A m Morgen meines 74. Geburtstags wollte ich nicht in den Tag. Ich zwinkerte ihm beim Aufwachen kraftlos zu und schloss gleich wieder die Augen. Lag wie ein ausgestopftes Schlaftier zwischen den Kissen, während ein Jemand oder ein Etwas in mir herumwisperte. Ich verstand kein Wort. Wollte auch nichts verstehen. Wollte die Sätze wie Schneeflocken rieseln und schmelzen lassen, bevor ich sie hätte begreifen können.
Das Aufwachen, wenn es wie ein schwarzer Käfer auf einen zukriecht, ist ja ohnehin ein heikler Vorgang. Weil ein noch in die Nacht geschmiegter Körper, ein noch traumverlorenes Gemüt vielleicht keine Helligkeit mag und schon gar keine Gedanken daran, was der helle Tag, in dem die Welt schon lauert, von einem will. Mal kann man aufwachen und sinnen, sich der schönen Sinnlichkeit wandernder Phantasien hingeben, mal muss man aus dem Bett springen, um Schattengespinsten zu entkommen, die einen einweben wollen in ihr dunkles Netz.
Das dösende Denken ist zudem fast immer gefährlicher als die wache Reflexion. Weil die Gedanken unkontrolliert aufblitzen und umherschießen, weil Bilder aufscheinen und im Moment sich schon wieder verflüchtigen, für die man keine Vorlage findet im Leben, die einen ratlos suchen lassen nach Sinn, Inhalt und Bedeutung.
Am Morgen meines 74. Geburtstags war der Schlaf so freundlich, mich noch eine Weile bei sich aufzunehmen und mir die Labsal der Bewusstlosigkeit zu schenken. Es gibt angesichts der WeltNot immer Gründe, nicht wach werden zu wollen. Aber jetzt hatte mich eine eigene, eine ganz persönliche Wirklichkeit eingeholt. Am Tag zuvor war mir klar geworden, dass ich nicht nur allein, sondern auch alt bin. Allein, seit dem Tod meines Mannes (des II ), der nach zehn mit Würde, Wut und Zärtlichkeit gelebten Krankheitsjahren gegangen war. Ich hatte lange gebraucht, um mein zerfleddertes Ich einzusammeln, mich als ein Wesen wiederzufinden, das einen eigenen Körper, einen eigenen Atem, ein eigenes Leben haben kann und hat. Eine Frau, die – was mir ganz undenkbar schien, als er noch lebte – nur für sich allein ihren Balkon wuchernd bepflanzt und glücklich in Baumkronen schaut; die gelernt hat, Schönheit zu wollen, ohne das Glück des Schönen teilen zu können, und stattdessen ihr Leben mit den Wolken bespricht. Und schreibt. Und darin Obhut findet und Halt. «You have a place to go to», sagt eine Freundin – und so ist es. Wenn ich schreibe, bin ich weniger allein.
Und alt bin ich – ja, seit wann eigentlich? Gesagt hatte ich es schon oft und scheinbar selbstverständlich. Ich sei eine alte Frau, erklärte ich, natürlich sei ich das und wisse es auch – allerdings musste ich dann immer zugeben, dass ich bei der alten Frau, von der ich sprach, nicht mich vor Augen hatte.
Das war jetzt anders. Die Kluft hatte sich geschlossen. Mir war am Nachmittag des Tages, an dem ich begriff, dass ich alt bin, eine blühende junge Frau auf der Straße begegnet, deren Gesicht so hemmungslos leuchtete, eine so blanke Freude ausstrahlte, eine so wonnevolle Frohlockung, dass ich verwirrt stehen blieb und ihr nachsah. Wann hatte ich mich das letzte Mal so vorbehaltlos, so leidenschaftlich gefreut?
Mein bissiges Ich vermutete einen Anruf des Liebsten, eine Erinnerung an die letzte Nacht. Ha, dachte ich, auch bald vorbei. Und ging weiter. Aber die Frage blieb, die Frage nach der unbedingten Freude, diesem scheinbar unendlichen Gefühl der Beglückung, das einen gleißend durchströmt. Aber wie sollte das gehen, woher sollte er kommen, der unbeschwerte Jubel nach beschwerten Jahren, ein leicht-sinniges Frohsein nach so viel Leben.
