Schönheit gehört zu den gleichermaßen

umstrittenen wie unhintergehbaren Begriffen

der europäischen Kultur.

Konrad Paul Liessmann (geb. 1953)

I mmer wieder hat sich der Begriff der Schönheit des Denkens der Philosophen bemächtigt. Und sie in die Irre geführt oder jedenfalls ins – zum Glück – unentwirrbare Dickicht. Schriftsteller, Musiker, Poeten, bildende Künstler von der Antike bis heute haben sich dem Thema gewidmet. Griechische Sagen oder deutsche Märchen haben Tragödien erzählt, in denen die Schönheit Krieg auslöste (Helena) oder zum Mord anstiftete (Schneewittchen).

«Spieglein Spieglein an der Wand,

wer ist die Schönste im ganzen Land?»

 

Und da Märchen nun mal keine Wirklichkeit sind,

gibt es auf Fragen eindeutige Antworten:

 

«Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier

Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.»

In der Wirklichkeit unserer Kulturgeschichte und unseres Lebens gibt es keine oder so viele Antworten auf die Frage nach Schönheit, dass sie ein wunderbar unenträtseltes Geheimnis bleibt. «Waß aber dy schonheit sey, daz weis jch nit», soll Albrecht Dürer gesagt haben.

Immer wieder wollte man der Schönheit ihr Geheimnis nehmen, es rauben. Wie oft haben wir versucht, das mürrisch lächelnde Antlitz der Mona Lisa zu entziffern. Kein Bildnis, an dem man sich mit Entzücken labt – es ist eine Herausforderung. An Interpreten hat es nie gemangelt. Für die einen trauert die Dame um ein verlorenes Baby; für die nächsten lächelt da eine Schwangere in mütterlicher Erwartung. Mediziner aus der ganzen Welt haben Erklärungen angeboten. Vermuteten Taubheit der Porträtierten, Bauchweh, Bronchialasthma, einseitige Gesichtslähmung oder Arterienverkalkung. Der französische Kunsthistoriker André Chastel ist davon überzeugt, dass der Anatom, der Leonardo da Vinci auch war, seine Erkenntnisse über die Funktion der Gesichtsmuskeln in dieses Lächeln verpackte.

Andere nannten es ein Teufelswerk. Ein englischer Kritiker schrieb, die Mona Lisa sei «eines der effektvollsten, verderblichsten Bilder, die jemals gemalt worden sind, eine Verkörperung alles Bösen, das der Maler zu erdenken vermochte und in die anziehendste Form brachte, deren er fähig war».

Nie haben die Schönheitsforscher und Schönheitsdenker sich auf eine Definition einigen können. Haben sich nach Schönheit verzehrt, sie gesucht und gegen sie rebelliert. Wollten sie verewigen oder vernichten, haben um sie geworben oder sie verachtet als dekorative Schmuckversion des Elends der wirklichen Welt. In der Moderne gilt schöne Kunst deshalb oft als gefällig und erbaulich. Immanent feudalistisch. Elitär. Man holte das Hässliche in die Kunst, die Provokation, weil auch sie wahr sei und nicht nur das Schöne. Manche behaupteten sogar (wo habe ich das gelesen), das Hässliche zu zeigen, sei ein Akt der Befreiung und darin ein Streben nach Wahrheit und geistig Schönem.

Für Augustinus allerdings war Hässlichkeit nicht das Gegenteil von Schönheit, weil die Schönheit als «alles hervorbringende und alles bewegende Ursache» auch das Hässliche durchdringe.

 

So gern wollte man Schönheit definieren, festschreiben, sie einfangen und einsperren in endgültige Worte.

To tell the Beauty would decrease

To state the spell demean

There is a syllableless Sea

Of which it is the sign

My will endeavors for it’s word

And fails, but entertains

A rapture as of Legacies –

Or introspective mines

Emily Dickinson (1830–1886), Nr. 1689

 

Schönheit benennen mindert sie

Ihr Bann, erklärt, wird klein

Es gibt ein silbenloses Meer

Sie ist die Spur davon

Mein Wille ringt ums Wort für sie

Versagt, und wird benommen

Als ich ganze Bergwerke

Voll Innenschau bekommen.

(Übersetzung: Gunhild Kübler)

Nichts davon ist zum Glück gelungen. Schönheit lebt. Lebt in dem, der sie sieht und erkennt. Der bei ihrem Anblick frohlockt oder weint, die Arme ausstreckt nach ihr oder ihr still den Rücken zukehrt. Mal möchte man Schönheit verschlingen, mal sie verbannen. Der Schönheit ist es egal. Der Seele nicht. Mal jubiliert sie, mal weicht sie bang zurück. Weil zu viel der Schönheit, zu viel des Mangels offenbart, zu viel der Angst vor dem unentrinnbaren Zerfall – obgleich doch gerade der so schön sein kann. Wie die Rauchschwaden, wenn sie aufsteigen aus dem Kamin und wie Nebelwesen über die Dächer fliehen, bevor sie sich auflösen ins Unsichtbare.

 

Meine Schönheitssuche artet immer mal wieder in eine Jagd aus. Als könne ich Schönheit erbeuten, um mein nervöses Gemüt zu beschwichtigen oder einen Kindheitsgroll zu besänftigen. Schönheit lässt sich nicht vereinnahmen. Auch wenn ich es immer wieder versuche. Dann baue ich mir Traumschlösser und wundere mich, wenn ich dort nicht einmal in den ersten Stock vorgelassen werde.

 

Als wir an einem frühen Novemberabend in Mantua einfuhren, war ich glücklich. Kurz bevor wir uns in die schmalen Gassen der Altstadt einfädelten, war die Stadt nach einer Biegung der Straße wie eine Fata Morgana vor uns aufgetaucht, hing wie ein mächtiges, düsteres Gemälde am dämmrigen Abendhimmel, eine gespiegelte Täuschung, direkt am schimmernden riesigen See, der sich – wie wir später lasen – aus drei Flüssen speist. Was für ein Anblick. Steinerne Pracht und Macht. Kirchen und Paläste, Kuppeln, Türme, Zinnen. Was für ein Versprechen von Schönheit und Mystik.

