Prolog

E s regnet und stürmt. Unfreundlich sei es da draußen, hat die Nachbarin gesagt, die schon mit ihrem Hund spazieren war, hat vom unfreundlichen Draußen gesprochen, als sei das Draußen ein mürrischer Mensch. Es ist November, die Zeit des fahlen Lichts, der Anfechtungen, der Trübnis und des pandemischen Hustens. Ich sitze an meinem kleinen Frühstückstisch und schaue matt aus dem Fenster in die Tristesse, lasse den Blick gleiten hinunter auf die Straße, auf der Menschen sich ducken unter ihren Schirmen, die sie klammernd halten, damit der Wind sie ihnen nicht entreißt. Sie schlagen die Krägen ihrer Mäntel hoch und hasten durch Pfützen auf dem Gehweg. Auf einmal aber sehe ich am Zaun des Spielplatzes auf der anderen Straßenseite einen – vom Regen glänzend schimmernden – länglichen Wunderteppich aus gelben, braunen, rötlichen und grünen Blättern. Kein Trugbild. Sondern schönste Wirklichkeit. Ein bunter, nass glitzernder, freundlicher Blätterstreifen. Ein zartes Glücksgefühl durchzieht mich, und ich mache mir zufrieden meinen Frühstückstoast.

 

Ich brauche Schönheit. Den Trost der Schönheit. Denn, wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten, an Wege, Räume, Purzelbäume. Schönheit kann Gefühle befreien, kann uns den Mut geben, Neues zu wagen, oder die Kraft, Unveränderbares zu ertragen. «Und was schön ist, bringt Freude», heißt es bei Euripides. Ganz so einfach ist es nicht. Denn Schönheit ist die kleine Glut, das kleine Entzücken, das große Gebrause, Schönheit ist aber auch der Stich ins Herz. Und immer wieder ist sie Zuflucht, die ich brauche – ein Blick, ein Stein, eine Rose, ein Wolkengarten. Die zärtliche Abendsonne im Nacken.

Ich brauche die kleinen Gesten – das Lächeln des Jungen, der mir die Tür aufhält, das fröhliche Winken der fremden Frau, die mich im Frühling mit einem riesigen Tulpenstrauß aus dem asiatischen Gemüseladen kommen sieht.

Der Trost der Schönheit ist auch Verteidigung der eigenen kleinen Wirklichkeit gegen die WeltWirklichkeit. Gegen die nächtlichen Angriffe auf meine Gefasstheit. Wenn Bilderfetzen, Gedankenfragmente, Phantasien, Wirbel, Entsetzen und Hast als Flimmergestöber im Kopf durcheinanderstürzen. Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes, Ängste, Hoffnungen, Nachrichten. Es wütet die Zusammenhanglosigkeit, und der Tinnitus schreit zufrieden ob des Getümmels. Auch Banalitäten blähen sich auf in der stillen Dunkelheit. Überflüssige Füllmasse für den strapazierten Kopf, der nicht mehr aufnehmen will, was er jeden Tag hört und liest und denkt, und es doch gewissenhaft speichert.

Wir leben in Zeiten extremer Herausforderungen – politisch, gesellschaftlich, ökologisch, ökonomisch, seelisch. Wir zerstören unsere Welt in atemberaubender Geschwindigkeit. Wachstum – dieses fragwürdige, längst umstrittene ökonomische Gebot – bedeutet Verbrauch, immer mehr Verbrauch. Dabei kaufen wir doch jetzt schon lauter unsinniges Zeug, das wir gar nicht brauchen. Was könnte ich ausmisten bei mir?

Es gebe seit 2020, schreibt der Sozialpsychologe und Klimawarner Harald Welzer in seinem Buch «Aufhören», mehr tote Masse als Biomasse auf der Erde, also mehr Hergestelltes als Lebendiges. Seither sehe ich eine Welt vor mir mit mehr Plastikenten als Radieschen, mehr Lautsprechern als Vögeln, mehr Stühlen als Bäumen. Wenn wir so weitermachen, gibt es irgendwann mehr Autos als Menschen. In den USA kommen schon jetzt 650 Autos auf 1000 Einwohner. Weltweit werden 3,1 Autos pro Sekunde produziert. Wieder wurde ein Vorgarten in der Nachbarschaft zugepflastert. Soll es ein Parkplatz werden?

