11. KAPITEL
GEHIRN UND ROBOTER
Grag war äußerst besorgt. Rastlos marschierte der gewaltige Roboter mit behäbigen Schritten im Inneren der Komet auf und ab. Alle paar Minuten ging er zur Luke und spähte hinaus.
Er war mit dem Schiff in den Dschungel bei Jungletown geflogen. Die Minengräberstadt lag im schwachen, rötlich gefärbten Licht der untergehenden Sonne. Während sich die Nacht über die Stadt senkte, wurden in den Straßen die Uranitbirnen entzündet, und das Stimmengewirr der Vergnügungssüchtigen erhob sich erneut.
»Unserem Herrn ist etwas zugestoßen«, dröhnte der Roboter, als er von der Tür zum Laboratorium im Mittschiff zurückkehrte. »Er hat gesagt, dass er bald wieder da sein würde. Das war gestern Abend. Ein ganzer Tag ist vergangen, und er ist nicht zurückgekehrt.«
Simon Wrights Augenlinsen richteten sich verärgert auf den Roboter.
»Hörst du endlich auf, dir Sorgen zu machen?«, sagte das Gehirn in herrischem Tonfall. »Curtis ist kein kleiner Junge mehr. Er kann auf sich selbst achtgeben, besser als jeder andere im System. Du scheinst zu glauben, dass du immer noch sein Vormund und Kindermädchen bist.«
Grag war um eine Antwort nicht verlegen. »Ich glaube, dass du dir genauso viele Sorgen machst wie ich.«
Aus dem Mikrofon des Gehirns kam ein Geräusch, dass sich wie ein heiseres Kichern anhörte.
»Da hast du recht, Grag. Wir machen uns alle drei Sorgen um ihn. Wir können die langen Jahre seiner Kindheit und Jugend auf dem Mond nicht vergessen, als wir die Einzigen waren, die ihn beschützt haben. Aber es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, wirklich nicht«, fuhr Simon fort. »Er ist sicher bald wieder hier. Und in der Zwischenzeit musst du mir dabei helfen, die neue Rezeptur herzustellen.«
»Es tut mir leid. Natürlich helfe ich dir«, sagte Grag schlicht.
Simon war damit beschäftigt, eine weitere chemische Formel auszuprobieren, von der er hoffte, dass sie die gelähmte Hypophyse des Atavismusopfers wiederbeleben und ihn auf diese Weise heilen würde. Er hatte bereits mehrere Rezepturen an dem Erdenmenschen getestet, der immer noch in einem tiefen Betäubungsschlaf lag, aber bisher keinen Erfolg gehabt.
Von dem Sockel aus, auf dem sein Chrombehälter ruhte, gab Simon Anweisungen, in welchem Mengenverhältnis und in welcher Reihenfolge die einzelnen Stoffe vermischt werden mussten. Grag folgte Simons Anleitung mit einer Genauigkeit, zu der nur ein Roboter imstande war. Er gab Stoffe hinzu, vermischte sie, wog und erhitzte sie gemäß Simons Befehlen.
Simon und Grag arbeiteten schon viele Jahre auf diese Weise zusammen. Otho war zu rastlos und ungeduldig, um Simon eine Hilfe zu sein. Grag mit seiner übermenschlichen Geduld und Präzision hingegen war der ideale Assistent.
Endlich war die Arbeit an der Rezeptur abgeschlossen. Draußen war es inzwischen dunkel. Simon wies den Roboter an, dem betäubten Erdenmenschen die rosafarbene Flüssigkeit zu injizieren.
Nach einigen Minuten bat er Grag, die Röntgenlampe einzuschalten, und beobachtete mehrere Minuten lang unbewegt das Schädelinnere.
»Es klappt!«, stellte er schließlich fest. »Grag, wir haben das Heilmittel gefunden!«
»Aber der Mann sieht immer noch genauso aus wie bisher«, widersprach der Roboter und musterte zweifelnd die betäubte Kreatur.
»Natürlich – er wird nicht innerhalb von Minuten wieder gesund«, blaffte Simon. »Aber jetzt, nachdem seine Hypophyse wieder arbeitet, werden sich Körper und Geist innerhalb weniger Tage entwickeln, und er wird wieder ein Mensch sein.«
Grag schritt zur Tür und blickte nach draußen. Das helle Lichtermeer und der Lärm Jungeltowns wetteiferten mit dem fernen Glanz des Feuermeers. Drei Monde zeigten sich am Himmel, und der vierte ging gerade auf. Doch bei allem Licht, das sie spendeten, konnte der besorgte Roboter keine Spur von der großen, rothaarigen Gestalt ausmachen, die er herbeisehnte.