Hochgemut – voller VorLust auf Beseligung und ein gutes Abendessen, dort unter den Bogengängen, wo die Menschen an Tischen mit den, wie immer, karierten Decken saßen und ihren Aperitif tranken – fanden wir unser Hotel, gelegen an einem der eindrucksvollsten Plätze der Stadt, traten ein – und zauderten. Ob wir den falschen Eingang genommen hatten?

Wir standen in einem trüben Flur, kaum als Lobby zu bezeichnen, mit abgestoßenem Fußboden und, gedrängt in der Ecke, zwei schwarzen Sofas in Lederimitat. Wir bekamen unsere Zimmer zugewiesen und fuhren in einem seufzenden Lift nach oben. Hasteten durch runzlige Flure. Als ich meine Kemenate betrat, wollte ich gleich wieder weg. Ein schmaler, länglicher Raum mit drei Einzelbetten, hintereinander an der Wand aufgereiht. Das Fenster nicht auf den schönen Platz, sondern auf einen engen Luftschacht, aus dem es muffig hereinwehte. Und auf allen drei Schragen die scheußlichsten, jede Schönheit verhöhnenden kackbraunen Bettdecken mit ineinander verschlungenen Ornamenten in glänzendem Gold.

Ich war nicht nur beklommen, ich war aufgelöst. Zitterte vor Wut und Widerwillen. «Normale» Menschen sagen in einem solchen Fall vermutlich, oh, schade, gehen wir essen. Nicht ich. Ich war voller Erwartungen hierhergereist. Die ersten Ferien seit langem. Ich wollte es charmant, wollte es vollkommen. Und nun dies. Schiere, schändliche Hässlichkeit. Ich fühlte mich angegriffen, getroffen, ausgeliefert. Und habe dieses Gefühl durch den ganzen Abend geschleppt und es leider auch meiner Reisegefährtin aufgebürdet. Kam aus meiner Enttäuschung nicht heraus. Und fragte mich am nächsten Tag beschämt, warum das so war. War ich so anmaßend und brüchig zugleich, dass die kleinste Störung meiner Erwartungen in der Verknüpfung meiner Synapsen mich aus dem Gleichgewicht katapultierte? War die PandemieEmpfindlichkeit nun doch auch in mir angekommen und hüpfte durch meine Nervenstränge? Oder waren hier alte Muster am Werk, klapperten alte Stricknadeln an alter Bedürftigkeit.

Aufgeladene, gänzlich überspannte Wunschbilder trafen auf die Wirklichkeit. Eine goldgedruckte Einladung zum Fest der Enttäuschung. Wenn man zu viel will, kriegt man immer zu wenig, hat immer zu wenig. Und es entsteht eine künstliche, eine hausgemachte, eine stete und stets greinende Bedürftigkeit.

Vulgo: Es genügt nie. Und genau darum ging es wohl. Hier trotzte in der alten Frau das zu kurz gekommene Kind. Mir war der Schutz der Schönheit, den ich jagte, versagt worden. Ich war verloren. Offenbar war ich wesentlich zerfaserter, als ich dachte. Brauchte Trost und Demut dringender als vermutet. Es war wieder einmal Zeit, sich auf den Weg zu machen, die uralten Fragen auszupacken, die immer wieder so tun, als seien sie neu.

Wenn man die Fragen lebt, lebt man

vielleicht allmählich, ohne es zu merken,

eines fremden Tages

in die Antworten hinein.

Rainer Maria Rilke (1875–1926)

Dort, wo ich herkomme, war es schön. Der Blick vom Haus den Hügel hinab auf den großen Fluss ging über eine Pferdeweide im Tal, auf die, wenn man Gäste erwartete, die Pferde geführt wurden, als seien sie Komparsen in einem Film. Eine schöne Szene, auf die gern mit großer Geste, die natürlich ganz bescheiden ausfiel, hingewiesen wurde. Da man vom Haus durchs Fenster die Pracht nicht sehen konnte, wurden die Gäste ein paar Schritte über den Rasen geführt. Ganz beiläufig. Bis man genau dort stand, wo es abschüssig wurde und sich die beschauliche Idylle der grasenden Tiere offenbarte. Und man lächelte zufrieden ob der bekundeten Bewunderung.

«Die Schönheit um der Schönheit willen ist nicht aufrichtig», schreibt der japanische Erzähler und Essayist Sakaguchi Ango. «Kurzum sie ist hohl. Und was hohl ist, kann aufgrund seiner fehlenden Wahrhaftigkeit Menschen niemals in seinen Bann ziehen.»

So apodiktisch würde ich es wohl nicht sagen. Aber virtuos arrangierte Schönheit irritiert mich. Ich empfinde sie nicht als Geschenk, sondern als Pose, als inszenierte Blendung. Als werde Schönheit missbraucht, um zu prahlen mit ihr. Verformt zum Statussymbol, zur Fassade wird sie fraglos ihrer Würde und ihres geheimen zärtlichen, traurigen und tröstenden Zaubers beraubt.

 

Der amerikanische Schriftsteller George Saunders hat eine großartig böse Geschichte über «schöne» Statussymbole geschrieben.

Ein liebender Vater dreier Kinder, gefangen in der Falle der Kleinverdiener, gewinnt 10000 Dollar im Lotto und heuert gleich eine Gartengestaltungsfirma an, die Rosen pflanzt und Büsche setzt, einen Teich anlegt. Seine Kinder sollen sich nicht länger schämen müssen vor ihren reichen Freunden. Auch bei ihnen soll es schön sein. Und deshalb wird auch ein Gestell errichtet, an dem «SG »s aufgehängt werden. Als Statussymbol und als Ornament.

Man begreift nicht gleich, was da so makellos weiß, wie malerisch hingetupft, an Eisenstangen im Garten weht. Es sind die «Semplica Girls», Mädchen aus Somalia oder Bangladesch, die – dank einer in ihr Gehirn eingepflanzten Mikroleitung – schmerzlos dort hängen können. Dreimal am Tag werden sie von einer Wartungsfirma getränkt und gefüttert. Was für ein schönes Leben für die Girls, die es in ihren eigenen Ländern doch so unerträglich schwer hätten.

Früher waren es drei Garagen, die man brauchte, um mithalten zu können mit den Nachbarn, jetzt sind es mindestens drei «SG »s, die dort hängen am Gestell wie bei uns die Lampions im Baum.