 

Atmen, tief atmen. Einatmen, Ausatmen. Atmen.

 

«Wahrscheinlich alle Religionen lehren», schreibt Navid Kermani, «daß … sich bei jedem Atemzug die Weltseele – also das, was alle Geschöpfe miteinander verbindet – mit der einzelnen Seele vermischt.»

 

Atmen, tief atmen. Einatmen, Ausatmen. Atmen.

 

Und was tue ich in dieser Welt? Was verdränge ich, was übersehe ich, was nehme ich hin, wo mache ich mit? Denke ich streng genug? Handle ich genug? Was heißt genug? Wie geht es mir eigentlich?

Es sitzt die Angst in mir (immer drängeln sich dort Ängste), nicht mehr genug Zeit zu haben, alles einzufangen, damit ich es erzählen kann. Immer will ich mir alles erzählen. Als könnte ich mit dem Erzählten ruhiger leben als mit dem Unerzählten. Und natürlich hat das alles auch mit dem Altern zu tun. Mein Gesicht liegt in Falten. Mein Geschirr ist angeschlagen. Mein Küchentresen hat Flecken. Wir sind abgenutzt, gehen dahin, strapaziert und zerbrechlich.

Man könnte doch meinen, man würde abgebrühter im Alter, weil man schon so viel gesehen hat. Aber je älter ich werde, desto mehr nehme ich die Welt wahr, desto mehr bedrängt mich, was ich sehe, höre, lese, bedenke. Der Schutzschild zwischen dem Wahnsinn dort (welcher Sinn liegt eigentlich im Wahn?) und meinem Sein hier wird dünner. Die Scheuklappen fliegen davon im Sturm. Und das, was ich sehe, höre, lese, bedenke, bleibt nicht als kühles Wissen in mir, eingefroren und ungefühlt, es berührt mich, sticht mich, bedroht, durchzieht, bedrückt mich.

Ich brauche Trost. Ein Gefühl, das mich wärmt, behütet, mich sichert in mir. Weil mich angeht, was mich erschreckt. Wie wird sie sein die Welt, in der meine Enkel leben werden und alle anderen mit ihnen? Wie eigen-willig werden sie sein können. Werden sie sagen und singen dürfen, was sie sagen und singen wollen. Werden sie ihren Kindern zeigen können, dass aus Raupen Schmetterlinge werden.

Ich brauche Trost, weil mich die Welt beschwert, wie sie ist.

Mich ängstigt der Verlust des Konzepts von Gemeinwohl, die Herablassung der Habenden gegenüber den Habenichtsen, die Radikalisierung derjenigen, die Ungewissheit und Fragen nicht aushalten und Antworten wollen. Egal, welche, egal, wie falsch sie auch sein mögen. Hauptsache, es sind Antworten, die sie in die Welt schreien können. Es ängstigt mich die Verrohung von Sprache und Handlung. Es ängstigen mich die Waffensucht, die Menschenverachtung, die Terroristen, die Rassisten, die Sexisten und Misogynisten, die auf andere herabsehen müssen, um sich selbst stark zu fühlen.

Es ängstigen mich die staubigen Dürren, die alles verschlingenden Fluten, die sterbenden Bäume, die versiegelten Städte und wir, die wir – fast – so weitermachen wie bisher. Ich fürchte mich vor den leeren Phrasen, den zynischen Machtspielen und der gierigen Verantwortungslosigkeit. Dem «Weiter so» der Höhnischen und Rücksichtslosen, die die Erde ausbeuten, vergiften, zerstören.

Und es sind nicht nur sie , ich bin es auch. Auch ich hänge sicher noch irgendwo am Haken des strukturellen Rassismus, ruhe traulich in meiner bequemen kleinen Wirklichkeit, habe ein Auto und steige hin und wieder in ein Flugzeug. Viel zu hoch ist mein «Weltverbrauch», wie Harald Welzer es nennt. Ich lebe behaglich, gönne mir Refugien, bin Teil des allgemeinen GiermatzLebens.

«Spaziergang im Regen, Schwimmen im Bergsee in Tirol. Oper in München – alles herrlich, sanft und fast verwerflich schön. Alles wird gespeichert», so steht es in meinem Tagebuch, «um den Nachrichten aus der Welt standhalten zu können.»

