15. KAPITEL
VERHÄNGNIS EINES ERDENMENSCHEN
Angespannte Stille herrschte in dem kleinen Minenbüro in Jungletown, als Simon Wright, Grag und dem verkleideten Otho klar wurde, in welcher schwierigen Lage sie sich befanden.
Mark Cannig, der vor diesem unglaublichen Dreiergespann stand, war anzusehen, dass er Angst hatte. Das Gesicht des jungen Minenvorstehers war gerötet – offenbar wurde er von starken Gefühlen heimgesucht.
»Sie wissen, was Joan zugestoßen ist, Cannig«, drängte das Gehirn. »Sie reden jetzt besser, und zwar schnell.«
»Ich sage Ihnen doch, ich weiß nichts«, versicherte Cannig verzweifelt und mit heiserer Stimme.
»Wir können Sie auch auf andere Weise zum Sprechen bringen!«, zischte Otho, und seine Augen blitzten gefährlich. »Wo ist das Mädchen? Und wo ist Captain Future?«
Grag trat einen schwerfälligen Schritt auf den jungen Mann zu und hob drohend die riesigen Metallhände.
»Soll ich die Wahrheit aus ihm herausprügeln, Simon?«, fragte der gigantische Roboter dröhnend.
Mark Cannig wandte sich flehend an Ezra Gurney, der neben dem unmenschlichen Trio stand. »Marschall Gurney, Sie können nicht zulassen, dass sie mir etwas antun!«, krächzte der junge Mann.
Ezra Gurneys wettergegerbtes Gesicht war grimmig, seine blauen Augen glitzerten kalt.
»Ich bin hier ganz auf der Seite der Futuremen, Cannig«, sagte er kompromisslos. »Sie wissen, was mit Joan geschehen ist, und Sie werden jetzt mit der Sprache herausrücken.«
Cannig versuchte, mit einem Sprung die Tür zu erreichen. Doch bevor er dort war, hatte sich ihm Otho bereits blitzschnell in den Weg gestellt.
Der Androide schleifte ihn zurück ins Büro, obwohl Cannig sich heftig wehrte und um Hilfe schrie.
»Er ist in allen Punkten schuldig, sonst hätte er nicht versucht zu fliehen«, bemerkte Ezra Gurney.
»Was geht hier vor sich?«, fragte eine erschrockene Stimme von der Türschwelle her.
Im Türrahmen stand Sylvanus Quale und hinter ihm Eldred Kells, der Vizepräsident. In dem bleichen Gesicht des Gouverneurs spiegelte sich Verwunderung, als er die eigenartige Szene zwischen dem Gehirn, dem Roboter und dem Androiden sowie den beiden Menschen betrachtete.
Quale und Kells kamen herein, und sogleich suchte Cannig Hilfe beim Gouverneur.
»Captain Futures Kameraden wollen mich foltern!«, schrie er verzweifelt.
»Das wäre in der Tat keine schlechte Idee«, bemerkte Ezra Gurney.
Der Marschall berichtete dem Gouverneur, was geschehen war, und zeigte ihm die Plakette der Planetenpolizei, die sie auf dem Fußboden gefunden hatten.
»Captain Future und Joan werden beide vermisst?«, rief Quale und runzelte besorgt die Stirn. »Ich hatte schon befürchtet, dass in Jungletown einiges schiefläuft. Aus diesem Grund bin ich auch hergeflogen.«
»Glauben Sie, dass Cannig der Sternenkaiser sein könnte?«, fragte Eldred aufgeregt.
»Ich bin es nicht. Ich bin es nicht!«, heulte Cannig mit vor Angst verzerrtem Gesicht. Sein Geschrei war kaum zu verstehen.
»Wo ist Lucas Brewer?«, fragte ihn Quale, doch er erhielt keine Antwort.
»Brewer ist sicher draußen in der Mine, oder er verkriecht sich irgendwo in Jungletown«, antwortete Gurney an Cannigs Stelle. »Ich habe so eine Ahnung, dass das Pulverfass, auf dem wir sitzen, heute Nacht endgültig hochgehen wird.«
»Und in der Zwischenzeit verschwenden wir hier unsere Zeit!«, zischte Otho grimmig.
»Sie sagen uns jetzt besser schnell, was Sie wissen, Cannig«, wandte sich Simon an den Minenvorsteher. »Grag und Otho werden ein paar sehr unangenehme Dinge mit Ihnen anstellen, wenn Sie nicht endlich mit der Sprache herausrücken.«
*
Cannig schien mit seinen Nerven am Ende zu sein. Plötzlich begann er mit heiserer Stimme zu stammeln.
»Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß! Ich habe keine Ahnung, wo Captain Future ist, aber Joan wurde heute Abend vom Sternenkaiser hierhergebracht, weil sie uns beide zusammen gesehen hatte.«
»Dann haben Sie mit diesem Verbrecher gemeinsame Sache gemacht?«, raunzte Simon sofort.