George Saunders – brillant in seinem schauerlichen Einfallsreichtum – hat hier eine schöne neue Welt beschrieben, die bestürzender ist und bedrohlicher noch als die in Aldous Huxleys großem Roman aus dem Jahre 1932, in dem die Menschen – durch ständige Überwachung und Gehirnwäsche gefügig gemacht – zu Robotern verkommen. Der Vater, der die «Semplica Girls» aufhängt, ist ein guter Mensch, der seine Kinder glücklich machen möchte. Saunders denunziert nicht. Er erzählt. Er habe sich, hat er in einem Interview gesagt, viel mit dem Nationalsozialismus befasst und den betäubten Gewissen im Massenwahn.

«Zehnter Dezember» heißt der Band, in dem die Geschichte steht. Vielleicht ja, weil das der Tag der Menschenrechte ist.

 

Dort, wo ich herkomme, hingen keine somalischen Mädchen an Gestellen. Es grasten nur Pferde auf der Weide, und jeden Morgen stand das blankgelederte elegante Mercedes Cabrio mit den roten Ledersitzen vor der Tür – und fast jeden Morgen gab es die strenge Frage an den Fahrer, ob er wohl schon wieder vergessen habe, die Verkehrsnachrichten im Radio anzuhören. Denn jeden Morgen musste der Vater natürlich auf dem schnellsten Weg in die Firma gebracht werden.

«Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen», mahnt Annie Ernaux sich (und jetzt mich) in ihrem Buch über ihren Vater.

Immer musste man vor dem Vater bestehen. Ob Fahrer oder Kind. Immer seinen Ansprüchen gerecht werden. Leistung wurde erwartet, aber nicht anerkannt.

«Mein Kind», hat der Vater gefragt, wenn das Kind mit einem guten Zeugnis nach Hause kam, «bist du denn damit überhaupt noch im ersten Drittel der Klasse?»

Nur das Scheitern wurde thematisiert. Und ich war in vieler Hinsicht ein gescheitertes Kind. Humpelnd, ungelenk, unansehnlich, schüchtern, übergewichtig. In Romanen werden solche Kinder in alten großen Häusern in abgelegenen Räumen versteckt – oder, wenn sie Glück haben, von Heidi zum Öhi gebracht. Ich blieb zu Hause. Bei dem Indianer, der keinen Schmerz und dem Vater, der kein Lob kannte oder, sagen wir, dessen Anerkennung einen nicht wärmte.

«Sitz gerade», hieß es, wenn ich beim Essen krumm am Tisch hing, und streckte ich den Rücken, wurde ich beifällig taxiert: «Tausend Mark mehr wert, mein Kind», rief der Vater. Als sei man eine Aktie.

Das Kind genügte nie. Fühlte sich klein und machte sich kleiner.

Mach mir meine Frau nicht schlecht, hat mein Mann (der II ) später oft gesagt, wenn ich mal wieder herummäkelte an mir.

 

In jener Zeit, als Buddha noch auf der Welt wandelte, beschließt ein Mann, der viel gehört hat von diesem falschen Propheten, zu ihm zu gehen und ihm in aller Strenge die Leviten zu lesen. Kein bisschen würde er sich beirren lassen von dessen ausgefuchsten Reden, mit denen er den Leuten die Köpfe verdrehte.

Er macht sich also auf den Weg, findet Buddha in einem fernen Tal und beschimpft ihn ausgiebig und unflätig dafür, den Menschen Flausen in den Kopf zu setzen, die Gesellschaft aufzuhetzen.

Buddha schweigt. Hört zu. Sagt nichts. Als der Mann in seiner Tirade nicht mehr weiterweiß, sagt Buddha leise: «Darf ich dich etwas fragen?»

Der Mann zögert. Ist das eine Falle? Stimmt schließlich grummelnd zu.

«Was», fragt Buddha, «würdest du tun, wenn jemand dir etwas schenkt, was du gar nicht magst und nicht haben willst.»

Wieder zögert der Mann. «Es zurückgeben», brummt er schließlich.

Buddha lächelt. «Genau», sagt er, hebt die Hände, als trage er ein Paket, «und darum gebe ich dir das, was du mir eben überreichtest, nun zurück.»

 

Kann man auch Seelenkargheit dem zurückgeben, von dem sie kam? Oder müsste man gerade Vätern wie diesen mit Zärtlichkeit begegnen, um sie aufzubrechen?

 

Eine philippinische Frau hat zwei Polizisten angeklagt, die ihre Söhne grundlos, wie sie sagt, bei einer Drogenrazzia erschossen hätten. Vor Gericht, so erzählt sie es einem Reporter, würde sie die beiden gern umarmen, damit sie spüren, wie es ihr geht, sie möchte den fremden Männern mit einer Umarmung ihren Schmerz zeigen, damit die begreifen, was sie zerreißt.

 

Ich habe den Vater nicht umarmt, sondern scheu gemieden. Ich blieb das Kaninchen und er die Schlange. Vielleicht hat ihn das so fertiggemacht wie mich. War doch auch er schon als Junge mit harten Fingern in den Panzer der Konvention gepresst worden. In dem er es lange aushielt und sich erst im hohen Alter langsam daraus befreite, um dann als inniger alter Mann aus der eisernen Rüstung des Patriarchen zu kriechen. Und zeigte sich gerade noch rechtzeitig, bevor er starb, um gesehen, um erkannt zu werden.

 

Seelenkargheit als Erbe zu übernehmen, bei sich zu behalten heißt, die Fenster ins Draußen mit Brettern zu vernageln, zu bleiben im verfinsterten Raum. Ohne Licht, ohne Lust, ohne Schönheit. Wehret den Anfängen , hätte Ovid wohl auch hier geraten. Nicht dem Kummer ein allzu bequemes Bett bereiten. Er findet ohnehin immer seinen Weg, taucht ungefragt gerade dann auf, wenn mein Alltag wie eine fröhlich bimmelnde Eisenbahn durch mein Leben fährt: Wenn die Enkel mich besuchen, wenn ich eine Reise plane oder ein wunderbares Buch gelesen habe, dann steht die Seelenlast plötzlich mitten im Zimmer, mitten in mir, bräsig und triumphierend. Und lässt sich auch von der Lebenserfahrung nicht verscheuchen, die mir oft schon versichert hat, ich würde die Anfechtungen auch dieses Mal wieder überwinden.