Das sind Sätze einer Person, die mit Privilegien lebt. Aber darf ich nicht verzagen, weil es mir gut geht? Wie verhalte ich mich richtig. Was heißt richtig. Wie sicher ist mein innerer Kompass.

Wie unangemessen ist es, meinen Cappuccino unter dem Blätterdach hoher Bäume zu trinken, während in Afghanistan Menschen, die auch von unserer Regierung schmählich im Stich gelassen wurden, sich verstecken, bangen, darben, in ständiger Todesfurcht leben – was wir uns nicht einmal vorstellen können. Wie ist es, zu Hause zu sitzen und auf seinen Mörder zu warten? Da kann man nicht mal eben im Bergsee baden, um Kräfte zu sammeln.

Und doch: Wir können nur etwas ändern, wenn wir etwas tun. Und dafür brauchen wir Kraft. Es sei die Kraft der Hoffnung der Minderheiten, die die Welt verändere, hat eine der argentinischen «Madres de Plaza de Mayo» gesagt, der Mütter, die dort standen und protestierten, weil ihre Söhne und Töchter verschwunden waren, verschleppt von der Regierung.

Die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Silvia Bovenschen hat – mit ihrem untrüglichen Gespür für das Elend unserer Welt – geschrieben, dass sie sich vom Heute verabschiede, weil sie in ihm keine Poesie und schon gar keinen «Trost für das Leiden der Kreatur» zu sehen vermöge.

Man braucht Courage, um einen solchen Satz zu schreiben. Weil man neben den Fakten und dem Wissen das Fühlen zulässt, den Schmerz hineinlässt in die Zone der Empfindsamkeit. Wie gern und wie oft möchten wir uns schützen mit NichtWissen-, durch NichtErkennenWollen von gesellschaftlichen Entwicklungen. Wissen tut weh. Und das Erkennen erst recht, weil man dann das Wissen fühlt.

 

«Bloß nichts fühlen», hat mir vor vielen Jahren eine Frau gesagt, die ich gefragt hatte nach der Stimmung im Deutschland der NachNaziZeit. «Bloß nie mehr etwas fühlen.»

Sie kam aus der Generation, in der man ohnehin Gefühle verwerflich fand und sie fürchtete, weil sie so unkontrolliert durch den Äther dringen. Die Abwehr hatte Tradition in Deutschland. Schon Fontane lässt Effi Briests Mutter sagen: «Aber man lebt doch nicht bloß in der Welt, um schwach und zärtlich zu sein und alles mit Nachsicht zu behandeln, was gegen Gesetz und Gebot ist.»

Und ausgerechnet im Nationalsozialismus hatten sich viele emotional ausgetobt, sich verausgabt in ihrem Lustrausch für Hitler. Der exilierte Schriftsteller Hans Sahl hat diese Ausbrüche einmal den «kollektiven Orgasmus» der Deutschen genannt.

Jetzt also hatten sie sich leergefühlt und pflegten das angeblich ungefährliche Vakuum.

 

Bloß nichts fühlen.

 

Und wenn das Wort «fühlen» vorkam, dann in dem kernigen Spruch: «Wer nicht hören will, muss fühlen.» Fühlen hieß, körperlichen Schmerz zugefügt bekommen durch Züchtigung. Wer nicht gehorchte, kriegte einen «Bax mit dem Hammer», «mit dem Lineal was auf die Fingerspitzen», «mit dem Gürtel den Hintern versohlt».

Wer nicht hören will, muss fühlen.

 

Wenn Worte Türen zuschlagen können, können Worte sie auch wieder aufschieben. Ich werde meinen Kopf in den Wind halten und all die Worte, die in ihm sind, verwehen lassen. Damit es für eine Weile still wird in mir. Leer wie ein weißes Blatt ohne Buchstaben. Aber jedes Blatt will beschrieben werden. Es wartet. Manchmal halte ich einen Spiegel vor die Buchstaben, damit ich die Worte nicht lesen kann.

Und wenn man einen Spiegel vor die eigene Kindheit hält? Verzerrt sich das Bild? Erkennt man dann mehr? Vielleicht brauche ich Trost, weil ich zu oft ungetröstet durch meine Tage gehatscht bin. Denn wer Trost braucht, muss Schwäche zugeben. Und dort, wo ich herkomme, war man nicht schwach. Da wahrte man den Schein, mied das Sein.

 

Bloß nichts fühlen.