»Der Herr ist immer noch nicht zurück«, bellte er dröhnend. »Und Otho genauso wenig. Irgend etwas ist geschehen.«
»Vielleicht hast du recht«, brummte Simon. »Es ist merkwürdig, dass Curtis so lange braucht, um zur Mine und wieder zurück zu fliegen.«
»Vielleicht ist er gar nicht dorthin gegangen?«, mutmaßte Grag. »Vielleicht ist er ganz woanders?«
Simon dachte nach.
»Wir sollten uns lieber vergewissern«, erklärte das Gehirn schließlich. »Curt ist in die Stadt gegangen, um Marschall Ezra Gurney ausfindig zu machen, also wird der Marschall wissen, wo er ist. Heb mich hoch, Grag«, fuhr das Gehirn fort. »Wir machen uns auf die Suche nach Gurney.«
Rasch nahm der Roboter den Griff des durchsichtigen Kastens, in dem Simon ruhte, in die Hand. Dann verließ er die Komet und lief mit gewaltigen Schritten über die vom Mond beschienenen Felder auf die glitzernde, lärmende Stadt zu.
In den Straßen konnten sie das Gewirr dunkler und heller Stimmen hören. Das dumpfe Pochen der jovianischen Membranofone schien in dieser Nacht noch lauter zu sein.
»Meide die Straßen«, befahl Simon dem Roboter, der ihn trug. »Bleib im Halbdunkel hinter den Gebäuden, bis wir Gurney gefunden haben.«
Grag gehorchte und marschierte hinter den Häuserreihen entlang. Jedes Mal, wenn sie eine Lücke zwischen den Häusern passierten, blieb er stehen, damit Simon in den hell erleuchteten Straßen nach dem Marschall Ausschau halten konnte.
Doch weder das Gehirn noch der Roboter konnten den alten Gesetzeshüter irgendwo entdecken. Während sie ihre Suche fortsetzten, kam ein betrunkener Erdenmensch von der Straße herüber in das Halbdunkel gestolpert, von wo aus Grag und Simon das bunte Treiben beobachteten. Als er den Roboter vor sich stehen sah, hielt er unvermittelt inne. Der Betrunkene legte den Kopf in den Nacken, und mit trübem Blick starrte er das ausdruckslose Metallgesicht und die leuchtenden fotoelektrischen Augen des riesigen Roboters ungläubig an.
»Geht weg«, lallte er mit schwerer Zunge. »Ich weiß, dass ihr nicht wirklich seid.«
»Soll ich ihn zum Schweigen bringen, Simon?«, fragte der Roboter mit seiner tiefen Stimme.
»Nein, das ist nur ein betrunkener Narr«, antwortete das Gehirn.
Als der Mann die Stimmen hörte, die von dem Roboter und aus dem durchsichtigen Kasten kamen, schrie er laut auf.
»Sie sind wirklich!«
Mit einem Schrei taumelte er zurück auf die Straße.
»Polizei!«, kreischte er. »Wo ist die Planetenpolizei?«
Daraufhin kam Ezra Gurney die Straße entlanggehastet, und der Betrunkene packte ihn am Arm.
»Da sind ... Ungeheuer ... da hinten!«, brabbelte er aufgeregt und deutete ins Halbdunkel.
Gurney wollte ihm gerade eine verächtliche Antwort geben, da hörte er Simon Wrights kratzige Stimme.
»Marschall Gurney! Hierher!«
Als er die metallische Stimme vernahm, fuhr Gurney erschrocken herum. Dann schob er den Betrunkenen in Richtung Straße und lief zurück ins Halbdunkel. Kaum sah er den riesigen Roboter mit Simons Kasten in der Hand dastehen, ließ er einen erstaunten Ausruf hören. Er kannte Captain Futures Gefährten gut.
