13. KAPITEL
DER PLATZ DER TOTEN
Bumm! Bumm! Durch den mondscheindurchfluteten Dschungel hallte ein schweres, rhythmisches Beben, das man eher spürte denn hörte.
Die Erdtrommeln der Flossenmänner, die in der Nacht pochten wie das dunkle Herz des ungezähmten Jupiter! Bumm! Bumm! Bumm!
Captain Future blickte angespannt durch das Dach aus Baumfarnwedeln über ihm. Kallisto, Ganymed, Europa und Io glitten aufeinander zu – vier leuchtend helle Monde, die kurz vor dem herrlichen Schauspiel einer Satellitenkonjunktion standen.
»Die Stunde, in der die vier Monde sich am nächsten sind, muss der festgesetzte Zeitpunkt sein«, murmelte Curt vor sich hin.
Kurz darauf spannte sich jeder Muskel in seinem Körper an, während er weiter den dämmrigen Pfad entlangeilte.
»Was ist das?«
Ein dumpfer, unverständlicher Gesang durchflutete wellenartig den Dschungel, wurde lauter und schwoll immer weiter an, bis er schließlich wieder erstarb.
Seit über einer Stunde folgte Curt den Jovianern nun durch die fremdartige Wildnis. Die grünhäutigen Eingeborenen bewegten sich mit großer Schnelligkeit vorwärts, als hätten sie Angst, zu spät zu der großen Versammlung zu kommen.
Zielsicher folgten sie schmalen Pfaden, die sich durch die Baumfarne schlängelten. Das zornige rote Gleißen des Feuermeers lag die ganze Zeit zu ihrer Rechten.
In dieser Nacht wirkte der Dschungel noch fremdartiger als sonst! Der strahlende Glanz der vier Monde durchdrang den Baumfarnwald und verwandelte ihn in eine phantastische Märchenwelt voller tiefer, dunkler Schatten und silberfarbener Sprenkel. Hoch über ihren Köpfen wölbte sich ein Dach aus zarten Farnwedeln, in dem vereinzelte Sporenschoten funkelten. Rechts und links ragten metallische Kupferbäume auf und schimmerten im Mondlicht. Schlangenlianen, die wie schwarze Reptilien von den Ästen herabhingen, schaukelten sanft im Wind.
Im dicht bewachsenen Unterholz zwischen den gewaltigen Farnbaumstämmen blühten die überirdisch lieblichen Schockblumen. Ihre verführerischen, wunderschönen Blüten konnten dem, der sie unvorsichtigerweise berührte, mithilfe der biochemischen »Batterie« im Inneren der Blütenkelche jederzeit einen schmerzhaften elektrischen Schlag versetzen. Im Halbdunkel wuchsen riesenhafte Nachtlilien, deren weiße Blütenblätter sich langsam öffneten und wieder schlossen. Immer wenn der Wind in das Farnwedeldach fuhr, lösten sich kleine Sporenwolken, die alles, was sie berührten, mit einem silbernen Film überzogen.
Curt konnte bunt schillernde Mondfledermäuse sehen, die lautlos über die Farnbaumwipfel dahinglitten, und bauchige Ballontiere schwebten ruhig an ihm vorbei. Unter seinen Füßen hörte er die merkwürdigen, scharrenden Geräusche eines ›Wühlers‹, der sich durch das Erdreich grub. Von den gefürchteten ›Kriechern‹ war nichts zu sehen und zu hören, und dafür war der hochgewachsene Rotschopf dankbar.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte er sich, als der Gesang und das Pulsieren der Erdtrommeln immer lauter wurden.
Während er weiterhastete, wuchs die Anspannung in Captain Future wie selten in seinem Leben. Er ahnte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er dem Sternenkaiser zum zweiten Mal gegenüberstand.
Doch wie würde diese Begegnung ausgehen? Würde es ihm gelingen, den Sternenkaiser in einem unbedachten Moment zu überwältigen, wenn er sich in seinem normalen Zustand befand, oder war das unmöglich?
»Fast da«, murmelte Curt. »Kein Grund zur Sorge, alter Junge ...«
Bumm! Bumm! Das dumpfe Pochen der Erdtrommeln war nun so nah, dass er die Vibrationen, die sie aussandten, deutlich unter seinen Füßen spüren konnte. Vorsichtig schlich er weiter.
Vor ihm lichtete sich der Dschungel. Einige Sekunden später blieb er stehen und verbarg sich hinter einem Schockblumenstrauch.
Captain Future bot sich eine fremdartig anmutende Szenerie – eine riesige, runde Lichtung, auf der nur vereinzelte Baumfarne, Gebüsch und Lianen wuchsen.
*
Auf dieser Lichtung standen, in das herrliche, silberfarbene Licht von vier Monden getaucht, die zerbröckelnden Ruinen einer einstmals herrlichen Stadt.
Eine Stadt aus der unerforschten Vergangenheit des Jupiter, eine geheimnisvolle Metropole, die vor unendlich langer Zeit verfallen und vom Dschungel verschluckt worden war! Gigantische Ruinen aus schwarzem Mauerwerk, die sich zu grotesken Gebilden auftürmten, ragten still zwischen Sträuchern und wuchernden Lianen auf.