Zugegeben: Es war während der zweiten Corona-Welle im zweiten Quasi-Lockdown. Und ich war angestrengt davon, immer wieder neu abwägen zu müssen, was ich mache, was ich lasse, was ich wage, wo ich wegbleibe. War müde davon, den Weg zwischen Risiko und Räson immer wieder neu auszumessen. Fast jede Freude war mit einer kleinen Furcht verwoben. Hurra, die Enkel kommen. Hilfe, hoffentlich kommen sie ohne Corona. Wie herrlich, ich bin im Wald. Herrje, schon wieder ein japsender Jogger, der mir seine Aerosole in den Nacken schnaubt.
Aber es war nicht wirklich Corona, das mir die rückhaltlose Hingabe ans Freuen versagte, es ist das gelebte Leben, das mich immer wieder ermattet. Erfahrungen machen uns stark, heißt es – und es stimmt. Aber schwere Zeiten rauben uns auch aus. Marode Kindheiten, Krankheiten, abgewetzte Ehen; das Wissen, hier und da gescheitert zu sein, andere verletzt zu haben und selbst verletzt geblieben zu sein. So viel Schmerz, mit dem man im Alter eben auch lebt. Und wenn man – wie ich – zehn Jahre einem Kranken, der nicht sprechen, nicht gehen, nicht lesen und nicht schreiben konnte, jeden Tag Mut zugesprochen und mit der eigenen Lebensenergie seine zu sichern gesucht hat, bleibt man erschöpft zurück. Es fehlt immer wieder die Lustkraft für Neues, es fehlt die Unschuld, ein Reservoir der Ahnungslosigkeit. Es fehlt die davongeflogene Zeit.
Als ich einmal in irgendeinem Frühling an irgendeinem Morgen aus einem meiner Fenster sah, erschrak ich, weil die Blüten der großen Kastanie im Hof fast schon verblüht waren. Schon wieder war Zeit, war Schönheit vergangen, ohne dass ich ihr Vergehen wahrgenommen, ohne dass ich oft genug und genau genug und glücklich genug in die Kastanie geschaut hatte, während sie blühte.
Carpe diem , schrieb Horaz 23 v.Chr. in einer seiner Oden, um uns aufzufordern, den Tag zu pflücken, sich seiner zu erfreuen im so rasch dahin- und davonfließenden Leben. Einen ganzen Tag genießen zu wollen, das scheint mir seit langem zu nimmersatt, eine zu dreiste Erwartung. Und so ist für mich längst aus dem Tag der Moment geworden, das Carpe momentum . Den Moment wahrnehmen, wertschätzen, in ihm sein. Nicht vor einer Wiese mit Hunderten von blühenden Osterglocken stehen und an den zickigen Chef denken, nicht ins Kino gehen und von der Oper träumen, nicht mit Freunden beim Essen sitzen und sich sehnen nach Stille. Thich Nhat Hanh, der berühmte und von vielen verehrte vietnamesische Mönch hätte angesichts eines solch zerstreuten Aufmerksamkeitsgeflatters lächelnd ausgerufen: «You miss your appointment with life.»
Zeit ist zu kostbar, zu flüchtig, um sie zu verschwenden. Das schnellste Tier in der Luft, der Wanderfalke, fliegt mit einer Höchstgeschwindigkeit von 322 Stundenkilometern. Das Tempo der Lebenszeit kann man nicht messen, aber man kann es fühlen. Es rast. Ich habe das immer gewusst und erst spät begriffen. Habe unbedacht das Leben eingeatmet. Heute kann ich der vor mir fliehenden Zeit nicht immer gelassen zulächeln, sondern möchte sie lockend zurückrufen. Weil ich immer noch nicht alles gelebt habe, was ich leben wollte. Weil die Freunde krank werden und sterben und ich doch noch tanzen wollte mit ihnen, denken, lieben, streiten, sehen und erkennen. Gefühle wagen.
Ich muss lernen, endlich im Schneckengang zu leben. Ganz gemächlich, ganz behutsam. Mehr sehen, mehr entdecken, innehalten. Nicht nur das Imposante bewundern, sondern auch Stäubchen und Körnchen wahrnehmen, die Form und Struktur von Mandel oder Walnuss, die Schönheit der Orangenschale; auf die Welt des HöherSchnellerWeiter antworten mit bedächtiger Intensität.