 

«Mein Kind», sagte der Vater, «reiß dich zusammen. Das Wichtigste im Leben ist die Disziplin.»

«Und die Gesundheit», lachte die Mutter, die immer fröhlich sein musste. «Und die Gesundheit», wiederholte sie, was ich unfreundlich fand, denn ich war krank – ein lahmendes, übergewichtiges, verzagtes Kind.

Dem Diktum des Bloß nichts fühlen zu entkommen, war ein langer Weg. Der vom Panzer über den Trotz – wie viel Kraftverschwendung! – zur Einsicht in die eigene Schwäche führte. Das ist Befreiung und Beschwernis zugleich. Denn wer Schwäche zugibt, wird zwar innerlich stärker, aber Schwäche zu spüren heißt auch, empfindlicher zu werden für den Mangel, die Schwächen in sich und um einen herum. Unter der Entbehrung zu leiden, wie Silvia Bovenschen es tat, als sie im Heute keinen Trost mehr fand für das Leiden der Kreatur.

Vermutlich leiden wir alle. Aber viele glauben nicht an die Versehrung in sich, verweigern der nackten Wahrheit den Zutritt, verpanzern ihr Gemüt. Und verpassen sich. Verändern sich nicht, werden nicht, wer sie sein könnten.

Ich bin verletzt und fürchte mich, bin beunruhigt und heiter, lebe gern. Alles auf einmal. Alles durcheinander. Suche Trost im Wort, im Bild, im Klang, im Wald. Will Wärme, Nähe, Schönheit, quecksilbrige Gefühle. Manchmal genügt ein Biss in die Krokantschokolade mit Meersalz. Meist braucht es mehr als den kleinen beglückenden Genuss. Trost dringt ein in tiefere Schichten, in den Raum der Stille in uns, in den wir hineinatmen, bis uns Flügel wachsen.

Der Trost der Schönheit ist vielleicht Eskapismus, ist aber ganz gewiss auch notwendiger Selbsterhalt. Darüber zu schreiben: ein Abenteuer. Als male man Sätze in den Sand, obgleich ein Sturm sich nähert und gleich alle Buchstaben verwehen wird. Man kann Schönheit nicht sehen, hören oder lesen, ohne Verheißung zu spüren und zugleich um ihre und die eigene Vergänglichkeit zu wissen. Erhabenheit, Ehrfurcht, Furcht – Schönheit kann uns in widerstreitende Gefühle katapultieren. Lebendige Schönheit ist nicht nur schön oder gar adrett im herkömmlichen Sinn. Sie provoziert, überwältigt und nimmt auch Unglück und Räudiges in sich auf.

Die Schauspielerin Angela Winkler, die neben ihrer enormen Bühnenpräsenz ein intensives Leben mit Kindern, Mann und Häusern in vielen Ländern hatte, schreibt in ihren autobiographischen Skizzen: «Für mich heißt Theaterspielen auch, die Kinderkacke wegzumachen, und ich möchte, dass das immer zu spüren ist: eine große Liebe und Verantwortung zum Kleinen, Hässlichen, Schrägen. Ich ziehe meine Kraft aus den Dissonanzen.»

Es dauert, bis man weiß, was einem guttut.

Es dauert, bis man weiß, was man braucht.

Dass man auch Schönheit braucht.

Bei mir jedenfalls hat es gedauert. Bis ich Schönheit nicht nur denken, sehen, hören, sondern auch erahnen konnte in ihrer existenziellen Dimension. Bis ich Trost fand in ihr. Den ich festhalte und gehen lasse. Denn wenn ich mich klammere an den Trost, verliert er Kraft.

Kürzlich schrieb eine Freundin: «Lass uns das Schöne genießen, wo es ist.» Wenn man das nur immer so genau wüsste. Wie oft wir es wohl gar nicht sehen, weil wir an den falschen Orten suchen. Es geht darum, Schönheit und Schönes im Alltag, in verborgenen Schlupflöchern aufzuspüren – im Schmerz, im Zitronenduft, im Atmen, in Krisen und Dissonanzen oder in dem im Regen schimmernden Blätterteppich am Spielplatzzaun.

