Und darauf kommt es doch an,
in der Kunst wie im Leben,
auf den glücklichen Augenblick,
in dem sich Schönheit entfaltet.
Lucas Cejpek (geb. 1956)
E s war während der Pandemie. Ich hatte mich seit Wochen gefreut auf Pfingsttage mit der Tochterfamilie. Doch dann kam Covid in die Schule. Die Enkel wurden in Quarantäne geschickt, und ich musste zu Hause bleiben. Es gähnte genüsslich fies der mir nur allzu bekannte große schwarze Kater des Verlassenheitsgefühls und wetzte seine Krallen. Mein Körper dröhnte, vibrierte und zitterte wie ein Maschinenraum. Der Tinnitus schrie, das Herz bammelte und stolperte, und dann überwand ich mich, simste einer Nachbarin und fragte, ob sie Zeit habe für mich.
Sie kam, brachte Kekse, trank Kaffee mit mir, und als sie gegangen war, habe ich erleichtert geweint – ich hatte Bedürftigkeit zugegeben und dann ein hochzufriedenes Wochenende nur mit mir und viel Schönheit verlebt. Kaufte mir einen Blumenstrauß. Ging spazieren im Wald. Schwamm im menschenleeren See im Regen. Nur die Wolken, die Tropfen, der See und ich. Die große Stille und darin die plätschernden sanften Explosionen, wenn die Tropfen auf der Wasseroberfläche aufschlugen und platzten, zurücksprangen in kleinen Fontänen, in die ich glücklich mein Gesicht hielt.
Vielleicht hätte ich ohne die eingestandenen Ängste nicht diese Lust an der Schönheit fühlen können. Vielleicht war es auch wieder ein Moment, in dem Schönheit die Angst vertrieb.
Immer diese Ängste. Die Angst, nicht zu genügen, die Angst, zu versagen, die Angst, nicht eingeladen zu sein aufs Fest des Lebens, ungeliebt zu sein, als mickrig erkannt, enttarnt zu werden. Eine typisch weibliche Angst übrigens. Die manche Frauen, vor allem nach erfolgreichem Aufstieg in neue Jobs, heimsucht. Oh Gott, man findet mich gut, bald erkennt man bestimmt, dass ich es gar nicht bin, und ich werde zum allgemeinen Gespött.
Undress your fears – ist das eine Liedzeile? Oder habe ich sie gelesen in einem Gedicht?
Manchmal versuche ich, diese Ängste zu benennen, weil ich hoffe, strenges Denken könnte die wabernde Misere vertreiben. Und dann fallen mir keine Worte ein für das abgrundtief seufzende Gefühl. «Die Wirklichkeit sticht zu», murmele ich dann etwas hilflos. Aber wo schmerzt der Stich? Sind Angst und Besorgnis körperlich oder körperlos. Wie körperlich fühlen wir, was das Gemüt zu empfinden vorgibt. Was heißt denn überhaupt fühlen? Wo sitzt die Freude in meinem Körper, wo die Angst? Und wie behauptet sich das Leben in ihm? Ist die Einsamkeit der Haut nur eine Schimäre? Ist Kummer rot oder dunkelbraun?
Neurowissenschaftler wie Zeki oder Kandel hätten auf manches sicher «evidenzbasierte» Antworten und könnten auch dem Sitz des Kummers einen Stirnlappen zuordnen. Für mich sind es Sackgassenfragen, durch die der Kummer stürmt, der sich nicht irritieren lässt, wenn die Straße und die Fragen enden. Dann zittere ich ein wenig. Und nun?
Undress your fears – und schau, wie die Seelenängste nackt aussehen. Sind sie hässlich? Bedrohlich? Oder sind sie einfach nur bedürftig, frierend, mitleiderregend.
Undress your fears . Die Ängste entschleiern, sie aus ihren Hüllen ziehen, ihnen die Masken abnehmen. Es genügt nicht, diese Sätze zu denken. Denn fast immer sind Worte auch dazu da, zu verbergen, was sie scheinbar erzählen.
Undress your fears . Vielleicht stellen wir uns einfach mal vor, wie die LebensFurcht auf die Schönheit trifft und nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Denn wie kann es ihr schon gehen, wenn sie in einen Garten voll blühender Apfelbäume kommt, mit einem Beet am weißen Schindelhaus, in dem büschelweise leuchtend blaue Lilien blühen? Wie klein wird sie, wenn der Bach plaudernd durch die taunassgrüne Wiese läuft, wenn die Spatzen schon im Februar im Gebüsch am Straßenrand so spektakelnd ein Frühlingsahnen bezwitschern, dass man stehen bleiben muss, um ihnen zuzuhören.