Die langsamste Schnecke ist übrigens die Bananenschnecke, die in einer Stunde nur zehn Zentimeter zurücklegt, während unsere heimische Weinbergschnecke vergleichsweise rennt und sieben Meter in der Stunde schafft. Schon lese ich mich fest in dem Artikel über die langsamsten Tiere und weiß jetzt zum Beispiel, dass das Seepferdchen sich in einer Stunde nicht mehr als eineinhalb Meter fortbewegt.
Das ist es ja, die Neugier ist noch da. So viel könnte mich noch interessieren, so viel möchte ich noch lesen. Es gibt ein neues Buch über Schnecken, neue Bücher über Lärm, über Scham, über Verzicht (und die Notwendigkeit der Einsicht in dessen Notwendigkeit), über isländische Sagen, über Afrikaner in der europäischen Geschichte, über Identitätspolitik, über Schildkröten. Noch immer habe ich nicht in den schmalen Band zu Prousts Blumen geschaut oder in den über Hermann Hesses Bäume. Es gibt so viele Essays, Romane, Biographien, Traktate, die ich so gern lesen möchte und jetzt schon weiß, dass ich sie nie mehr lesen werde.
Der Schriftsteller Peter Kurzeck, der aufwuchs in einem kleinen hessischen Ort, hat einmal geschrieben oder erzählt, dass er als 12- oder 13-Jähriger nur die kleine Bibliothek seiner Schule gekannt und sich sehr gefürchtet habe, die Bücher dort bald alle gelesen zu haben. Was würde er dann tun? Alle noch einmal lesen? Eines Tages nimmt ihn ein Erwachsener mit in die Öffentliche Bibliothek der nächsten Stadt. Und der Junge glaubt sich im Paradies. Ein Raum nach dem anderen mit Reihen und Reihen voller Bücher. Selig staunt er und kann sein Glück nicht fassen, befreit zu sein von der tiefen Furcht, nicht genug zu lesen zu haben.
Da war er ein Kind. Sah die Fülle der Bücher, kannte kein Ende seiner Leselust. Ich sehe die Überfülle und die schwindende Zeit. Schlendere durch Buchhandlungen, vorbei an Büchertischen mit all den Verlockungen, und will sofort mit Lärm und Schnecke und Schildkröte aufs Sofa. Wo aber schon «Trost der Dinge» von Daniel Miller liegt – von dem die Rede noch sein wird – und viele andere, die mich beleidigt anschauen, weil ich sie noch nicht einmal aufgeschlagen habe.
Der fehlende LebensSaft und die drängende NeuGier – schon wieder zwei, die sich ständig widersprechen und lärmen wie aufgescheuchte Gänse, vor denen ich schon als Kind weggerannt bin, wenn sie mit langgestreckten Hälsen schnatternd auf mich zukamen. Diese Launenhaftigkeit der Empfindungen – die Neugier treibt mich fast täglich, und die Altersmüdigkeit lächelt möglichst geduldig. «Die Schönheit des Alters liegt in der Ruhe der Wünsche», steht in meinem Notizbuch. Aber ich habe in so späten Jahren erst angefangen, das Leben in seiner berstenden Fülle zu entdecken. Es gibt so viel zu sehen, zu hören, zu lernen, zu wissen, zu genießen, zu kochen, zu reden, zu singen, zu mögen, so viel zu fragen, zu wagen und zu vergessen – so viele Widersprüche zu bedenken, Elend auszuhalten, Schönheit zu suchen, Zärtlichkeit zu leben, so viele Menschen zu treffen, ihre Geschichten zu hören, ihre Gerichte zu essen. Es gibt so viel Meer, auf das man schauen kann, so viele Regentropfen, die an so vielen Fenstern herabrinnen und kleine Wassergemälde malen, so viele Schattenspiele der Sonnenstrahlen, so viele Vogelstimmen im Wald, so viel Musik in Konzertsälen oder digital, so viele Vorträge, auch auf YouTube, so viele Bilder in so vielen Museen – und, ach ja, so viele Bücher. Und so wenig Zeit.
Ich glaube, ich habe Angst vor dem Tod, habe ich letzte Nacht im Traum in einen leeren Raum hineingerufen und hinzugefügt, ich wisse auch nicht, warum.
