Mein lieber Freund, ich habe einige Jahre damit
zugebracht, Arten des Fühlens zu sammeln.
Es ist dies eine ganze Literatur, die ich geschaffen
und erlebt habe, die aufrichtig ist, weil sie
gefühlt ist. Unaufrichtig nenne ich Dinge, durch
die nicht, wenn auch nur wie ein Windhauch,
eine Ahnung von Ernst und Geheimnis des
Lebens hindurchgeht.
Fernando Pessoa (1888–1935)
D as Fühlen zu erkunden ist ein Wagnis und die vielleicht einzige Chance, die wir haben, die Welt zu erkennen und uns darin. Immer wieder haben wir Angst vor dem Ernst von Gefühlen, versuchen, was uns zu nahekommen möchte, als Pathos der Seelennot abzutun. Distanzieren uns vom angeblichen Gefühlsplunder. Sprengt aber nicht genau das, was uns im Innersten berührt, die verriegelte Tür zur inneren Freiheit? Die Buddhisten sprechen von nature of the mind , dem natürlichen Zustand, den wir wieder erreichen müssten, erreichen könnten in uns, in dem wir alles fänden, was wir bräuchten – an Liebe, Mitgefühl, Klugheit, Heiterkeit.
Vermutlich üben wir alle bis zum Ende, um zu werden, wer wir sein könnten, um uns zu holen, was wir brauchen, und zu haben, was die Welt von uns braucht. Durchqueren das eigene Ich auf dem Weg zur Lebendigkeit, wühlen uns durch so viele Schichten der Gepflogenheiten und des Widerstands, der Abwehr und der Rechtfertigung, des Biegens und Bückens und Brüllens nach dem Kern in uns, und hoffen, dort anzukommen, wo Neues blühen könnte.
Aber wo hat alles begonnen. Wer waren wir, als wir anfingen zu sein?
Dort, wo ich herkomme, lebte man das Gebot: Bloß nichts fühlen.
Das Kind, das dort sitzt auf einem Schemel in einer Arztpraxis, ist vielleicht acht Jahre alt. Dicht neben ihm auf einer Pritsche liegt die schöne Mutter. Gleich soll sie Lachgas bekommen, betäubt werden. Und fürchtet sich. Vielleicht muss ihr ein Zahn gezogen werden oder eine Krampfader. Das Kind soll ihr die Hand halten und will nicht. Will auf keinen Fall diese breiweiche Hand nehmen und sie tröstend umfassen. Als die Mutter nach ihm greift, wünscht es sich, ein Tintenfisch zu sein, der Gift sprüht, wenn er angegriffen wird – das hat sie gerade in der Schule gelernt. Die Mutterhand tastet nach der Kinderhand. Und schließlich gibt das Kind nach, wirft sich herzüber in die Eisgrotte der Unempfindlichkeit und überlässt der Mutter seine Hand.
Immer vereist das Kind, wenn die Mutter sich ihm nähert. Denn jede ihrer Liebkosungen fühlt sich an wie ein Angriff. Und ist es wohl auch. Weil die Mutter nicht zärtlich liebt, sondern Zärtlichkeit begehrt, weil sie nicht schenkt, sondern raubt, weil sie nicht geben kann, was sie selbst nie bekam. Weil sie verzweifelt braucht.
Vor einigen Jahren hat mir die Tochter eines Verehrers der Mutter ein Foto von ihr geschickt. Staunend sehe ich ein bezauberndes junges Mädchen, das neugierig und strahlend auf den Freund schaut. Ich kann die junge Frau nicht finden in der Mutter, die ich hatte. Die in jedem Hotelzimmer Fotos ihrer Kinder in Silberrahmen aufgestellt, Kulissen gebaut hat, in denen sie das Theater ihres Lebens spielte. Sie brauchte die Gewissheit, aufgehoben zu sein in ihrer Familie, brauchte den Schutz im Rudel. Ihrem Rudel.
Ich bin mit der Mutter verwandt. Auch ich kenne das unersättlich schlingende Loch in mir, das Zuneigung, Lob, Liebe, Nähe, Haut will – und es genügt nie. Auch ich hätte mich lange Jahre gern eingebettet in rettende Ganzheiten, als Schmarotzerpflanze, die ihre Nährstoffe ganz (Holoparasiten) oder teilweise (Hemiparasiten), so sagt es Wikipedia, aus Wirtsorganismen bezieht. Es hat viele Lebensjahre gebraucht und Kraft gekostet, meine eigene Wirtin zu werden.