Warum geht Unglück immer auf wie ein Hefeteig, nimmt sich so viel Raum und Zeit, so viel Gegenwart?

 

Ich träume.

Ich bin in einem Haus, in einem Zimmer, das ich zu erkennen meine. Und höre – in meinem Kopf oder aus dem Nebenraum –, wie ein Junge überlegt, wie er sich umbringen könne. Die Eltern denken mit. Wollen ihm helfen. «Ich werde ins Eis gehen», sagt der Junge.

Einige Tage später treffe ich die Mutter und weiß nicht, wie ich sie fragen soll, ob alles geklappt habe, alles gut gegangen sei. Gut?

Und dann heißt es auf einmal, im Libanon gebe es auch freundlichere Arten des Selbstmordes. Und es schwimmen kleine goldene Enten mit Puttenflügeln vorbei.

Ich wache auf mit der Frage: Wer will mich umbringen? Es ist der 29. Tag des russischen Einfalls in die Ukraine.

 

Zwei Freundinnen haben mir von ihren Fluchtplänen erzählt, «falls es Krieg gibt bei uns». Die eine wird zu Freunden in die Schweiz ziehen, die andere will sich umbringen. «Ich bin zu alt für Bombenalarm und Luftschutzkeller», sagt sie. «Das hatte ich als Kind schon mal.»

Auch ich habe Angst, die ich nicht haben will. Aber wie betäubt man Angst, wie schickt man sie weg?

Wie so oft flüchte ich mich in den Schutzraum meiner Wohnung. Atme bedachtsam das Heile der Zimmer in mich hinein. «Heim Heiligkeit und Sicherheit», nennt Emily Dickinson das Nest, das man sich baut. Die Zuflucht, die man sich schafft. Die kleine Heimat, die man braucht.

Wohnen beruhigt mich. Meine Wohnung birgt mich. Mit ihren Holzböden und Bücherregalen, ihrem Allerlei von Bildern, Leuchtern, Kissen und Lampen. Wo die Dielen meinen Schritt kennen – und ich ihr Knarzen. Wo der Spiegel im Flur mich mal freundlich begrüßt, mal unwirsch wegschickt, wenn er mich blass und elend sieht. Wo die Äpfel in der Schüssel aus Portugal auf mich warten und die Pflanzen Wasser brauchen und den Kaffeesatz aus der Espressokanne.

Es lächeln die beiden freundlichen Buddhafiguren, die als Buchstützen herhalten müssen, es lehnen Fotos von den Enkeln und von meinem Mann, der nun schon so lange tot ist, im Regal an gesammelten Steinen. Am Haken neben der Spüle hängt das Geschirrtuch, das es als Serviette auf dem italienischen Hochzeitsessen einer jungen Freundin gab. Und daneben steht eine nun schon alterskrumme Lampe vom Flohmarkt in München, die meine Tante das «Horribelchen» nannte. An die Wand habe ich einen mit einer Rose bemalten Knopf genagelt, auf meinem Schreibtisch steht der Drachenleuchter mit der tulpenstängelgrünen Kerze.

Ich zelebriere das balsamische ZuHauseGefühl, das ich gerade jetzt so brauche, als Halt in fragmentierter Zeit. Wo man auch hinguckt, stimmt die Welt nicht, ist das Sein fragil geworden, wird bedroht von Krieg und Pandemie, von Klimatragödie und dem Vormarsch der Autokraten, auch in Europa.

Und so suche ich für meinen Nervenfrieden meine Welt der Schönheit zu Hause. In Nischen, in Blickachsen, im Himmel vor meinen Fenstern, will mir meine Schönheit dort schaffen, wo ich wohne. Will sie sehen und wahrnehmen, will sie leben. Dieses Glücksgefühl, wenn Blick, Licht und Buch stimmen, das ich gerade lese. Blick, Licht und Buch – ein machtvoller Dreiklang für mein Wohlgefühl.

Ich will es schön und behaglich dort, wo ich wohne, und zögere beim Wort Gemütlichkeit. Weil bei näherem Hinsehen die deutsche Gemütlichkeit auch den deutschen Schrecken in sich trägt, eine ungemütliche Rigorosität, ein ganz dem Gemüt hingegebenes Sein, das die Askese des Verstands auszuschließen scheint, eine Gemütlichkeit, in deren Schutz der Spießbürger voller Gemüt Idylle vortäuscht und in ihr die Welt hasst. Deutsche Gemütlichkeit, das hieß in einem unvorstellbaren Zynismus auch: Weihnachtsbäume in KZ s aufstellen. Vom «Grauen der Gemütlichkeit» spricht Wolfgang Hildesheimer in seinem Buch «Lieblose Legenden».

Vielleicht ist mein Wohnbehagen eher verbunden mit Lebendigkeit, mit der Balance aus Ruhe und kleinem Chaos, Lebenszeichen in den Zimmern – hier ein aufgeschlagenes Buch, dort eine Zeitung auf dem Boden, das Glas vom Abend noch am Morgen neben dem Sofa. Damit ich weiß, dass ein Mensch hier wohnt, dass ich hier wohne und nicht nur Sessel, Vasen, Tische und der Laptop.

Und immer wieder sehe ich neu, woran ich lange vorbeigeschaut habe, bin auf einmal überrascht, den kleinen Tonkopf auf dem langen Hals, den meine Tochter als Kind geformt und gebrannt hat und den ich jeden Tag sehe, unvermutet an einem Abend in seiner ganzen Ausdruckskraft zu bemerken. Auch das etwa dreißig Jahre alte Lebkuchenherz, das mein Mann (der II ) mir geschenkt hat, hängt meist unbeachtet im Flur. Bis ich es an einem Dienstagmorgen plötzlich gesehen habe. Und mich mit Zärtlichkeit an den erinnerte, der es mir einst um den Hals hängte. Nein, das Herz ist nicht schön, aber die Erinnerung. Daraus entsteht unser ZuHauseGefühl – aus Dingen und Erinnerungen. So machen wir uns unsere Welt, gestalten wir uns unseren Trost.