Das steht dir auch nicht, tönte es aus der Leere zurück.
«Ich lebe von meinen Erinnerungen, nicht von irgendwelchen Erwartungen», hat mir einmal eine Frau gesagt, die etwa in meinem Alter war. Vielleicht muss ich mich abfinden, mich mäßigen. Nicht schon wieder zu viel wollen und die Enttäuschung aus dem Fluss der Gefühle fischen.
Im Alter dunkelt das Leben sich ein. Schnell noch ein bisschen Schönheit speichern, Farbe und Licht. Ich genieße die Septembersonne ja auch intensiver als die Julistrahlen, weil ich den kommenden Mangel schon ahne.
«Für uns», erklärte kürzlich meine Freundin S., «ist nun die Zeit des Werdens vorbei. Wir sind und vergehen.»
Ich widersprach. Sah und sehe das anders. Denn ist nicht auch das Vergehen ein Werden. Werden wir nicht bis zum Ende?
Im Moment werde ich, indem ich gemeinsam verblühe mit den Pflanzen auf meinem Balkon. Nur bin ich nicht eingepflanzt in die Erde und werde im Frühjahr nicht freudig neu knospen. Oder vielleicht doch noch mal ein kleines bisschen?
Ich habe ein Vorbild. Eine Freundin, die mir kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag erklärte, sie wolle jetzt singen. «Bevor ich abzwitschere», sagte sie und hob ihre greisen Arme so hoch in die Luft, wie die alten Gelenke es möglich machten, «muss ich noch weiter werden.» Energisch klopfte sie sich auf den Brustkorb. Sie werde jetzt Gesangsunterricht nehmen. Seither trällert und singt sie jeden Tag. Mit Lehrerin oder allein. Gerade übt sie Kantaten mit einer Sängerin auf YouTube. Sie liebt das Singen und strahlt, wenn sie darüber spricht. Es sei ihr Altersglück, sagt sie.
Was für eine kluge Vorbereitung auf das Sterben und den Tod. Das eigene Ich zu erweitern, frei zu werden, das Leben noch einmal freudig laut werden zu lassen, zu jubilieren, bevor man endgültig verstummt.
Und die Moral von der Geschicht? Lebenslust und Todesnähe nebeneinander einpflanzen, beide gießen, beide von Unkraut befreien, beiden zusehen, wenn sie blühen.
«Unsere Existenz ist, als würde man Blinde in einem Heuhaufen herumirren und nach einer Stecknadel suchen lassen», sagt der Kabarettist Josef Hader in einem Interview mit der Zeit . «Ich finde das eine Frechheit.»
Aber wenn wir nix zu suchen hätten, was täten wir dann? Wenn die Existenz keine Frechheit wäre, wo wäre die Herausforderung. Und wie kämen wir ohne Brüskierungen – seien es Liebeskummer, Krankheit oder Weltangst – je zu uns. Was wäre, wenn nichts uns aus unserem Gleichmaß katapultieren, nichts von uns verlangen würde, Sprünge in geheime Schichten in uns zu wagen.
Auf der Suche sind wir doch alle. Jede sucht was anderes. Und sucht immer sich und den anderen. Der eine nimmt Umwege über Wut und Macht, über Geld und Verrat, die andere über den Schein, um das Sein zu vermeiden. Verleugnet traurige Wirren. Wagt nicht zu staunen. Sieht weniger. Dabei werden wir doch vermutlich erst dann, wer wir sein könnten, wenn wir träumen und ächzen, verzagen und tosen, über Zäune klettern, auf Kirchturmspitzen fliegen, dem Mond buschige Augenbrauen ins bleiche Gesicht malen, meersalzige Tränen weinen und mit den Zikaden, seien es nun Wiesenschaum- oder Binsenschmuckzikaden, gemeinsam zirpen. Kommt nicht genau aus dem Begehren, Grenzen zu sprengen, die Sehnsucht nach Musik und Kunst, nach Filmen und Büchern, nach Wäldern und Flüssen, nach dem Denken und Staunen. Nach Schönheit. Die uns aufbricht, wenn wir sie empfinden, die Zärtlichkeit in uns weckt, vielleicht sogar den Mut zu lieben, die uns dankbar und still werden lässt.