«Erkenne dich selbst», heißt es auf dem Tempel des Apollon in Delphi. Ein Satz, in dem die Hoffnung atmet, dass, wer sich selbst aufrichtig sieht, in der Welt aufrichtiger handelt. Ein großes Dekret, denn es ist immer wieder ein Wagnis, wirklich wissen zu wollen, wer ich bin, was ich will, was ich brauche und warum, und welches Was mich braucht. Bin ich die Komponistin meines Lebens oder nur die Dirigentin?
Gestern Abend hat der Wind mir Geschichten erzählt und gesagt, er habe auch schon geweht, als ich ein Kind gewesen sei. Damals habe ich ihn nicht gehört.
Als ich mich in den Siebzigerjahren in New York viel mit Kunst beschäftigte – ich war Korrespondentin einer Kunstzeitschrift –, haben mich die gefrorenen Pinselstriche von Roy Lichtenstein seltsam berührt. Sie sind keine Momentaufnahmen in einer suchenden Bewegung, sondern wirken gefertigt, eher gedruckt als gemalt – und hatten mit mir zu tun. Ich haderte mit ihnen. Als sei auch ich so ein erstarrter Pinselstrich, dem die Lebendigkeit weggemalt worden sei.
Ob ihn nicht manchmal eine unbändige Lust packe, habe ich Lichtenstein damals gefragt, «mal einen pastosen, emotionalen Pinselstrich zu tun?»
Bloß nichts fühlen.
Einmal hatte ich als Kind Keuchhusten und durfte nicht in die Schule. Saß nun Tag um Tag an Treibbeeten in dem großen Garten, um Pflänzchen zu pikieren. Jeden zweiten Sämling musste ich ausgraben und mit genügend Abstand neu einpflanzen. Die Finger in die kühle feuchte Erde furchen, mit Vorsicht die kleinen, noch zarten Gewächse ausheben und neu einsetzen. Man musste behutsam hantieren mit ihnen. Sie durften nicht verletzt werden. Ich hielt die kleinen Wesen in der Hand, betrachtete und befühlte sie – bald würden sie blühen.
Damals muss ich etwas vom Leben und von mir geahnt haben. Denn es ist eine meiner sanftesten Kindheitserinnerungen. Als habe die Lebendigkeit der Pflanzen wie ein leiser Gesang meine Betonwände ein wenig zum Klingen gebracht. Vielleicht waren ja die Beete und Pflanzen das erste Gasthaus auf der langen und wachrüttelnden Reise. Ein Gefühl für die Natur. Worin ich mich immer noch und immer wieder gehalten fühle und Trost finde. Ein Bach, ein Waldboden, eine Blume, eine Kuh, ein Morgenblick aufs Meer, im Wind tanzende Wiesengräser.
Die Natur ist die Kunst Gottes.
Dante Alighieri (1265–1321)
Bloß nichts fühlen.
Anfang der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts sitzt ein junges Mädchen in einem tiefen roten Sessel den Eltern gegenüber, die erzählen vom Tod einer Freundin. Man munkelt, sie habe sich umgebracht. Die Eltern seufzen voller Unverständnis. Während das Mädchen altklug erklärt, die Tote habe es doch gut. «Sie hat es hinter sich.» Die 16-Jährige hadert gerade mit dem Dasein, sucht nach seinem Sinn, lebt das große Warum. Zum Schrecken des Vaters. Der die Erkundung eigener Gefühle «marode Kraftlosigkeit» nennt, «moderne Rückgratlosigkeit». «Mein Kind», pflegte er zu sagen, «was soll denn werden aus unserem Land, wenn ihr alle nur noch um euch selbst kreist und Nabelschau haltet.»
Ich habe (feige!) nicht gewagt zu fragen: Und was, bitte, ist mit euch aus unserem Land geworden?
Verweichlichung war das Furchtwort des Vaters. Wie entlarvend für eine Gesellschaft, die Zweifel für Schwäche und Härte für Stärke hält, die nicht zu wissen wagt – der Weg tut weh –, dass Fragen und Schmerz, einmal durchwandert, erst wirklich innerlich stark machen.
Immer sagt man, man brauche Halt im Dasein. Als sei das Leben eine Straßenbahn mit installierten Festhalteschlingen, nach denen man jederzeit greifen kann, um nicht durchgerüttelt zu werden.
Dort, wo ich herkomme, klammerte man sich an die Schlaufen, verleugnete das Gerüttel, eilte über Abgründe, Zweifel, Lebensrisse und Unglück hinweg. Auch Schreckliches wurde ins Vakuum torpediert, wohl in der Hoffnung, es möge sich auflösen dort.