Die meisten Menschen wissen gar nicht,
wie schön die Welt ist und wie viel Pracht
in den kleinsten Dingen, in irgendeiner Blume,
einem Stein, einer Baumrinde oder einem
Birkenblatt sich offenbart.
Rainer Maria Rilke (1875–1926)
So viele Bilder tauchen auf, wenn ich Schönheit denke. Waldwege, Flussblicke, Meerweite, gemütlich am Himmel schlendernde Wolken, gepflegt verwilderte Gärten, Sprachmelodien, Sätze, die mich im Leben begleiten; gemeinsame Essen mit geliebten und gemochten Menschen an großen Tischen; die zarten Blumensträuße voller Poesie, die meine Tochter aufstellt bei sich. Flowers teach you to bloom and to die – auch wieder so eine aufgeschnappte Zeile. «Ich male Blumen», hat Frida Kahlo gesagt, «damit sie nicht sterben.» Ich fotografiere meine Blumensträuße.
Wenn ich Schönheit denke, sehe ich die leuchtenden Farben Mexikos, die berstenden Märkte, die phantastischen Wandgemälde, die Tücher und Ponchos und Kleider. Ich sehe das Eichhörnchen, das aufgeregt buddelnd seine versteckte Nuss in meinen Blumentöpfen sucht. Das kleine Kind, das selbstvergessen im Sonntagskleid im Sandkasten spielt. Die in der Sonne – gleich unter der Wasseroberfläche – träge dösenden Karpfen im klaren Bergsee.
Manchmal sehe ich Cy Twomblys gestrichelte Phantasmagorien, Jackson Pollocks gekleckste Urgewalt und immer wieder Giacomettis karge, poröse Figuren, die vielleicht nicht auf Anhieb schön sind, sich dem Trost sogar scheinbar verweigern, aber sie sind Wesen, die erzählen von der Zerbrechlichkeit der Menschen, von Verzicht, Tumult, Eigensinn und Einsamkeit, die all die Fragen ans Leben stellen, die uns bewegen, und genau darin liegen ihre Schönheit und ihr Trost.
«Es war der Akt des Sehens», schreibt John Berger über Giacometti, «der ihm bewusst machte, dass er sich ständig in der Schwebe zwischen Sein und Wahrheit befand.»
Sehen heißt in der Schwebe sein zwischen Spüren und Erkennen, heißt Schönheit in ihren Paradoxien für einen Moment aufnehmen in sich oder auch für eine längere Weile vom fluiden Lebensganzen. So fließt man mal mit dieser, mal mit jener Schönheit ihrem und dem eigenen Ende zu. Neugierig, wach, wandelbar – man kann es jedenfalls versuchen. Und sich gute Erinnerungen an Herbergen auf dem Weg bewahren.
Dort, wo ich herkomme, gab es eine Großmutter, die freundlich war und geduldig hinter ihrer Unnahbarkeit. Und sogar phantasiereich, trotz hanseatischer Contenance. Einmal hat sie, bei der wir immer am ersten Weihnachtstag feierten, ein riesiges, berstendes Füllhorn aufgestellt, so knallrot wie der Weihnachtsmann, aus dem – wie ein Strom – die bunt eingepackten Geschenke flossen. Da war der rigid strenge Großvater schon tot. Er hätte ein so verschwenderisch quellendes Cornucopia in seinem Wohnzimmer wohl kaum geduldet. Sie dagegen liebte ihre Inszenierung.
Es war die Großmutter, die mich mitnahm in die Oper. Es war die Großmutter, die immer da war, immer Zeit hatte für mich. In adretter SchleifenBluse, der sorgfältig aufgesteckte Haarknoten im Netz, saß sie in ihrem schönen Wohnzimmer mit Blick auf denselben Fluss, auf den auch wir schauten. Ich musste nur über den großen Rasen laufen und durch einen kleinen Wald, und schon war ich bei ihr.
Vielleicht haben wir gar nicht viel geredet. Aber ich saß so gern auf dem kleinen Hocker neben ihrem Sessel. Manchmal haben wir nur zusammen auf den Fluss geschaut, manchmal haben wir Handarbeiten gemacht. Hohlsaum habe ich bei ihr gelernt und meinen Eltern ein tannengrünes Deckchen für den rosa Teewagen geschenkt, an dem der Vater morgens am Bett der Mutter frühstückte. Jeden Morgen. Kurz bevor er fertig angezogen war, drückte er auf die Klingel neben der Zimmertür. Dann wusste die Köchin, dass sie nun die Eier für viereinhalb Minuten ins kochende Wasser legen sollte und wenig später mit dem Hausmädchen den Wagen, samt Tellern und Tassen, den Messern und Eierlöffeln, der Butter und der Wurst, über die weiße Treppe mit dem grauen Teppich nach oben zu bugsieren und ins Schlafzimmer der Eltern zu rollen hatte. Die gute Marmelade mussten sie nicht tragen. Die war schon oben. Aufbewahrt im Nachttisch der Mutter (neben der Bibel). Denn die gute Marmelade war nur für die Eltern, nicht für Kinder und Personal.