Fast habe ich jetzt die junge Frau und ihr Strahlen aus den Augen verloren. Fehlt sie mir wirklich, diese bebende Fülle, diese Explosion der Freude?
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich sie noch einmal gespürt. Als ich in den Weihnachtsferien ins Mittelmeer stieg. Zitternd vor Kälte, Lust und Wollen habe ich nackt am Ufer gestanden und mich hineingeworfen ins Wasser. Laut schreiend vor Schreck und Vergnügen. Habe kurz auf dem Rücken liegend mit den Beinen gestrampelt – und bin schnell zurück an den Strand gelaufen. In die Sonne. Zum Handtuch. Es war glorios. Auch das Schreien. Das ist so befreiend für jemanden wie mich, die immer wieder sehr beherrscht unterhalb der Schwelle ihres eigenen Temperaments lebt.
Aber, und das ist die gute Nachricht, die mich beruhigt: ich brauche die gänzliche Vereinnahmung meiner Sinne nicht mehr so wie früher. Ich habe wunderbar glückliche Momente, frohe Stunden, zufriedene Tage – mit meinen Enkeln, mit Freunden, beim Lesen, im Wohnen. Immer wieder stellt sich ein kleines, überraschend lustvolles Behagen im Alltag ein. Gerade neulich wieder, als ich bei fünf Grad Celsius und Nieselregen im Januar mit einem Cappuccino und einem Croissant unter der Markise meines Cafés saß, war die kleine Vergnügtheit plötzlich da und grinste im Bauch.
Zufriedenheit ohne Überschwang tut erstaunlich gut. Die besonnene Erkenntnis des Alters liegt ja im Genuss und im Trost des kleinen oder bitte auch schrägen Erlebens. Es geht weniger um Ekstase als um die vielstimmige Tiefe der Ruhe, um das Erkennen, das Wahrnehmen von Schönem.
Das muss kein Alpenpanorama im Sonnenuntergang sein oder ein Vollmond, der ein Gleißen wie eine schimmernde Haut über das Meer legt, es genügt ein grauer Himmel, an dem dicke Wolkenfrauen mit mächtigen Brüsten und Hintern wandern und im nächsten Moment zu einem riesigen Mann werden, den ein kleiner Windstoß enthauptet – und nun fliegt sein Kopf hinter ihm her. Neben ihm tanzt eine Frau mit zarter Taille und zerbricht genau dort, wo sie am schlanksten ist, löst sich auf und ist wenig später – unverkennbar – eine Schildkröte. Die sehe ich ohnehin immer wieder in Steinen, gebleichten Holzstücken oder eben in Wolken, seit meine Enkelin mir gesagt hat, wäre ich ein Tier, wäre ich eine Schildkröte.
Manchmal habe ich aber doch noch eine unziemliche Lust aufs Panthersein. Will gierig in die Welt beißen. Und frage den Wind, wenn er vor meinem Fenster tobt, ob er mir nicht ein wenig von seiner brausenden Kraft dalassen könne, mit der er diese phantastischen Wolkenbilder malt.
Schönheit und Phantasie spielen gern miteinander. Treffen sich auf der Straße, an bunten Häuserwänden, in Unkrautgärten und mächtigen Baumwurzeln, tosen und rauschen am Meer, plätschern im Bach, ruhen in sattroten Ackerfurchen und wetteifern raublustig und siegesgewiss in grandiosen Sonnenuntergängen: wenn der Abendhimmel, wie blutgeschliert, in einem gewaltigen Farbenspiel explodiert, während auf dem Meer eine Feuersbrunst zu tanzen scheint.
Schönheit, so hat es Stendhal einmal formuliert, sei lediglich eine Verheißung von Glück – und vielleicht liegt darin eines der Geheimnisse der Schönheit: Glutmomente, in denen die Phantasie beseelt, Horizonte geweitet, Räume geöffnet werden für Abenteuer, Ahnungen oder Risiken – aber auch für Einhalt und Einsicht in ihre Flüchtigkeit.
Manchmal schleicht sich die Makellosigkeit heran, findet sich atemberaubend, lächelt erwartungsvoll und hat keine Chance. Zu glatt, zu langweilig, zu unwandelbar, befinden die Schönheit und die Phantasie und spielen alleine weiter.