Einmal saß ich, ich war noch ein Kind, auf der Rückbank im Auto einer Freundin der Eltern, als zwei alte Menschen auf die Straße liefen und erfasst wurden von unserem Wagen. Beide waren, so hat man es mir später erzählt, auf der Stelle tot. Ich höre noch den dumpfen Knall ihrer Körper. Habe ihn über die Jahrzehnte immer wieder gehört. Und erinnere mich, zitternd in einem Polizeibus gesessen zu haben, wo ich als Zeugin befragt wurde. Was ich gesehen hatte, was ich erzählt habe? Das Gedächtnis hat es ausgelöscht. Irgendjemand hat mich dann wohl nach Hause gebracht – wo ich ins Bett geschickt wurde und am nächsten Morgen in die Schule. Als sei nichts geschehen. Kein Wort, keine Frage, keine Liebkosung, kein Trost. Bedrohliches Schweigen, in dem ich umherirrte. Daran erinnere ich mich. Durchs seltsam erstarrte Haus gestrichen zu sein, in dem niemand zu wohnen schien außer mir. Diese unheimliche Leere, in der verschwand, was heimlich bleiben sollte. Diese unerbittliche Entmachtung der Wirklichkeit. Dieses Sein ohne das Bewusstsein einer gemeinsamen Anwesenheit. Haben wir zusammen zu Abend gegessen und über das Wetter geredet? Oder darüber, dass die Leberwurst doch für den Preis wirklich zu wenig Trüffel habe. Was geschehen war, war nicht geschehen. Alles ging weiter wie immer, ging seinen rigorosen Gang.
«Gefühle, von denen man nicht weiß, wie man umgehen soll mit ihnen», sagt eine Freundin, «gehen in eine kaputte Richtung.»
Gefühle sind wie Maulwürfe. Sie buddeln sich ein, graben unterirdische Gänge und schieben die ausgeschachtete Erde nach oben, wo Maulwurfshügel wie eruptive kleine Daseinsbekundungen sichtbar werden.
Der Vater hasste die erdigen Auswürfe auf seinem gepflegten Rasen. Und jeder, der eines der kleinen Tiere erwischte und mit der Schaufel erstach, bekam von ihm fünf Mark auf die Hand. Ich habe es nie versucht.
Wenn man so aufwuchs, wie ich es tat, dann wird man scheu, über Dinge zu reden, die einem erst spät im Leben begegnet sind. Aufrichtigkeit, Sprache, Schönheit, Bildung, Mitgefühl.
Bloß nichts fühlen. Die Empfindsamkeit einzementieren. Zement zählt innerhalb der Baustoffe zu den Bindemitteln. Er erhärtet durch die chemische Reaktion mit Wasser und bleibt danach fest, zum Beispiel als Beton.
Wo war eigentlich die Sehnsucht in all den Jahren? Wo hat sie gelebt? In welchen Herzkammern oder Körpernischen? Wo waren die Augen, die nach innen und nach außen blicken können?
In Aslı Erdoğans Erzählung «Der wundersame Mandarin» geht ein alter Mandarin zu einer Hure und döst nach genossener Lust zufrieden ein. Da holt die Frau ihre Diebesfreunde, die ihn ausrauben sollen. Er aber wehrt sich so heftig, dass sie anfangen, ihn mit Messern und Säbeln zu traktieren. Doch es tut sich keine Wunde auf. Er bleibt unversehrt. Schreckensbleich fliehen die Räuber. Die Hure allerdings möchte jetzt mit diesem wundersamen Mann noch einmal voller Liebe schlafen. Und beginnt, ihn zärtlich zu liebkosen. «Da brach bei jeder Berührung … am Leib des Mandarins eine neue Wunde auf. Es waren eben jene Wunden, die der Kampf, die Hiebe, die Messer und Säbel geschlagen hatten. Sie waren verborgen, bis sich jemand ihrer von Herzen annahm. Schließlich brach der Mandarin in den Armen der Frau blutüberströmt zusammen und starb.»
Als es mir in den Krankheitsjahren meines Mannes (des II ) besonders elend ging und ich die Heimsuchungen stoisch zu ertragen suchte, strich mir eines Tages eine Freundin zart eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ich brach in Tränen aus, konnte nicht aufhören zu weinen.
Bloß nichts fühlen.
Seit Jahrzehnten lebe ich, die ich aufwuchs mit dem markigen Spruch «Indianer kennt keinen Schmerz», mit körperlicher Pein, die aus einer langen KinderKrankheit rührt. Je älter ich werde, desto heftiger überfallen die Schmerzen den inzwischen abgenutzten Körper – und ich humple wieder, wie einst als Kind. Nach mehreren Operationen wird nun auch noch das Knie dick, sind die Füße verwachsen, knarzt die Wirbelsäule, sind Schultern und Nacken steif. Über viele Jahre habe ich immer wieder bei Therapeuten gesessen und Gespräche mit dem Schmerz geführt. Immerhin reden wir miteinander.