 

Und auf einmal, mitten hinein ins Schreiben über Schönheit, Lebendigkeit, Kraft und Trost, greifen Putins Truppen die Ukraine an. Auf einmal ist Krieg. Krieg in Europa. Ein Eroberungskrieg einer Nuklearmacht. Es werden Bomben abgeworfen auf Menschen in ihrem Alltag. Auf Krankenhäuser und Kindergärten. Häuser stürzen brennend zusammen, Menschen fliehen, werden verletzt, sterben. Sie suchen Schutz in U-Bahn-Schächten, üben das Schießen, bauen Molotowcocktails, schweißen Barrikaden, um sich zu wehren in verzweifelter Wut. Vor Lebensmittelläden bilden sich lange Schlangen. Die Apotheken haben nicht genug Medikamente, die Krankenhäuser haben von nichts genug. Ein Krieg, dem keine Bedrohung für den Angreifer vorausgegangen war. Ein Krieg nebenan.

Noch ist er nebenan. Aber bei jedem Polizei- oder Feuerwehrauto, das auf der großen Straße heult, sehe ich die Bilder aus der Ukraine vor mir. In die Tage und Nächte, ins Denken und Fühlen sickert das Gift des Leids. Es ist Frühling. Überall berstende Knospen, kleine Blätter, lebendiges Grün. Und dann ein Bild vom Krieg: eine Straße mit schwarzverkohlten, toten Bäumen. Kein Blatt, keine Zuversicht. Kein Frühling.

Kann ich weiterschreiben über Trost und Schönheit, während es gleich neben einem Atomkraftwerk brennt. Wäre es besser zu schweigen? Oder brauche ich auch jetzt oder gerade jetzt Trost und Schönheit, weil ich seelenwund bin.

Ich suche meinen Weg, wie jeder ihn jetzt sucht für sich – mitten in der andauernden Pandemie, im nahen Krieg, angesichts drohender Hungersnöte, gefährdeter und zerstörter Energieversorgung, schmelzender Gletscher, aussterbender Arten. Wir kennen doch alle die Verzweiflung, die wie ein wütend hungriger Wolf unsere Gemüter zerfetzt. Und dann suchen wir Rettung. Obhut. Manche Menschen brauchen in Krisen blitzschnelle Antworten, haben Meinungen, die sie entschieden verkünden. Für mich sind Krisen Orte des Zweifels, des Fragens und Suchens, Momente der großen Unsicherheit.

Es dauert, bis ich begreife, dass ich auf Zerstörung nicht mit Selbstzerstörung antworten will. Denn Verzweiflung schwächt, neigt dazu, entmutigt aufzugeben, ist erschöpfte Einwilligung in das, was ist. Das können wir uns nicht leisten. Resignation ist Flucht. Und wenn man daran glaubt, wie ich es lerne zu glauben, dass die Welt ein Energiekosmos ist, der in Balance gehalten werden muss, um sich nicht gänzlich selbst zu vernichten, dann muss man gerade jetzt, angesichts von Zerstörung und Gewalt, von Hass und Mord, von Hunger und Angst, schöne Gegengifte brauen, muss Freundlichkeit und Stille ins All atmen, Zuwendung und Aufmerksamkeit und – wer kann – sogar Güte. Navid Kermani schreibt: «Schon wenn du einatmest, bist du verbunden mit der ganzen Welt. Jedes Mal, wenn du ausatmest, nimmt die Welt Anteil an dir.»

Auch und gerade jetzt gilt es, Schönheit zu suchen und zuzulassen in unserem Leben, obgleich wenige Kilometer entfernt alles zerstört wird, was lebendige Schönheit ausmacht. Es ist die Zeit, Schönheit zu gestalten, zu empfinden und zu teilen, um eine Balance herzustellen zwischen Erstarrung und Lebenskraft, zwischen der einen Wahrheit und der anderen, um zu helfen, die Welt ein bisschen zu heilen. Als kleiner Mensch in einer kleinen Nussschale, unterwegs auf dem rauen, großen Wirklichkeitsmeer.

«Nicht leicht», sagt ein Freund, «in diesen Zeiten über Trost und Schönheit zu schreiben.»

«Aber», antworte ich, «wer über Trost und Schönheit schreibt, schreibt immer auch über Angst und Schrecken.»

Der ukrainische Straßenkünstler Gamlet, so erzählt es Sonja Zekri in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung , malte ein Bild, auf dem man einen Menschen sieht mit einer Schutzweste und zwei Vögeln auf seinem rechten Arm.

«Behalte das Gleichgewicht» steht darüber.