Ich überlasse der jungen Frau inzwischen nicht ohne Nostalgie, aber doch fast neidlos ihren vibrierenden Taumel und habe an meinem Geburtstag erst einmal sehr gut gefrühstückt. Denn ja, auch das Schmecken gehört zum Erleben von Schönheit. Ein immer wieder unterschätzter Sinn. Das lateinische sapere , das wir gern übersetzen mit «wissen wollen» oder «Weisheit erlangen», heißt auch «schmecken». Der Homo sapiens ist daher auch der schmeckende Mensch. Selten ächze ich so glückselig wie beim Biss in eine perfekt in Knoblauch gebratene Garnele mit wenigen Tropfen Zitronensaft beträufelt; wie bei der ersten Gabel mit Pfifferlingen, in Butter in der Pfanne gebräunt und mit einem Schuss Sahne versehen, um den herben Geschmack zu besänftigen; oder beim Löffeln einer cremigen Schokomousse, bestreut mit geschälten und karamellisierten Mandeln.
Zum Frühstück an meinem Geburtstag gab es meinen Lieblingstee in der Tasse aus Hiddensee mit dem schönen Strandhaferbild, frische Brötchen, den leicht sämigen Kaltbach-Käse von Käsehändler Apo vom Markt und eine Marmelade aus grünen Tomaten, die eine Freundin mir geschenkt hatte. Auf dem Tisch standen, mitten an diesem FastWinterTag, lachsfarben leuchtende Rosen, vorsichtshalber am Tag zuvor von mir selbst gekauft – man weiß ja nie, ob jemand auf die Idee kommt, dem Geburtstagskind, na ja, der Geburtstagsalten, Blumen zu schicken.
Dann gab es Bescherung. Ich schenkte mir eine Jacke und ein Tuch. Und ja, ich habe mich gefreut. Auch an mir. Ich hatte mir zum Geburtstag gratuliert, mich selbst beschenkt, mich selbst umarmt, mich selbst mit einem ausführlichen Frühstück verwöhnt. Ich hatte es mir schön gemacht. Ich – mir. Ganz allein.
Was für ein abgeklärter Kraftakt der altersgemäßen Bescheidung. Die sich mal so herrlich weise anfühlt und dann wieder wie eine Mauer, gegen die ich mich so lange stemmen möchte, bis sie krachend kippt. Immer wieder spüre ich, mehr zu wollen, als mein Wille zuwege bringt – alle Widersprüche genüsslich zu leben. «Ich bin an sich bescheiden», habe ich kürzlich einem Freund erklärt, «aber ich will alles.» Er hat begütigend gelächelt.
Die Demut des Alters hat schon mehrfach an meine Tür geklopft, und wenn ich sie einlasse, was nicht immer so ist, dann willige ich gern ein in Grenzen, dann mag ich es ruhig im dunklen Gewebe der Bedächtigkeit. Es gibt Momente der Melancholie, in denen ich – des Bunten und der Lebendigkeit müde – mich ins Vergehende nisten möchte. Dann will ich nach dem Lostoben gleich Atem holen, eine Siesta halten, Druck abbauen, mir freundlich zulächeln und erklären, dass ich doch nicht immer noch wie ein witternder Jagdhund durch den Lebenswald hecheln könne, um den richtigen Weg zum Wild zu finden. Oder doch? Und welches Wild will ich denn stellen?
Ich kenne eine Frau, auch sie ist schon alt, die den Schritt von der Generalprobe zur Aufführung des eigenen Lebens immer wieder hinauszögert, sie probt und probt und traut sich nicht, damit aufzutreten. Phantasiert sich stattdessen hinein in eine ferne Premiere. Und hat doch auch nur noch wenig Zeit.
Ich möchte versuchen, das Jetzt mit offenen Sinnen zu leben. Möglichst couragiert hinzunehmen, was ist, und nicht mehr ständig dem nachzustellen, was sein könnte. Möchte das, was war, als gewesen erinnern.
Sie wartete, bis sich der Sturm in ihrem
Inneren legte. Als es so weit war, pflanzte sie
an den verwundeten Stellen Sonnenblumen.
