9. KAPITEL
MAGIE AUS DEM LABOR
Unter den beiden funkelnden jovianischen Monden eilten sie zurück zu der metallisch schimmernden Villa des Präsidenten. Sylvanus Quale und Eldred Kells beugten sich gerade über eine Karte, als Curt und die junge Frau das in weißes Licht getauchte Büro betraten.
»Was ... was ist geschehen?«, rief Quale, dem alle Farbe aus dem Gesicht wich, während er verblüfft die beiden zerzausten Gestalten musterte.
»Der Sternenkaiser hat versucht, uns aus dem Weg zu räumen, und beinahe hätte er es geschafft – das ist passiert«, sagte Captain Future mit rauer Stimme. Während er berichtete, was geschehen war, beobachtete er aufmerksam die Gesichter der Anwesenden.
»Wo sind Brewer und der junge Cannig?«, fragte er.
»Sie sind bereits fort – sie sind mit ihrem Düsengleiter nach Jungletown zurückgeflogen«, erwiderte Quale.
»Warum das?«, fragte Curt, dessen große Gestalt jetzt äußerst angespannt wirkte.
»Die Nachricht, die ich vorhin erhielt, stammte von Hauptmann Gurney, dem Marschall der Planetenpolizei von Jungletown«, erklärte Quale. »Er hat uns berichtet, dass die Seuche dort immer mehr außer Kontrolle gerät und dass die Unruhen unter den Jovianern zunehmen.«
Der Gouverneur hielt inne.
»Brewer meinte, es wäre besser, wenn Cannig und er zurückkehren, um sich zu vergewissern, dass in der Mine seiner Firma alles in Ordnung ist«, fuhr er fort. »Er bestand darauf, sofort aufzubrechen.«
»Das ist richtig«, bestätigte Eldred Kells, der blonde Vizegouverneur. »Ich habe versucht, sie zum Bleiben zu bewegen – ohne Erfolg.«
Curt dachte nach. Sowohl Brewer als auch Cannig konnten sich in das Notfallkrankenhaus geschlichen haben, um sie vor ihrem Abflug in die tödliche Falle zu locken.
»Kells wird ebenfalls unverzüglich nach Jungletown fliegen, um zu sehen, wie schlimm die Lage dort wirklich ist«, sagte Quale zu Curt.
»Ich komme mit«, sagte Joan Randall ohne zu zögern. »Wenn die Zahl der Opfer tatsächlich so stark angestiegen ist, dann brauchen sie im dortigen Krankenhaus meine Hilfe.«
Während sie sprach, warf die Geheimagentin Curt einen raschen Blick zu. Curt begriff, dass sie beabsichtigte, Brewer und Cannig möglichst im Auge zu behalten.
Kells zögerte.
»Jungletown ist eine gefährliche Stadt für eine junge Frau«, gab er zu bedenken. »Andererseits wird Ihre Hilfe dort dringend gebraucht. Kommen Sie, wir fliegen sofort los.«
Captain Future sagte kein Wort, während der Mann und das Mädchen das Büro verließen. Kurz darauf war das Aufheulen ihres Düsengleiters zu hören, mit dem sie von einem nahegelegenen Hangar aus starteten.
Curt wandte sich an den Gouverneur.
»Quale, wissen Sie als Gouverneur dieses Planeten vielleicht etwas über die Legenden von der mächtigen jovianischen Zivilisation, die es einst hier gegeben haben soll?«
Der Gouverneur sah ihn erstaunt an.
»Ja, natürlich kenne ich die abergläubischen Geschichten, die die Jovianer einander erzählen«, gab er zu. »Und die wenigen Archäologen, die sich die seltsamen Ruinen im Dschungel angeschaut haben, sind der Meinung, dass es tatsächlich die Überreste einer einstmals hochentwickelten Rasse sind. Aber warum fragen Sie das, Captain Future?«
»Ist jemals etwas über die wissenschaftlichen Errungenschaften dieser ausgestorbenen Spezies herausgefunden worden?«, wollte Curt wissen.