Curt konnte sehen, dass diese Stadt gepflasterte Straßen und Vorhöfe besessen hatte, doch das alles war jetzt von Schimmelpilzen bedeckt. Auch Säulengänge hatten hier gestanden, doch nichts war von ihnen geblieben als ein paar geborstene, vereinzelt dastehende schwarze Steinsäulen.
»Der ›Platz der Toten‹«, flüsterte er. »Der Name ist gut gewählt.«
Captain Future hatte schon zahlreiche verfallene Städte auf vielen Planeten gesehen. Er hatte die atemberaubende verlorene Stadt auf dem Saturnmond Tethys besucht, eine Stadt, deren Geschichte in tiefster Dunkelheit lag. Und er kannte jene mysteriösen Überreste vergangener Zivilisationen, die man überall verstreut in den weitläufigen Wüsten des Mars finden konnte.
Dennoch beschlich ihn das Gefühl, noch nie einen Ort gesehen zu haben, der so düster und so trostlos wirkte wie diese zerfallene und vergessene Metropole, die sinnend unter dem funkelnden Licht der Jupitermonde lag. Der Geist einer Ehrfurcht gebietenden Vergangenheit schien mit eisigen Fingern nach seinem Herzen zu greifen.
Fast im Zentrum der Ruinenstadt erspähte Captain Future einen weitläufigen, kreisrunden Platz, auf dem sich Tausende von Jovianern zu einer dicht gedrängten Menge versammelt hatten. Fast alle trugen Strahlenpistolen bei sich. Ihre Gesichter waren einem niedrigen, halb zerstörten schwarzen Gebäude zugewandt, das die Menge zumindest teilweise Curts aufmerksamem Blick entzog. Von diesem Ort ging auch das dumpfe, polternde Pochen der Erdtrommeln aus.
»Ich muss näher heran«, murmelte Curt angespannt. »Was, wenn der Sternenkaiser bereits dort ist ...«
Wie ein Geist glitt er aus dem Dschungel hervor und schlich durch die weitläufigen Ruinen. Schattengleich stahl er sich zu dem niedrigen, halb zerstörten Steingebilde, das zwischen ihm und dem großen Platz lag, auf dem sich die Jovianer versammelt hatten.
Bedacht darauf, sich immer dicht hinter den Ruinen zu halten, stahl sich der hochgewachsene Abenteurer über die geborstenen Pflastersteine. Erst als er die tiefen Schatten des niedrigen Gebäudes erreichte, atmete er erleichtert auf. Von dem Platz auf der anderen Seite drang das dumpfe Pochen der Erdtrommeln und der unaufhörlich anschwellende Gesang Tausender jovianischer Bassstimmen herüber.
Bumm! Bumm! Bumm!, dröhnte das vibrierende Pochen und ließ den Boden unter seinen Füßen erbeben.
Aufgeladen mit einem inbrünstigen Fanatismus, in dem eine fremdartige, überwältigende Traurigkeit und Verzweiflung mitschwangen, steigerte sich der Gesang der Eingeborenen zur Raserei.
Curt beherrschte die jovianische Sprache gut, doch der Gesang bediente sich offenbar einer archaischen Form, die er nicht verstand.
*
Captain Future presste sich flach gegen die geborstenen Pflastersteine und kroch Zentimeter um Zentimeter vorwärts, bis er hinter der Ecke des zerfallenen Gebäudes hervor freien Blick auf den von Mondlicht beschienenen Platz hatte.
Direkt vor der Ruine, hinter der er kauerte, befanden sich zwei gewaltige Erdtrommeln. Sie bestanden aus tiefen Gruben, die die Jovianer in die schwarze Erde gegraben hatten, waren mehr als zehn Meter tief und wie Hohlkegel geformt, wobei sich die Kegelspitze an der Oberfläche befand.
Neben jeder Grube stand eine Gruppe von Jovianern und hielt einen schweren Farnbaumstamm mit geglättetem Ende fest, den sie zuerst ein wenig anhoben und dann herabfallen ließen, um durch die Erschütterung das pulsierende Beben zu erzeugen.
Zwischen den beiden Erdtrommelgruben entdeckte Captain Future einen großen, schwarzen Steinglobus, auf dem die Umrisse von Kontinenten und Meeren eingezeichnet waren. Er sah, dass silberne Sterne auf dem Globus verstreut waren, und vermutete, dass sie die Orte markierten, an denen die anderen Städte der ›Ahnen‹ gestanden hatten. Und noch etwas sah er auf der Kugel, und es ließ ihn zusammenzucken. Er schaute genauer hin.
»Wenn es wirklich das ist ...«, flüsterte er erregt, doch dann vergaß er seine Entdeckung, weil er ein Geräusch hörte.
Es war das entfernte, fast unhörbare Summen eines landenden Düsengleiters. Die Jovianer schienen es aufgrund des Dröhnens der Erdtrommeln und des Gesangs nicht gehört zu haben, aber Curts äußerst scharfes Gehör hatte es wahrgenommen.
Er zog seine Pistole und wartete. Nach ein paar Minuten, in denen die vier Monde am Himmel immer weiter aufeinander zuglitten und ein herrlich funkelndes Schauspiel boten, verstummte der Gesang der Jovianer, und die Farnstämme wurden aus den Gruben gehoben. Die Tausende von grünhäutigen Jovianern schienen in einem Zustand erregter Erwartung zu verharren.
»Die Stunde null ist gekommen«, dachte Curt. »Alle vier Monde überlagern einander!«