Psyche und Körper, so hat es Moshe Feldenkrais einmal gesagt, sind zwei Aspekte ein und desselben Nervensystems. Leib, Leben, Lebendigkeit. Schmerz als Zumutung und als Verbündeter?
Er gehört zu der Erzählung von der Entriegelung der Gefühle, die den Weg zur Schönheit und ihrem Trost erst möglich gemacht hat. Der Schmerz hat das Kind betäubt und die Frau erschüttert. Hat den Weg gewiesen – und der war weit – von der Erstarrung zur Wahrnehmung, von der Verdrängung zum Gespräch.
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann unterscheidet zwischen einem «Ich-Gedächtnis» und einem «Mich-Gedächtnis». «Das Ich-Gedächtnis», so schreibt sie, «ist das Gedächtnis, das wir bewohnen, das wir steuern können und über das wir mehr oder weniger souverän verfügen.» Das Mich-Gedächtnis dagegen sei das somatische Gedächtnis, das sich auf den Körper ausdehne.
Und ja, mein schmerzender Körper erzählt mir Dinge, die ich eigentlich gar nicht mehr und zugleich doch unbedingt wissen will. Erzählt mir von dem kranken Kind, das über lange Monate hilflos in seiner Einsamkeit lag, lässt mich wissen, dass dort die Verlassenheitsangst geboren wurde und heranwuchs, die ich bis heute kenne. Eine Kindheitsangst, die die alte Frau immer mal wieder bedrängt.
Ich träume.
Ich stehe an einem Abgrund und stürze mich vollkommen angstlos, als trüge mich ein Engel oder ein Fallschirm, in die Tiefe; lande weich und heil im nachgiebigen Sand. Aber als ich dort stehe und mir klar wird, dass niemand bei diesem Sprung Angst gehabt hat um mich, weil niemand weiß, wo ich bin und was ich gerade tat, umklammert mich mit kalten Armen die Verlassenheit.
Egon Friedell, der große österreichische Schriftsteller und Kulturphilosoph, der sich 1938 von seiner Wohnung im dritten Stock in den Tod stürzte, als SA -Männer vor seiner Tür standen, ist auch Journalist gewesen und Kabarettist und einer, der litt an seiner Zeit und an sich darin.
Ein leidender Organismus, meinte er, sei empfindlicher, wachsamer, hellhöriger, auch transzendenter und kühner als der verschonte.
Wenn wir dem Gedanken folgen, dann brauchen wir die Zumutung, die Anfechtung, um Trost finden zu können. Auch den Trost der Schönheit. Dann brauchen wir Chaos, Krankheit, Angst, Liebeskummer oder eine Pandemie, um aufgescheucht, um herausgeworfen zu werden aus dem Einerlei der dressierten Gefühle. Denn dann kratzen alte und neue Zweifel an unsere scheinbar soliden Lebenstüren, werden wir heimgesucht von Dämonen, die uns belagern und benagen. Da paaren sich alte Ängste mit neuen, entlädt sich dreist ein uralter Zorn, von dem wir nicht wussten, dass er noch in uns war.
Manchmal frage ich mich, ob der Schmerz, der sich so un-verschämt aufhält in mir, wirklich erwachsen ist aus dem neuen Schiefstand des Fußes, der neuen X-Beinigkeit, der neuen Hüfte, oder ob er sich längst eingenistet hat in mein Körpergedächtnis, um mich beharrlich zu erinnern an Vergessenes, Vergangenes, Aufwühlendes. Vielleicht ist es falsch, schon wieder Kraft zu stecken in die Abschiebung der Vergangenheit. Ich könnte den Dämonen auch guten Tag sagen und sie bitten um ein Gespräch. Und hoffen auf Nachsicht bei ihnen und Zuversicht in mir. Die Buddhisten sagen: Schmerz ist unvermeidlich. Leiden ist Entscheidung.
Seit einer ganzen Weile schon begrüble ich diesen Satz. Und ahne weise Einsicht.
«unser hyperherz ist viel stärker als du denkst», heißt es in einer Zeile in dem Mondgedicht von Maren Kames.
Aber man muss ihm Kraft zuführen, damit es stark sein kann, man muss es nähren, muss das Herz trösten.