 

«Every room should sing» heißt ein Buch der schwedischen Innenarchitektin Beata Heuman. Welch eine schöne Vorstellung, dass wir unsere Wohnungen nicht nur mit Tischen, Stühlen und Stoffen möblieren, sondern mit ihnen eine Melodie komponieren, der wir lauschen oder die wir auch mitträllern, damit die Wände sie speichern.

 

Eine Wohnung haben und wohnen sind zwei ganz unterschiedliche Zustände. Denn wenn Wohnung und Bewohner noch nicht zusammengefunden haben, nebeneinanderher leben, nicht miteinander reden, sich nicht wohlfühlen miteinander, dann bleiben beide ein bisschen einsam. Starren einander ausdruckslos an. Es fehlt Wärme, Zuneigung, Leben, es fehlt die Melodie. Wie kann ein Zimmer singen, wenn niemand ein Lied hineingesummt hat.

Einmal war ich in einem Haus in einer großen Stadt, bewohnt von einem reichen Paar, eingerichtet von einem angesagten Innenarchitekten. Weiße Sofas, aprikosenfarbene Seidenportieren, lackierte Lampenschirme, zeitgenössische Graphiken. Und dann geriet ich, auf der Suche nach einem Bad, versehentlich ins Schlafzimmer der Gastgeber. Da hatte das Paar ganz offenbar verzichtet auf stilistische Hilfe. Zwei schmale Betten mit Rüschendecken, ein großmütterlicher Kleiderschrank aus gemasertem Holz, buntgemusterte kurze Gardinen vor den Fenstern. Eine Stehlampe mit gefälteltem Stoffschirm mit braunen und orangefarbenen Blumenmotiven. Eine andere Welt. Ihre private Welt. Ob sie sich nur in ihrem Schlafzimmer zu Hause fühlten?

Für sie war ihre Wohnung offenbar dazu da, der Welt zu zeigen, was sie hatten, und zu verbergen, wer sie waren.

Wohnte das Paar oder waren die beiden eher herumschleichende Statisten im Bühnenspiel ihres Lebens? Das Wohnzimmer ein öffentlicher Wartesaal, in dem sie hockten und warteten auf den Zug nach Hause ins gediegen heimelige Schlafzimmer. Dort, wo die Erinnerungen Geborgenheit geben.

Ich könnte und wollte nicht wohnen mit Dingen, die andere mir hingestellt haben. Meine Dinge sind die Gefährten meines Alltags. Ich hänge an ihnen. Sie halten mich und zeigen mich. Fremde Augen können in meiner Wohnung einiges von mir durch meine Dinge erkennen.

«Der Trost der Dinge» heißt das Buch des englischen Anthropologen Daniel Miller über das Wohnen und Sein der Anrainer einer Londoner Straße. In fünfzehn Porträts erzählt er von deren Kümmernissen und Beglückungen, und wie sie Trost finden und Sicherheit in der Ordnung ihrer Dinge. Oder eben auch nicht.

Das Buch beginnt mit der Schilderung eines Mannes, der in einer tristen, gänzlich dingleeren Wohnung haust. Nur die nötigsten Möbel stehen dort. Kein Bild an der Wand, keine Nippes im Regal, kein Foto, keine Vase, kein Souvenir, kein besticktes Kissen. Nichts, womit wir anderen unsere Wohnungen so gern füllen, unseren Alltag wattieren. Ein Mann ohne Dinge, der sich auch als ein Mann ohne ein inneres Leben entpuppt. So leer wie die Wohnung, so leer war auch er. Fast sein ganzes Leben hatte er in Heimen verbracht, bevor er mit Anfang siebzig in diese Sozialwohnung gesteckt worden war. Noch nie hatte er sein Leben selbst bestimmt. Noch nie für sich gesorgt. Wie sollte er sich Dinge suchen, die er schön finden, wie sich eine Umgebung schaffen, in der er sich wohlfühlen könnte? Er fühlte sich auch in seinem Leben nicht wohl.

Miller hat nicht nur die Menschen befragt nach ihren Dingen, sondern hat auch Wandgemälde, Stühle und Sofas befragt nach ihrer Funktion im Leben der Menschen. Welche Kraft zieht der Mann, der Briefmarken sammelt, aus der Freude über seine seltenen Exemplare, wie werden Familientraditionen durch Dinge weitergegeben – sei es ein Teeservice oder antiker Weihnachtsschmuck. Wer umgibt sich mit Dingen, die ihn erinnern an Eltern, Freunde, Reisen, die eigene Jugend. Wie sind Mensch und Dinge miteinander verwoben, prägen und bedingen einander.

Kühn resümiert Miller, «dass uns eine anthropologische Betrachtung mehr Einblick in die Lebensverhältnisse einzelner gewähren kann als die üblichen psychologischen Verfahren».

 

Der Mensch und seine Dinge.

 

Eine Freundin hat sich auf Kacheln gemalte Zitronen in die Küche gehängt. «Im Winter», sagt sie, «sind sie existenziell.»

 

Ich habe versucht, mich an den ersten Gegenstand zu erinnern, der mir wichtig war. Und mir fällt doch tatsächlich die Wimpernzange ein, mit der ich als junges Mädchen täglich versuchte, meine Wimpern nach oben zu biegen, weil man das damals wohl schön fand. Was für eine weiblich klägliche Erinnerung. Ich habe noch nie von Männern gehört, die Wimpernzangen benutzen, um sexier blinzeln zu können.

Der nächste Gegenstand, der mir einfiel, ist der Schwamm, mit dem ich morgens gewaschen wurde, als ich krank lag als Neunjährige und nie mehr essen und nicht mehr leben und jeden Morgen offenbar doch wieder leben wollte und heimlich Wasser sog aus dem Schwamm. Ganz leise, als schämte ich mich meines wankelmütigen Wollens.

 

Die Dinge, mit denen ich heute lebe, beglücken und beruhigen mich. Auch und gerade in ihrer sachlichen Gleichgültigkeit. Sie sind einfach da. Man kann sie anfassen, kann sie umräumen, kann sie am Körper tragen, kann sie mitnehmen von einem Zimmer ins nächste. Das Kissen für den Rücken, die grüne Vase mit den blauen Anemonen, die mit mir vom Schreibtisch zum Sofa in die Küche wandert, während die orange und lila gestreifte Decke mich mal im Bett wärmt, mal auf dem Balkon. Wenn ich weg bin, kann ich an meine Dinge denken, mich auf sie freuen. Und da wir zusammengehören, meine Dinge und ich, freue ich mich dann wohl auch auf mich.