Quale wirkte ein wenig verblüfft. »Nein, warum? Einige Forscher haben zwar gehofft, etwas über die Geheimnisse dieser sagenumwobenen Spezies herauszufinden. Ein junger Archäologe, der vor ein paar Wochen hier war, war überzeugt, dass er Erfolg haben würde. Aber bis jetzt ist es niemandem gelungen.«
»Wie hieß der junge Archäologe?«, fragte Curt schnell.
»Sein Name war Kenneth Lester«, antwortete Quale. »Er erzählte mir, dass er sich mit den jovianischen Legenden beschäftigt hätte und kurz davor stünde, das Rätsel um die ausgestorbene Rasse zu lösen. Er ist von hier aus nach Jungletown weitergeflogen und dann nordwärts zu dem Dschungel am Feuermeer.«
Captain Futures Augen wurden schmal.
»Wo ist dieser Lester jetzt? Hatte er etwas Interessantes herausgefunden, als er zurückkehrte?«
Der Gouverneur schüttelte den Kopf.
»Lester ist nie zurückgekehrt. Niemand hat je wieder etwas von ihm gehört – obwohl er mir versprochen hatte, mich über seine Entdeckungen auf dem Laufenden zu halten. Mit dem Dschungel im Norden hatte er keinerlei Erfahrung; bestimmt ist er dort ums Leben gekommen.«
Captain schwieg für einen Moment und überlegte. Der Gouverneur musterte den großen, rothaarigen Mann aufmerksam.
»Das ist alles, was ich wissen wollte«, sagte Curt schließlich. »Um eines möchte ich Sie aber noch bitten. Wäre es möglich, mir einen Ihrer Patienten zu überlassen? Einen, der erst in jüngster Zeit erkrankt ist? Ich würde ihn gern zusammen mit Simon Wright näher untersuchen, um herauszufinden, ob wir ein Heilmittel finden können.«
*
Eine Viertelstunde später erreichte Captain Future in einem geliehenen Düsengleiter den Raumflughafen von Jovopolis, wo die Komet ihn bereits erwartete. Er hob einen bewusstlosen Erdenmenschen aus dem Fahrzeug und trug ihn zur Komet – das Atavismusopfer, das der Gouverneur ihm aus dem Krankenhaus mitzunehmen erlaubt hatte.
Im Inneren des kleinen Schiffs begrüßte ihn der Roboter Grag und brachte seine Erleichterung lautstark zum Ausdruck. Simons Linsenaugen richteten sich sofort auf das angespannte Gesicht des jungen Abenteurers.
»Ist es dir gelungen, den Sternenkaiser in die Falle zu locken, mein Junge?«, fragte das Gehirn rasch.
»Im Gegenteil, beinahe hätte er mich in die Falle gelockt, der verfluchte Teufel!«, rief Curt mürrisch. »Ist Otho noch nicht zurück?«
»Nein, er ist nicht hier gewesen«, erklärte Wright.
Curt stieß ein ungeduldiges Knurren aus.
»Ich wollte mich eigentlich direkt auf den Weg nach Jungletown machen. Jetzt müssen wir hier auf diesen verrückten Androiden warten, der wahrscheinlich mal wieder in Schwierigkeiten steckt.«
In knappen Worten berichtete er Simon Wright, was sich zugetragen hatte, und auch Grag hörte aufmerksam zu.
»Also, ich glaube«, schloss Curt, »dass der Sternenkaiser herausgefunden hat, wie man die Festigkeit von Materie für einen begrenzten Zeitraum aufheben kann, indem man die Frequenz der atomaren Vibration erhöht. Das liegt doch im Bereich des Möglichen, nicht wahr, Simon?«
»Rein theoretisch schon, auch wenn es bislang keinem mir bekannten Wissenschaftler gelungen ist«, schnarrte das Gehirn. »Allerdings ist keiner der vier von dir genannten Verdächtigen ein Wissenschaftler.«
»Ich weiß!«, erwiderte Curt. »Und aus diesem Grund glaube ich auch, dass der Sternenkaiser die wissenschaftlichen Errungenschaften der ausgestorbenen Spezies dieser Welt entdeckt hat. Das geheime Wissen um diese Frequenzerhöhung ist wahrscheinlich eine davon, und die Geheimwaffe, die den Atavismus hervorruft, eine weitere.«
»Und außerdem«, fuhr Curt fort, »vermute ich, dass Kenneth Lester, der vermisste Archäologe, etwas mit der ganzen Sache zu tun hat. Wenn man Quale glauben darf, so war dieser Lester davon überzeugt, den Geheimnissen der ausgestorbenen Rasse auf der Spur zu sein. Und dann ist er verschwunden.«
Grag hatte ihm aufmerksam zugehört und versucht, Curts Erklärung zu folgen. Jetzt stellte der gewaltige Roboter eine Frage.