«Dieser Winter kostet mich den letzten Nerv», schreibt mir eine junge Frau. «Habe mir einen Magnolienzweig in die Küche gestellt, er hat erste rosa Spitzen. Es sind die kleinen Dinge.»
Mich hatte das ewige Grau des Berliner Winters in der ewigen Pandemie schon fast aufgeschlürft. Es war ja nicht nur eine Zeit des Alleinseins, sondern auch der ständigen Unsicherheit. Weil jeder Plan, jede Verabredung, jede Reise unter Vorbehalt stand – eine wirkliche Herausforderung für jemanden wie mich, die sich gegen die lauernde Verlassenheitsangst immer wieder eine möglichst solide, eine (scheinbar) sichere Alltagsstruktur bauen muss. Die Pandemie war eine rigorose Einübung in die Unwägbarkeit des Lebens. Das Morgen so zweifelhaft wie eigentlich immer, doch jetzt flatterte mir die Flüchtigkeit in heller Klarheit in den Kopf. Setzte sich und starrte mich an. Machte Angst. Vor dem Alleinsein, vor Krankheit und Tod, vor Verlusten.
Es tröstete mich die Pflanze, die mir eine Freundin vor Monaten geschenkt hatte und die noch immer fröhlich auf meinem Schreibtisch blühte.
Es tröstete das Wissen, dass meine Mitbewohnerin dort hinter der Tür im Home-Office saß und ich nicht allein hineinatmete in die Wohnung.
Es tröstete die sanft-grüne Schale vom Flohmarkt in Brüssel, die ich so gern anschaue und berühre, ihre Form mit den Fingern erspüre.
Es tröstete der kleine vierteilige Rahmen mit den von meiner Enkelin gemalten Miniaturen
Immer macht es mich froh, dass ein Buch auf dem Sofa auf mich wartet. Es sind die kleinen Dinge, die kleine Wonnegefühle aufflattern lassen.
Einmal saßen wir zu dritt um einen Esstisch und aßen Lachs in einer Currysauce mit Zitronengras, Limonenzesten, Limettenblättern, Orangenmarmelade, braunem Zucker und Limonensaft. Und wenn man so behaglich sitzt und genüsslich speist und jeder beim anderen nachfragt, wer er wohl wirklich ist, kommt man ins Erzählen. Und so erinnerten wir beiden Alten uns unserer Kindheit. Sie – meist liebevoll aufgehoben in einem intellektuellen und zugewandten Haushalt, aber mit so großen Erwartungen beladen, dass sie vor Schreck zu stottern begann. Ich – bleich aufgewachsen in reicher, amusischer Kälte, in einem Haus, in dem weder Musik gehört noch über Literatur geredet oder auch nur gelesen wurde, außer der Bibel (Mutter) und Bilanzen (Vater). Malerei spielte keine Rolle, und Philosophie war ein Wort, das einfach nicht vorkam in den Gesprächen, während die Seele eher als «Seelchen, haha» belacht wurde. Immer machte sich jeder über den anderen lustig. Hauptsache, die Bande lachte. Der Vater das große Vorbild, der lieber einen Freund verletzte, als auf eine Pointe zu verzichten. Man neigte dort zur Mitleidlosigkeit.
Und als ich fast anfangen will, zu lamentieren, wie mühevoll es war, zu lernen, das KinderIch nachträglich zu wärmen, frage ich die Dritte, die Jüngere, am Tisch: «Und bei dir?»
«Ach», sagt die bedächtig und grinst. «Ich bin ja ein Genussmensch. Ich möchte mich eigentlich vor allem amüsieren.»
Kein Wort darüber, was auch sie gewiss mitschleppt aus der Vergangenheit, kein Wort über den Weg, sondern sie antwortet nur aus dem heraus, was sie will, was sie braucht, was sie lebt. «Es ist schön bei dir», sagt sie. «Schönheit amüsiert mich.»
Und auf einmal werden auch wir zwei anderen am Tisch von einem solchen Lustgefühl der Befreiung durchleuchtet, grinsen und kichern über unsere ernsten Kindheitsbetrachtungen, entledigen uns all der Schwere, die wir gerade heraufbeschworen haben, genießen unser Zusammensein.
Die lebenskluge Frau ist weder oberflächlich noch selbstsüchtig, sie ist nicht verwöhnt oder anspruchsvoll, denkt wach, schert sich wenig um Konventionen und amüsiert sich mit ihren guten Gedanken, an denen sie andere großzügig teilhaben lässt.
«Es ist schön bei dir. Schönheit amüsiert mich.»
Manche Menschen spüren den Regen,
andere werden einfach nur nass.
Bob Marley (1945–1981)