Dinge können uns Halt geben und AtemMut, weil das, was wir schön finden, eine kleine Schneise mäht in die große Kummerwiese, uns für Momente tief und froh Luft holen lässt. Schöne Dinge können uns daran erinnern, dass wir sind.

Sonja Zekri erzählt in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung von einer dem Terror entkommenen afghanischen Journalistin, die sie in einem Berliner Flüchtlingswohnheim besucht. Dort sitzt die Frau auf einem «rotgoldenen Teppich, den sie aus ihrem alten Leben mitgebracht hat».

Ich habe die Kraft, die Dinge uns geben können, lange nicht erkannt. Zwar hatte ich auch früher schon Tassen, Krüge und Körbe von Reisen mitgebracht und in meine Zimmer gestellt, aber die Dinge und ich hatten eine eher nonchalante Beziehung. Sie waren da, aber es war still zwischen uns. Die Dinge schwiegen. Oder ich hörte ihnen nicht zu. Wir lebten nebeneinanderher.

In seinem Essay «Das verschachtelte Ich» untersucht der Kulturwissenschaftler Andreas Gehrlach das Verhältnis zwischen Mensch und Ding, die Intimität zwischen beiden, die Wichtigkeit von kleinen Dingen in unseren Leben und auch unseren Grabkammern und resümiert: «Manche Gegenstände sind viel eher Organ als Besitz.»

Das ist vielleicht übertrieben. Wenn mein Herz stillsteht, bin ich tot. Wenn meine Lieblingsschüssel zerspringt, werde ich blass. War doch nur eine Schüssel – versuche ich mich zu beruhigen. Aber es war meine Schüssel. Diese eine besondere, unersetzbare Schüssel.

Viele meiner Dinge haben eine Geschichte, eine Vergangenheit. Sie haben woanders gewohnt, bevor sie zu mir kamen. Manchmal bitte ich sie, mir von sich zu erzählen.

«Sie werden doch nicht», hat mich vor sehr vielen Jahren eine Frau mit dunkler Ahnung in der Stimme gefragt, «silberne Teekannen oder kleine Gouachen in Antiquitätenläden kaufen. Woher wollen Sie denn wissen, dass sie nicht von enteigneten, deportierten, ermordeten Juden stammen.»

Sie hatte recht. Und doch bin ich weiter über Flohmärkte und durch Trödelläden gelaufen, habe gehandelt und gekauft und meine Kostbarkeiten nach Hause getragen. Ich habe immer Dinge mit Geschichte um mich. Auch wenn ich ihre Geschichte nicht kenne. Ich kann ohnehin nicht pur leben. So wie wir Deutsche es versucht haben, als wir nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus die «Stunde null» erfanden und damit suggerierten, wie neugeboren ins neue, ins demokratische Deutschland zu wechseln. Was für eine Lebenslüge. Auch wenn wir nicht mit der Geschichte leben wollen, lebt sie in uns. Und so lebe ich mit Vasen und Stühlen und Lampen und Tischen, deren Herkunft ich nicht kenne. Aber deren Schönheit mich tröstet. Wie sie vor mir andere getröstet hat.

 

Ich mag mir ein Leben ohne meine Schönheiten nicht vorstellen. Sei es die kleine bauchige Keramikfigur, die mir mein Mann in einem Museum in Kairo geschenkt hat, seien es die Zeichnungen und Bilder meiner Tochter und Enkel, die bei mir an der Wand hängen, sei es mein großes Tagbett mit seinen vielen Kissen, auf dem ich schreibe und döse, Filme anschaue und lese, Tee trinke und in die Luft gucke – und immer wieder aus dem Fenster, wo sich in diesen Tagen jeden Abend die Stare versammeln: Immer mehr treffen dort ein, wo die meisten schon sind, zu viert, zu sechst schwirren sie eilig heran – als habe man sie dringlich gerufen. Und dann beginnt das grandiose Schauspiel, und sie fliegen alle gemeinsam ihre Arabesken vor dem Abendhimmel, während ich, an viele Kissen gelehnt, den Laptop auf dem Schoß, über meine Dinge schreibe und wieder einmal die zweifelnde Stimme in mir fragt: Darf ich das?

Laut dem «Global Trends Report» vom UNHCR waren Ende 2021 fast neunzig Millionen Menschen auf der Flucht, und seit Russlands Angriffskrieg sind vierzehn Millionen ukrainische Geflüchtete dazugekommen. Menschen, die kein Zuhause haben und keine Dinge.

Immer wieder die Frage: Wie unangemessen ist es, über Schönheit zu schreiben, während in so vielen Teilen der Welt Not und Angst, Hunger und Entsetzen herrschen. Immer wieder versuche ich, mir zu versichern, dass Schönheit ihren Platz haben und behalten muss. Weil wir Schönheit brauchen. Weil sie Rettung sein kann, jedenfalls ein Anker.

Mein Mann, der viele Jahre so krank war, nach zwei Schlaganfällen nicht richtig sprechen, nicht gehen, nicht lesen, nicht schreiben konnte und mit hellwachem Verstand eingekerkert war in seinem Körper, dieser Mann hat in seinem oft elenden und verzweifelten, seinem so reduzierten Zustand gelernt, Schönes zu sehen und zu fühlen. Hat gespürt, wie wichtig sie werden, die kleinen Dinge und die kleinen Momente. Der Blumenstrauß, ein Gedicht, ein Lied, ein Morgenlicht.

«Schön», hat er gesagt, ein kurzes Wort, das er gut aussprechen konnte. Schön. Und schaute lange und bedachtsam ins Feuer im Ofen, in die silbernen Pappelblätter vor seinem Fenster oder auf den nackten jungen Rücken einer Pianistin im Klaviersalon im Wedding.

Schönheit ist lebensnotwendig.

Semir Zeki (geb. 1940)

Der Neurobiologe, Begründer und Inhaber des weltweit ersten Lehrstuhls für Neuroästhetik am University College London, Semir Zeki, wollte herausfinden, ob man Schönheit neurologisch definieren kann. Auch deshalb eine für ihn naheliegende Frage, weil er leidenschaftlich Kunst sammelt, Kunst anschaut, mit Kunst lebt – wie sein Kollege, der Nobelpreisträger Eric Kandel, der ebenfalls neuronale Wirkungen von ästhetischen Wahrnehmungen untersuchte.