»Wenn sich der Sternenkaiser jederzeit dematerialisieren kann, wann immer er will, wie sollen wir ihn dann fangen, Herr?«
»Wir können ihn nicht fangen, wenn er dematerialisiert ist – das ist ja das Teuflische daran«, sagte Captain Future zu dem Roboter. »Unsere einzige Chance besteht darin, ihn zu erwischen, wenn er sich gerade im normalen Zustand befindet.«
Er wandte sich an das Gehirn.
»Erst möchte ich herausfinden, ob Lucas Brewer etwas mit der Sache zu tun hat. Sobald Otho zurückkommt, fliegen wir nach Jungletown, und ich werde versuchen, so viel wie möglich über diesen fetten Schwindler zu erfahren. Während wir auf Otho warten«, fuhr er fort, »sollten wir uns den Atavismuspatienten genauer ansehen, den ich mitgebracht habe. Wir müssen so schnell wie möglich ein Heilmittel für die Seuche finden, sonst ist bald die ganze Kolonie ausgelöscht.«
Grag klappte in dem kompakten kleinen Laboratorium, welches das gesamte Mittschiff der Komet einnahm, einen in die Wand eingelassenen Metalltisch herunter. Der Roboter legte den betäubten Patienten auf den Tisch.
Captain Future befestigte eine merkwürdige Lampe über dem Bewusstlosen. Es handelte sich um eine lange, zylindrische Glasröhre, die feinjustierte Röntgenstrahlen abgab und je nach Bedarf Knochen, Blut oder Fleisch- und Nervengewebe fast unsichtbar machen konnte.
Curt stellte die Röntgenstrahlen so ein, dass die Haut, Schädelknochen und äußeren Gewebeschichten des Kopfes nicht sichtbar waren. Dann setzte er die Fluoreskopbrille auf, die zur Ausrüstung gehörte, und stülpte eine ähnliche Brille über Simons Augenlinsen.
Auf diese Weise konnten sie tief in den Kopf des Opfers blicken, gerade so, als wäre dieser halb durchsichtig.
»Ich glaube«, sagte Curt angespannt, »dass diese Atavismusseuche durch eine grundlegende Veränderung der Hormondrüsen ausgelöst wird. Wir wissen, dass schon eine leichte Fehlfunktion der Hypophyse eine Akromegalie, eine Vergrößerung der Körperendglieder hervorrufen kann, die zur Folge hat, dass beim Betroffenen sowohl körperliche als auch geistige Verrohung auftritt. Was, wenn die Hypophyse tatsächlich insgeheim die evolutionäre Entwicklung einer Spezies steuert?«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Simon, dessen Linsenaugen vor Erregung funkelten. »Du glaubst, dass Akrenvergrößerung, ein Symptom, das bisher als körperliche Erkrankung betrachtet wurde, in Wirklichkeit eine Art milder Atavismus ist?«
*
Curt nickte enthusiastisch. »Genau das, Simon. Wenn jemand einen Weg gefunden hat, die Hypophyse vollständig zu lähmen, dann hätte das keinen milden Atavismus zur Folge, sondern dem Patienten würde es von Tag zu Tag schlechter gehen und das Opfer würde sich täglich mehr in eine primitive Kreatur verwandeln.«
»Wir sollten einen Blick auf die Hypophyse werfen und deine Theorie überprüfen«, sagte Simon Wright.
Aufmerksam musterten sie die große Drüse, die durch ein dünnes Gewebefädchen mit der Schädelbasis des Patienten verbunden war.