Deborah Levy (geb. 1959)
Ich bin also alt, habe meine Sonnenblumen gepflanzt, und es geht mir immer wieder verblüffend gut – wenn ich den Wahnsinn der Welt an den Rand meiner Wahrnehmung rücke. Die Reise zu diesem Zustand war weit, trieb mich durch viele Nebelfelder und über geröllig rutschende Pfade. Aber es war und ist meine Reise. Von meiner Vergangenheit in meine Gegenwart. Von der Eisstarre der Herkunft in die Lebendigkeit des Alters. Und ich bin froh, verschrammt und ramponiert und immer wieder auf der Suche nach der inneren Ruhe, aber eben auch immer wieder zufrieden, dort angekommen zu sein, wo ich heute bin. Mal Schildkröte mit Pantherphantasien, mal Bananenschnecke mit Sehnsucht nach Abenteuern.
Sehnsucht ist wohl unermüdlich. Sie kann, zum Glück, nicht befriedet werden und gelangweilt herumlungern. Und daher wohnen Wirklichkeit und Sehnsucht ganz gut zusammen in der WG namens Leben. Noch wohne auch ich da. Eine Alte, die mit den Wolken am Himmel weite Wege geht, die sie auf Erden nicht mehr schafft. Ich werde nicht mehr alle Sterne am Himmel zählen können, aber ich kann in den Sternenhimmel schauen und um Seelenkraft bitten im fernen Blinken. Ich kann hoffen, dass die gepflanzten Sonnenblumen blühen werden.
Das Schöne am Alter: Wir verändern uns nicht nur mit den Falten, die sich eingraben, sondern auch mit den Fragen, die wir stellen. Wir verstecken uns weniger hinter Antworten. Das Alter ist eine Fahrt aufs offene Meer der radikalen Ehrlichkeit.
Alle suchen wir unsere Möglichkeiten, machen unsere Schritte, erkunden die Richtung.
Als Paula Modersohn-Becker meinte zu spüren, auf dem richtigen Weg zu ihrer eigenen Malerei zu sein, schrieb sie: «Dieses unentwegte Brausen dem Ziele zu, das ist das Schönste im Leben. Dem kommt nichts anderes gleich.»
In meiner Jugend war ich zu gefangen, um brausen zu können. War nicht strömender Fluss, eher eingemauerter Stausee. Aber jetzt möchte ich immer mehr dem Ziele zufließen, die zu werden, mit der ich möglichst froh und ehrlich, wach und freundlich, sehnsüchtig und zufrieden die grausame Süße der letzten Jahre teilen kann. Manchmal spüre ich Räume in mir, die noch immer verschlossen sind, verriegelt, unzugänglich. Und finde die Schlüssel, die Stemmeisen nicht, um sie zu öffnen, obgleich ich mit Sicherheit weiß: Öffnen muss ich sie. Dann suche ich nach Luken, durch die ich klettern, nach Leitern, die ich anstellen kann, nach Bildern, die mich aufsperren, nach Worten, die mich ermutigen, um nach vielen Wegen und Irrwegen, nach DazwischenWegen, vielleicht doch noch rechtzeitig am Ende des Lebens in einer lebendigen Klarheit ankommen zu können und die zu werden, die ich seit langem werden will: eine heitere Alte, die dem Kindheitsgebot des «Bloß nichts fühlen» ein gänzlich pathosfreies «Hach» entgegenschleudert und die Gelassenheit ins Jetzt einlädt.
Vielleicht, das ist wohl der heimliche Wunsch, könnte ich dann befreit sterben – oder gar erlöst – und dorthin gehen, «wo selbst die Toten die Nachtigall hören können», wie es in einem Gedicht von Inger Christensen heißt.
Angst vor dem Tod. Das steht mir hoffentlich wirklich nicht.
«Da ist keine Welt», hat eine Sterbende ihrer vertrauten Freundin erklärt, hat ihr fest die Hand gedrückt und in großer Klarheit ihre letzten Atemzüge getan.
Es gilt wohl, genau das zu lernen: sich als Reisende im Leben zu begreifen. Als flüchtige Wesen an dem Ort, den wir Welt nennen. Die vielleicht nur eine Illusion ist.
Eine Legende besagt, dass uns, wenn wir geboren werden, ein Engel mit leichter Hand über die Augen streicht, damit wir alles vergessen, was wir wussten, und der, wenn wir sterben, wiederkommt und uns alles Wissen zurückgibt.
Da ist keine Welt, wusste die Sterbende.