Zeki wollte also wissen, wie das menschliche Hirn pocht oder zuckt, wenn es Schönheit erlebt. Wie die emotionale Reaktion sich neurologisch abbilden lässt. Ob das Gehirn eine universelle Antwort gibt auf Schönheit. Und hat in vielen Experimenten die Wahrnehmung von Schönheit im Orbitallappen des Großhirns entdeckt.

«Wann immer Menschen eine ästhetische Erfahrung machen, wird die Region A1 im Stirnlappen des Großhirns aktiv, hinter der Augenhöhle», wo unser sogenanntes emotionales Gehirn angesiedelt ist. Und hier, so seine These, werden Reize befeuert, die wir so mögen, dass sie sich wie eine Belohnung anfühlen. Das Gehirn, so Zeki, antworte auf Schönheit. Es brauche Schönheit.

 

In Kanada verschreiben Ärzte ihren Depressionspatienten Museumsbesuche, weil das Schöne in der Kunst die Gemüter besänftige, das Stresshormon Cortisol senke und das sogenannte Glückshormon Serotonin steigere.

 

Nach dem Anschlag vom Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle, erzählt eine Frau, die in der Synagoge war, sei sie zurückgefahren in ihre Stadt und habe auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause etwas zu essen gekauft und Blumen, gegen die Leere …

 

Der Cellist Vedran Smailović hat 1992, noch während Sarajevo belagert wurde, 22 Tage lang in seiner zerstörten Stadt das Adagio von Albinoni auf einem öffentlichen Platz gespielt. Hat sich einen Frack angezogen, den Gefahren getrotzt, sich in die Ruinen gesetzt und gespielt, um die 22 Menschen zu ehren, die, Schlange stehend vor einem Bäckerladen, während eines Anschlags getötet worden waren. Hat mit Schönheit auf Gewalt und Schmerz geantwortet.

 

Der Bürgermeister von Charkiw, lese ich im Mai 2022, hat sehr bald nach dem Bombardement seiner Stadt – ein Drittel aller Wohnhäuser waren unbewohnbar – Bäume und Blumen pflanzen lassen.

 

«Weder Kälte noch Dunkelheit», schreibt die ukrainische Pianistin Marta Kusij in der Zeit , «können das Bedürfnis nach Kunst und Schönheit bremsen» – und erzählt von Konzerten in kalten Sälen, von dem Verantwortungsgefühl der Musiker, den vom Krieg bedrohten Menschen zu helfen, ihrem Leben für Momente Leichtigkeit zu geben, dem Schrecken Schönes entgegenzusetzen.

 

Sehr früh an einem Morgen – es war ein Ostersonntag – bin ich durch die noch schlafende Stadt geradelt und über einen kleinen Friedhof in meiner Nachbarschaft gegangen. Wo ich den Osterhasen traf, der zufrieden am frischen Gras zwischen den Grabsteinen knabberte.

Es gibt hier viele eifrig geschmückte Gräber. Mit Marmorherzen und Schäferhundskulpturen, mit Porzellanlämmchen und künstlichen Blumen, mit Grableuchten und bemalten Engeln aus Ton. Ein Grab war so überladen mit KrimsKrams, dass ich es fotografieren wollte und es nicht konnte, weil ich mich genierte ob meines ironischen Blicks. Denn ich wollte mich ja auch später noch beim Anblick des Fotos ein wenig mokieren ob des angehäuften Tands, der kein bisschen schön war in meinen Augen.

Aber wer, bitte, sind denn meine Augen. Wie frei sind sie, Schönheit zu erkennen. Mag mein Auge, was es sieht, weil man es ihm beigebracht hat? Wie sehr ist unsere SehFreude gebunden an Konvention und Sozialisation. Kann man überhaupt eigenständig sehen? Oder suchen wir nach Bekanntem, um das Neue einordnen zu können. «Das erinnert mich an …», sagen wir oft, als könnten wir das Sehen ohne Rahmen nicht aushalten. Als müssten wir uns vergewissern, in einer vertrauten Ordnung zu bleiben. Als fürchteten wir uns vor dem Staunen.

«Staunen», sagt Wikipedia, «ist eine Emotion beim Erleben von Unerwartetem.» Es wird begleitet von einem «neurobiologischen Zustand der Erregung, einem inneren Unruhezustand».

Unruhe, Beunruhigtsein – mögen wir das nicht? Huschen schnell heim ins Körbchen des inneren Gleichgewichts?

Mit dem Staunen begann die Philosophie, regte sich als kleine Schwester die Neugier, suchte der Staunende neugierig nach Erkenntnis, nach mehr Wissen. Wenn wir aber das, was wir sehen, möglichst schnell einordnen in das, was wir kennen, benehmen wir uns dann des Staunens? Blockieren das Denken?

Schönheit liegt im Auge des Betrachters.

Thukydides (ca. 454–399 v.Chr.)

Der offenbar archaische Wunsch des Menschen, es sich schön zu machen, zeigt sich auf Friedhöfen wie in Vorgärten, auf Fensterbänken oder Treppenstufen, in Vitrinen, Regalen oder Schrebergärten. Fast alle wollen wir auf etwas schauen, was uns gefällt. Sei es der schon sprichwörtliche röhrende Hirsch über dem Sofa oder die Gartenzwergherde im Vorgarten, sei es meine himmelblaue Teekanne vom Flohmarkt in Hamburg. Zu Hause machen wir uns unsere Welt, gestalten wir uns unseren Trost. Darum hängen Trockenblumen in Gläschen an der Wand neben der Eingangstür, blühen Stiefmütterchen in übrig gebliebenen Bausteinen, hängt ein selbst geschnitzter Anker an der Tür, steht eine Primel neben leeren Bierflaschen. Zeigen Menschen ihre Lust am Schönen, an dem, was sie schön finden.

Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Und man denkt an den Freund, der seine Wohnung mit geschliffenen Kristallschwanlampen und geflammt bezogenen MonsterSesseln möbliert, die er schön findet; an den Kollegen, der seine glupschäugige Liebste eine Schönheit nennt, was andere Augen staunend zur Kenntnis nehmen.

