverweis, den Turner angibt, genau mit der 1649 gedruckten Ausgabe von Lord Herbert of Cherburys The Life and Reign of King Henry the Eighth übereinstimmt und nicht mit dem Tagebuch – eine Tatsache, die 2007 von Julia Fox ermittelt wurde.[11] Und wie Fox herausfand, war Herberts Quelle John Foxes Werk Acts and Monuments, nicht Anthony Anthony. Jane wurde in der Ausgabe von 1563 des Werks von Foxe nicht erwähnt, tauchte in der von 1576 jedoch als Randnotiz auf. «Manche berichten», heißt es dort ohne Quellenangabe, «dass diese Lady Rochford einen Brief gegen ihren Gatten und Königin Anne, ihre Schwägerin, fälschte, durch den sie beide ins Verderben gestürzt wurden.»[12]
George Wyatt, der Life of Anne Boleyn zwischen 1595 und 1605 schrieb, nannte Jane eine «böse Frau, Anklägerin ihres eigenen Gatten, sogar so sehr, dass sie nach dessen eigenem Blut trachtete».[13] Er führte nicht weiter aus, auf welche Quellen er sich stützte, behauptet jedoch an anderer Stelle, zu seinen Informanten zähle «eine Lady, die anfangs ihr [Anne] die Aufwartung machte … mit deren Haus und meinem dort damals verwandt war» und «eine Lady von edler Geburt, die zu jener Zeit lebte und mit den Personen, die der größte Teil hiervon betrifft, wohlbekannt war, von der ich selbst abstamme».[14]
Die erste von Wyatts Quellen könnte Anne Gaynesford gewesen sein, die Cousine seines Großvaters, die Anne Boleyn etwa ab 1528 diente und danach George Zouche heiratete. Hier muss allerdings der Vorbehalt geltend gemacht werden, dass ihre Informationen, wenn sie tatsächlich Wyatts Quelle war, bestenfalls über Hörensagen zu ihm gelangten, denn sie war bereits tot, bevor er geboren war. In seinem Letzten Willen von 1548 erwähnt Zouche Ellen, nicht Anne als «nunmehr» sein «wohlgeliebtes Weib». Weil George Wyatt nicht vor 1553 auf die Welt kam, konnte er Anne Gaynesford weder gekannt noch mit ihr gesprochen haben.[15]
Was die ominöse zweite Dame betrifft, könnte es sich um Margaret Lee handeln, Thomas Wyatts Schwester und die Mutter von Sir Henry Lee, dem Helden Königin Elisabeths I., dem Anne laut einer romantischen Fiktion kurz vor der Hinrichtung noch ein Beutelbuch zugesteckt haben soll. Die mit Anthony Lee of Quarrendon in Buckinghamshire verheiratete Margaret sollte Anfang der 1540er Jahre von Holbein gemalt werden. Aber auch si war um die Zeit, als George Wyatt geboren wurde, bereits tot – Lee hatte Ende 1548 erneut geheiratet –, folglich musste jede Information, die sie beisteuern konnte, in der Familie über zweite oder dritte Hand weitergegeben worden sein.[16]
Kaum hatte Wyatt seine Anklage ausgesprochen, da stellte er jedoch auch schon infrage, ob das, was Jane angeblich gesagt hatte, auch wahr sei. Womöglich habe sie es eher gesagt, «um [ihren Mann] los zu werden, als aus echten Beweisen gegen ihn«? Darauf erhärtet Wyatt seine Zweifel, indem er hinzufügt, dass «der junge Edelmann, der Lord Rochford», als das Urteil verkündet wurde, «nach der allgemeinen Meinung einer der kundigsten Männer jener Zeit … lediglich aufgrund einer Klausel verurteilt worden sei, die damals in Kraft war».[17] An dieser Stelle sollte auch nicht vergessen werden, dass George Cavendish, der in den 1550er Jahren schrieb, Jane lediglich wegen ihrer verräterischen Verbindung mit Katherine Howard anklagte, nicht wegen angeblicher Vorwürfe mit Blick auf Anne oder George.[18]
Durch die eine Generation später von Burnet propagierte Anspielung, die durch Foxes Randnotiz und Wyatts Mutmaßungen in die Welt gesetzt worden war, entstand ein fiktives Narrativ, nach dem Jane «eine gehässige Frau», «eine Frau ohne jegliche Tugend», zudem «eifersüchtig» auf ihren Gatten gewesen sei und «dem König viele Geschichten zutrug … um [ihn] zu überzeugen, dass zwischen der Königin und ihrem Bruder eine Vertrautheit bestand».[19] Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Jane unter den unerbittlichen Fragen Cromwells die indiskrete Äußerung Annes über Heinrichs Erektionsstörung wiederholt haben dürfte – die Grundlage für das Blatt, das man vor Gericht George überreichte. In späteren Wiedergaben wurde daraus «ein Brief», derselbe, den George Constantine und Foxe in verschiedener Form erwähnen. Und das genügte bereits, versteht sich.[20]