»Sieh doch nur, die Drüse ist ganz dunkel verfärbt!«, rief Captain Future aus. »Das ist ungewöhnlich – die Hypophyse dieses Mannes ist einer Bestrahlung ausgesetzt worden, die sie entweder eingefroren oder gelähmt hat!«
Seine hochgewachsene Gestalt straffte sich, und in seinen grauen Augen funkelte es, als er die Fluoreskopbrille abnahm.
»Wir müssen die gelähmte Hypophyse dieses erkrankten Mannes dazu bringen, dass sie wieder arbeitet«, sagte er. »Glaubst du, dass wir eine Möglichkeit finden, ihn so zu bestrahlen, dass der Prozess umgekehrt werden kann?«
»Das bezweifle ich, mein Junge!«, brummte Simon Wright. »Ich denke, dass wir lieber versuchen sollten, eine chemische Rezeptur zu entwickeln, die direkt in den Blutkreislauf des Opfers injiziert werden und auf diesem Wege die Drüsen beeinflussen kann.«
»Dann erproben wir verschiedene Rezepturen an diesem Patienten ...«, begann Curt und hielt plötzlich inne.
Sein empfindliches Gehör hatte das leise Surren seines Taschentelevisors wahrgenommen. Er zog das kleine Gerät hervor und drückte auf die Ruftaste, um zu signalisieren, dass es empfangsbereit war.
»Hier spricht Otho!«, drang die leise Stimme des Androiden aus dem Lautsprecher. »Ich bin mit ein paar Jovianern in Richtung Norden unterwegs. Der Sternenkaiser wird in Kürze ...«
Plötzlich war das Flüstern nicht mehr zu hören. Curt wartete, und auf seinem gebräunten Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab.
Er durfte es nicht wagen, den Androiden zurückzurufen, da er nicht wusste, was vorgefallen war. Einige Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Nach einer Viertelstunde erklang Othos Stimme wieder aus dem Gerät, dieses Mal etwas lauter.
»Einer von den Jovianern hätte mich beinahe erwischt, aber ich habe es geschafft, ihn davon zu überzeugen, dass ich nur mit mir selbst gesprochen habe«, kicherte der Androide.
»Du verrückter Narr, sei bloß vorsichtig!«, sprach Captain Future wütend in das Mikrofon. »Willst du, dass sie dich umbringen? Was zum Teufel machst du da überhaupt?«
»Ich habe vor, bei diesen Jovianern zu bleiben, bis ich herausgefunden habe, wo der Sternenkaiser ihnen erscheint«, erwiderte Otho. »Er soll sich morgen Abend zeigen, an einem Ort, der ›Platz der Toten‹ genannt wird und sich in den Dschungeln im Norden befindet. Sobald ich herausgefunden habe, wo das genau ist, melde ich mich.«
»Wir fliegen mit der Komet nach Jungletown«, erklärte Curt dem Androiden rasch. »Wie starten gleich.«
»Bestelle Grag einen schönen Gruß von mir und sag ihm, es tut mir leid, dass er untätig im Schiff bleiben muss«, stichelte Otho und unterbrach die Verbindung.
Grag schüttelte wütend den Metallkopf.
»Ist es denn mein Fehler, dass ich hier herumsitzen muss?«, dröhnte er. »Ich wollte dich begleiten, aber du hast dich für ihn entschieden!«
Curt schob den massiven Roboter energisch Richtung Steuerzentrale.
»Los, grummel hier nicht herum, sondern starte lieber das Schiff, sonst kappe ich dir den Sprechapparat!«, warnte er Grag. »Wir fliegen nach Norden, Richtung Jungletown, und wir haben es eilig!«
»Was ist mit unserem Patienten – nehmen wir den auch mit?«, fragte der Roboter.
Curt nickte.
»Simon soll weiter nach einem Heilmittel suchen und die Rezepturen an diesem armen Kerl testen. Ich habe Wichtigeres zu tun.«
Als Captain Future sich wieder dem Gehirn zuwandte, funkelten seine grauen Augen erwartungsvoll.
»Also wird der Sternenkaiser morgen Abend dort oben im Norden im Dschungel erscheinen? Und Lucas Brewer hatte es heute sehr eilig, nach Jungletown zurückzufliegen. Die Spur führt zu Brewer, Simon!«