Mark Cannig nickte wie benommen.
»Ja«, murmelte er. »Es hat wohl keinen Sinn, es noch länger zu leugnen.«
»Wer ist der Sternenkaiser, Cannig?«, fragte das Gehirn schnell.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Cannig mit erstickter Stimme. »Das habe ich nie erfahren.«
»Sagen Sie uns die Wahrheit!«, zischte Otho drohend.
»Aber das tue ich doch«, entgegnete der junge Mann. »Ich war nur eine Schachfigur im Spiel des Sternenkaisers, genau wie Orris und Skeel und noch ein paar andere. Der Sternenkaiser hat sich mir nie anders als in diesem schwarzen Anzug gezeigt, mit dem er seine Identität verbirgt. Und er ist mir immer nur im dematerialisierten Zustand erschienen. Er ist niemals ein Risiko eingegangen.«
Cannig schien nach Worten zu suchen; seine Augen waren glasig, seine Worte kaum verständlich.
»Er hat mir versprochen, dass er bald der oberste Machthaber auf dem Jupiter sein und dass er diese Macht mit mir teilen würde, wenn ich ihm helfe. Narr, der ich war, habe ich mit ihm gemeinsame Sache gemacht. Dann, als es mit dieser Atavismusseuche losging, wurde mir plötzlich klar, dass er sie ausgelöst hat. Er sagte, er verfüge über Macht, die den Errungenschaften menschlicher Wissenschaft weit überlegen sei, ein Beispiel dafür sei diese Atavismuswaffe. Er probierte sie nach dem Zufallsprinzip an Erdenmenschen aus, um die hier ansässigen Menschen zu demoralisieren und die abergläubischen Jovianer, mit deren Hilfe er die Macht über den gesamten Jupiter an sich reißen wollte, zu manipulieren. Die Erdenmenschen infizierte er mithilfe eines unsichtbaren Strahls. Die Opfer merkten zunächst nichts von dem, was er ihnen antat, und ein paar Tage später begannen sie, sich in schrecklichster Weise zu verändern.«
»Und Sie haben ihm dabei geholfen?«, rief Eldred Kells und musterte den jungen Mann voller Abscheu.
»Ich musste tun, was er sagte. Ich hatte große Angst vor ihm!«, schrie Cannig heiser. »Die Drohungen dieses schwarzen Teufels wurden immer schlimmer, besonders als ich ihn wegen des Grauens, das er verbreitete, zur Sprache stellte.«
»Hat er einen exakten Zeitpunkt genannt, an dem er den Befehl zum Angriff auf die menschlichen Städte geben wollte?«, verlangte Simon Wright zu erfahren.
Mark Cannig nickte benommen.
»Ja, er sagte, dass er ...«
Plötzlich verstummte Cannig, als würde es ihm nicht gelingen, weitere Worte zu bilden. Seine Augen wurden glasig und sein Blick seltsam unstet. Mit zitternder Hand fuhr er sich über das Gesicht.
»Er sagte, dass er ...«, stammelte er in dem Versuch weiterzusprechen.
Doch wieder gelang es ihm nicht, seine Gedanken in Worte zu fassen. Mit ausdruckslosem, leeren Blick starrte er von einem zum anderen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er mühsam. »Ich fühle mich ...«
»Vorsicht!«, brüllte Ezra Gurney gleich darauf.
*
Mark Cannigs gerötetes Gesicht hatte sich plötzlich zu einer animalischen Fratze verzerrt, er entblößte die Zähne zu einem bestialischen Grinsen, und in seinen Augen glitzerte es unheilvoll.
Dann knurrte er wie ein in die Enge getriebenes Tier und schien urplötzlich über übermenschliche Kraft zu verfügen, denn er entwand sich blitzschnell Othos eisernem Griff und sprang Sylvanus Quale an die Kehle.
»Grag, schnapp ihn dir!«, rief Simon Wright.
Der Roboter packte den rasenden Cannig und riss ihn zurück. Der infizierte Mann, dem mittlerweile der Schaum vor dem Mund stand, wehrte sich wie besessen, bis Grag ihn mit seiner Metallfaust bewusstlos schlug.
Cannig sackte ohnmächtig zu Boden. Doch sogar in diesem Zustand waren die animalisch verzerrten Züge in seinem geröteten Gesicht noch deutlich zu erkennen.
»Gütiger Gott!«, murmelte Ezra Gurney. »Die Seuche hat auch ihn erwischt!«
Einen Moment lang herrschte betroffenes Schweigen. Und in die Stille ertönte ein Geräusch, das aus nördlicher Richtung zu ihnen drang – das anhaltende, dumpfe Pochen jovianischer Erdtrommeln.
Bumm! Bumm!, ertönte ihr rhythmisches Schlagen, jenes entfernte, bebende Pulsieren, dass man eher spüren als hören kann.