«Jeder hat halt seinen Geschmack», sagt man dann. Doch es geht um mehr als um Geschmack oder Stilgefühl, es geht um das eigene Gefühl, die Mitteilung des Ich. Der Mensch zeigt sich in dem, was er mag, was er ausstellt, was er schenkt.

Jeder sucht sich seine Schönheit. Und jede sucht sich in der Schönheit, was sie braucht. «Schönheit als Vermittlerin der Wahrheit», wie Friedrich Schiller meinte. Ist es das?

Und schon sind wir wieder bei der Trias des Wahren, Guten, Schönen, die wir so gern belächeln. Ist das, was ich schön finde, meine Wahrheit?

Manchmal finde ich Schönheit im Bizarren – in Fratzenskulpturen an Kirchenfassaden oder GruselMasken beim Fasching, die das Böse vertreiben sollen. Finde sie auch im Kitsch, in der Lust am Lieblichen, im Puttengesäusel, in regenbogenbuntem Zuckerguss auf Torten oder in Bildern von glücklichen Schwänen mit vom Abendlicht rosa getöntem Gefieder. Ist Kitsch nicht ohnehin der gefühlig gekoste Schoßhund der Schönheit?

«Nicht alles», mahnt meine Freundin R., «was ans Herz rührend schön ist, ist auch gleich Kitsch.»

Sie hat recht. Auf Schönheit antwortet das Gefühl und nicht die Sentimentalität, von der Arthur Schnitzler gesagt hat, sie sei das Gefühl der Gefühllosen. Aber auch Kitsch kann befreien, wenn man zerfließt vor Rührung und kathartisch gereinigt bei sich ankommt. Dann ist eben Kitsch in dem Moment meine Wahrheit, meine Schönheit, die mich tröstet.

 

«Schönheit ist lebensnotwendig.» Seit Zekis Diktum gilt für viele die Aktivität des orbitofrontalen Kortex als Maßstab für Schönheit. Im Kunstmuseum St. Gallen hat es vor einigen Jahren dazu ein Experiment gegeben. Museumsbesuchern wurde bei einer Ausstellung mit Werken von Claude Monet, Andy Warhol oder Günther Uecker ein «Datenhandschuh» übergestreift, der die emotionale und kognitive Erregbarkeit der Bildbetrachter aufzeichnete. Durchschnittlich steht ein Museumsbesucher elf Sekunden oder drei Atemzüge lang vor einem Bild. Nun aber konnte man messen, wer wo stehen blieb, wem bei welchem Bild das Herz müde schlug oder aufgewühlt hämmerte. Das Bild, das am meisten erregte, galt als das schönste. Wie bei einer Wahl der Miss Universum.

In St. Gallen übrigens war es ein Nagelbild von Uecker, bei dem die Besucher durchschnittlich 34,5 Sekunden verbrachten. Es berührte emotional. Aber ob es Schönheitsbeglückung war oder verständnislose Empörung?

Die Erkenntnis oder Behauptung des Neurologen Zeki, dass Schönheit lebensnotwendig sei, bestätigt medizinisch, was so manche poetischen Geister längst wussten. Schon 1868 schrieb Dostojewski: «Gewiss können wir nicht ohne Brot leben, aber es ist ebenso unmöglich, ohne Schönheit zu leben.»

Dostojewski, der Spielsüchtige, liebte die Kunst. So ist er immer wieder nach Dresden gereist, um dort in der Königlichen Gemäldegalerie Bilder anzuschauen. Vor allem die Sixtinische Madonna von Raffael hatte es ihm angetan. Immer wieder soll er auf einen Stuhl gestiegen sein, um die riesige Leinwand direkt und nah betrachten zu können.

Vielleicht ist auch das eines der Geheimnisse der Schönheit: Wenn man lange und langsam schaut, gerät man in eine kleine – der Zeit enteilende – Trance. Es lösen sich anerzogene Erstarrungen wie Schuppen von ausgetrockneter Haut, zerstauben. Und es bleibt ein sanftes Innen, ein zarter Sinn. Auf einmal setzt sich ein scheues Lächeln ins Gesicht, das sich ganz allmählich selbstbewusst ausbreitet, vom Kinn über die Wangen und Augen bis zur Stirn.

In Zeiten der Pandemie ist mir dieses unwillkürliche Lächeln ob einer empfundenen Schönheit besonders deutlich geworden. Weil es unter der Maske geschah und diese sich fühlbar an Kiefer, Lippen und Nase verschob, wenn die Muskeln die freudige Ausdehnung der fürs Lächeln zuständigen Gesichtspartien in Bewegung setzten.

In seinem Roman «Der Idiot», den Dostojewski wohl in Dresden zu schreiben begann, lässt er den Fürsten Myschkin sogar sagen, dass Schönheit die Welt retten werde. Obgleich der Sezierer der Düsternis, der verschatteten Seelen, dabei wohl eher an ein schönes, ein gläubiges Gemüt dachte als an ein schönes Gemälde. Oder eben doch meinte, dass die Schönheit, etwa eines Gemäldes, eine Seele veredeln und erhellen könne.

Denn unser Blick auf das, was schön ist, was für uns schön ist, ist eben auch ein Blick in unser Inneres, in das, was wir sehen wollen, was wir brauchen, wo wir Trost suchen. Wir können keine Schönheit finden für uns, wenn wir nicht wissen wollen, wer wir sind. Deshalb verwechseln ja so viele – und auch davon wird die Rede noch sein – die geheimnisvollen Paradoxien der Schönheit mit der leicht entzifferbaren Makellosigkeit. Schönheit ist auch ein sinnliches und seelisches Wagnis, schiere Perfektion dagegen eine zähmende Befriedung.

 

Schönheit ist lebensnotwenig, wie die Liebe, das Glück, der Kummer und der Schmerz. Auch sie machen das aus uns, was wir sind.

 

Heute war ich auf dem Friedhof, um das Grab meines Mannes (des II ) winterschön zu machen. Habe es mit Eiben bedeckt und so viele Zweige mit roten Beeren und kleinen Äpfelchen hineingesteckt, bis ich Lebenslust spürte in der Schönheit des Totenhügels.