»Simon Wright! Und Grag!«, rief er aus. »Ist etwas passiert?«
»Curtis ist nicht zurückgekehrt«, erklärte Simon. »Ist er gestern Abend zu Brewers Mine geflogen?«
»Zumindest hat er das gesagt«, erwiderte Gurney. »Und er ist noch nicht wieder zurück? Das ist kein gutes Zeichen.«
»Ist Brewer im Moment in der Stadt oder draußen bei der Mine?«, wollte Simon wissen.
»Das weiß ich nicht, aber es lässt sich schnell herausfinden«, erwiderte der Marschall. »Das Büro seiner Firma befindet sich nur eine Straße weiter, und wenn er in der Stadt ist, hält er sich dort auf.«
*
Im Halbdunkel gingen sie bis zur nächsten Straße, wobei sie den Schein der vier silberfarbenen Satelliten des Jupiter mieden.
Schließlich erreichten sie eine triste Gasse, die in nichts der Promenade mit den vergnügungssüchtigen Flaneuren glich und von schmalen Metallbüros gesäumt war. Gurney führte sie zur Tür eines Gebäudes, dessen Fenster erleuchtet waren.
Dicht gefolgt von dem gewaltigen Roboter, der das Gehirn mit den funkelnden Linsenaugen trug, betrat Gurney das Büro, und der Mann, der sich allein in dem Raum aufhielt, stieß einen erschrockenen Schrei aus.
»Gütiger Gott, was sind das für Kreaturen?«
Es war Mark Cannig. Die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf, während er Grag und Simon Wright anstarrte.
»Das sind Captain Futures Gefährten«, sagte Gurney scharf. »Ist Brewer hier?«
»Nein ... ich weiß nicht, wo er ist«, erwiderte Cannig sichtlich angespannt.
Simon entging nicht, wie nervös der junge Mann war. Dann bemerkte das Gehirn, dass in der Nähe der Wand etwas am Boden lag.
»Heb das auf, Grag«, sagte er und schaute zu dem Gegenstand hinüber.
Grag gehorchte und hielt das kleine Ding vor Simons Linsenaugen, damit dieser es genauer inspizieren konnte.
Es handelte sich um ein Dienstabzeichen, auf dem die Buchstaben ›P.P.‹ standen.
»Das ist das Abzeichen eines Geheimagenten der Planetenpolizei«, sagte Gurney scharf. »Und die Nummer darauf ist die von Joan Randall.«
Er drehte sich zu Cannig um.
»Wann war sie hier?«
Cannigs Nervosität nahm zu, und er wurde rot.
»Ich weiß nicht, ob sie hier war oder nicht. Ich bin selbst eben erst gekommen.«
»Rufen Sie im Krankenhaus an und fragen Sie nach, ob sie dort ist«, schlug Simon Wright vor.
Gurney ging zu dem Televisor, der auf dem Schreibtisch stand, und rief an. Als er sich wieder aufrichtete, war seine Miene ernst.
»Sie hat das Krankenhaus vor einer Stunde verlassen und ist nicht zurückgekehrt. Sie wissen auch nicht, warum.«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, wo sie sich aufhält!«, rief Cannig aus. »Und ich weiß auch nichts über dieses Abzeichen.«
»Mit anderen Worten, Sie wissen rein gar nichts«, sagte Ezra sarkastisch.
Plötzlich hörte man Schritte, und eine Gestalt kam in das Büro gestürmt. Es war ein grünhäutiger Jovianer, der sich mit erstaunlicher Schnelligkeit bewegte und dessen runde, dunkle Augen blitzten.
»Verschwinde von hier, Grünflosse«, befahl der Marschall dem Eindringling. »Wir haben zu tun.«
»Wohl kaum mehr als ich«, zischte der Jovianer mit einer Stimme, die ihnen wohlvertraut war. »Und ich habe Neuigkeiten.«
»Otho!«, rief Simon, der die Stimme des Androiden sofort erkannte. »Was hast du herausbekommen?«
»Ich weiß jetzt genau, wo der Sternenkaiser diesen verrückten Jovianern erscheinen wird – und zwar in einer Stunde!«, erklärte Otho. »Ich sollte ebenfalls dort sein, aber ich habe mich davongeschlichen, um Captain Future Bescheid zu geben.«
Seine Augen suchten das Zimmer ab. »Aber wo ist Captain Future?«
»Das wissen wir nicht!«, rief Simon Wright. »Es sieht allmählich so aus, als ob ihm etwas zugestoßen wäre – und Joan Randall ebenfalls!«