»Cannig hat gesagt, dass er am Ende immer mehr Angst vor dem Sternenkaiser hatte«, schnarrte Simon. »Dazu hatte er guten Grund. Sein Widerstand gegen die Atavismusseuche hat den schwarzen Teufel gegen ihn aufgebracht, und aus diesem Grund hat er ihn ebenfalls mit der Krankheit infiziert.«
»Cannig hat bis zu diesem Moment nicht gewusst, dass er die Seuche bereits in sich trägt!«, rief Ezra Gurney entsetzt.
»Aber Simon, was ist mit unserem Herrn?«, wandte sich Grag besorgt an das Gehirn.
Wie immer wurde er in erster Linie durch seine unerschütterliche Hingabe an Captain Future gelenkt.
»Wir werden Curtis finden!«, erklärte Simon. »Ezra hat gesagt, dass er Brewers Mine aufsuchen wollte, also fliegen wir zuerst dorthin.«
»Ich komme mit euch!«, rief Ezra Gurney sofort.
»Sie können Cannig ins Krankenhaus bringen«, sagte das Gehirn mit seiner präzisen, leicht kratzigen Stimme zu Quale und Kells, die die Futuremen wortlos anstarrten. »Und teilen Sie den Ärzten mit, dass ich ein Heilmittel gegen die Atavismusseuche gefunden habe, mit dem ich die Opfer nach meiner Rückkehr behandeln werde.«
»Ein Heilmittel?«, wiederholte Quale ungläubig.
»Kommt schon, worauf warten wir noch?«, unterbrach Otho sie. »Los, gehen wir!«
*
Die drei nichtmenschlichen Kameraden und Ezra Gurney hasteten hinaus in die Nacht. Durch dunkle Seitenstraßen eilten sie zum Rand des Dschungels, wo die Komet auf sie wartete.
Innerhalb kürzester Zeit lenkte Grag, der an der Steuerkonsole stand, das kleine, tränenförmige Raumschiff in Richtung Norden über den mondbeschienenen Dschungel hinweg. Während ihres Flugs entledigte sich Otho rasch seiner Tarnung.
Gurney erklärte ihnen, welchen Kurs sie einschlagen mussten. Nach kurzer Zeit kam eine kleine Ansammlung von Lichtpunkten in Sicht – bald würden sie die Mine erreicht haben. Schließlich landete die Komet neben dem hell erleuchteten Bürogebäude.
Als sie das Gebäude betraten, starrte ihnen ein halbes Dutzend an Stühle gefesselter Männer entgegen. Die Minenaufseher, die sich in ihr Schicksal ergeben hatten und inzwischen nur noch auf strafmildernde Umstände hofften, berichteten ihnen von Captain Futures Besuch und davon, dass die Eingeborenen mit Strahlengewehren bezahlt worden waren.
»Er hat den Jovianern Waffen gegeben!«, rief Ezra aufgebracht. »Der Himmel ist mein Zeuge – dafür wird Brewer den Rest seines Lebens im Gefängnis auf Cerberus verbringen.«
Er ging zum Televisor und rief das Hauptquartier der Planetenpolizei in Jungletown an.
»Schicken Sie einen Düsengleiter her, um ein paar Gefangene abzuholen. Ich werde Sie hier erwarten«, sagte der Marschall. »Und falls Sie unterwegs Lucas Brewer begegnen – nehmen Sie ihn auf der Stelle fest!«
»Wir können nicht bleiben«, erklärte Simon dem Marschall. »Curtis ist nicht hier. Das kann nur bedeuten, dass er sich auf den Weg zum Versammlungsort der Jovianer gemacht hat, um dort das Erscheinen des Sternenkaisers abzuwarten, das Otho uns angekündigt hat.«
»Die Lichtung liegt nicht weit entfernt in westlicher Richtung!«, rief Otho. »Es handelt sich um eine Ruinenstadt, die von den Jovianern als ›Platz der Toten‹ bezeichnet wird.«
»Dann los!«, dröhnte Grag unruhig.
»Geht ihr vor. Wir sehen uns wieder, sobald ich diese Männer nach Jungletown gebracht habe«, sagte Gurney. »Und wenn es in eurer Macht steht, dann rettet das Mädchen!«
Die Komet, die jetzt nur noch die drei Futuremen an Bord hatte, stürzte einer Sternschnuppe gleich durch die Nacht und raste westwärts über den mondbeschienenen Dschungel.
Das dumpfe Pulsieren der Erdtrommeln war kurzzeitig verstummt, doch diese Tatsache ließ die Drei nur noch ängstlicher werden.
»Dort ist es!«, rief Otho, dessen grüne Augen konzentriert den Dschungel unter ihnen absuchten. »Dort drüben, die große Lichtung ...«
»Da findet ein Kampf statt!«, dröhnte Grag plötzlich. »Seht doch!«
Inmitten einer Gruppe zuckender Schatten sah man in den vom Mondlicht erleuchteten Ruinen das unheilvolle Aufblitzen eines tödlichen Protonenstrahls.