Ich frühstückte in der Pantry , einem kleinen Nebenraum der Küche. Saß dort allein am Tisch. Wie auch oft am Mittag, wenn ich spät aus der Schule kam und die Mutter schon ihren Mittagsschlaf hielt.
Am Sonntag frühstückte ich hin und wieder bei der Großmama. Dann buk ihre Köchin Dora Hefebrötchen, deren betörender Duft seit bald siebzig Jahren Obhut für mich bedeutet. Er zog durchs Haus, sammelte sich im Treppenhaus, stieg hinauf in den ersten Stock in meine sonntagsfrohe Nase, prickelte sich in mein Gedächtnis, wo ich ihn bis heute hüte. Und noch immer bin ich auf der Suche nach Brötchen, die so trostreich duften wie die von Dora.
Jede findet ihre Schönheit, jeder findet seinen Trost.
Der berühmte britische Kriegsfotograf und Chronist menschlichen Elends Don McCullin, der in Vietnam war und in Biafra, im libanesischen Bürgerkrieg und in Nordirland, im Tschad, in Kambodscha, in Afghanistan und vielen anderen Ländern, hat zu Hause in Somerset Schönheit fotografiert – englische Landschaft und auch Stillleben. Blumen und Früchte, Pilze, Schneckenhäuser, orientalische Bronzen, dekoriert mit Holunderzweigen. Er habe, sagt er in einem Interview, diese Arbeit gebraucht als Ausgleich zu den schrecklichen Dingen, die er in seinem Leben gesehen habe.
Auch der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado, der 2019 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hat sich – nach seinen Reisen zu skandalöser Armut, Leid und Elend, das er fand, zum Beispiel, bei den Schürfern in einer brasilianischen Goldmine oder den hungernden Menschen in der SahelZone – die Schönheit als Thema gesucht. Acht Jahre lang ist er um die Welt gefahren, um Landschaften mit ihren Pflanzen, Tieren und Menschen zu fotografieren, die noch nicht der sogenannten Zivilisation zum Opfer gefallen waren. Salgado sorgt sich um die Schönheit des Planeten. «Wir haben uns», sagt er in einem Gespräch im Sender France 24 , «zu urbanen Tieren entwickelt mit einem brutalen Konsum.»
Zusammen mit seiner Frau Lélia Salgado hat er auf seiner Familienfarm in Brasilien zweieinhalb Millionen Regenwaldbäume pflanzen lassen, hat aus dem versteppten Gelände einen wogenden Wald geschaffen, den er dem Staat als Nationalpark schenkte. Mit seinem Instituto Terra kämpft er weiterhin für die Wiederaufforstung verbrannten Geländes.
Wim Wenders hat zusammen mit Salgados Sohn Juliano einen großartigen Dokumentarfilm gemacht über Salgados Reisen in die Finsternis und über den verschenkten Nationalpark. «Das Salz der Erde» ist ein Film, der einem das Herz zerreißt und es in dem großen neuen Wald wieder zusammenwachsen lässt.
Georgia O’Keeffe, 1887–1986, eine der bedeutendsten und für mich in ihrer EigenWilligkeit faszinierendsten Malerinnen des letzten Jahrhunderts, lebte viel und oft und schließlich ganz in New Mexico und entdeckte dort eine sehr eigene Schönheit: «Als ich gebleichte Knochen in der Wüste fand, nahm ich sie mit nach Hause. Ich benutze diese Dinge, um auszudrücken, was für mich die Weite und Schönheit der Welt ausmacht, in der ich lebe. Für mich sind diese Knochen lebendiger als lebende Tiere; sie deuten auf etwas, das in der Wüste lebt, obwohl sie leer und unberührbar ist – und bei aller Schönheit keine Gnade kennt.»
Fast surrealistisch muten die beklemmend heiteren Knochen- und Skelettstudien an. Durch löchrige, bleiche Beckenknochen leuchtet ein azurner Himmel. Gerippe trocknen im weißgelben Sand. In toten Augenhöhlen rasten kitschige Stoffrosen.
Der Engländer William Morris, er lebte von 1834 bis 1896, hat sich während der Industrialisierung, in Zeiten des erbarmungslosen Elends, der Schönheit gewidmet, hat die «Arts and Crafts Movement» begründet, die ein Vorläufer des Jugendstils war, hat neben handgefertigten Möbeln die schönsten, heitersten Motive für Stoffe und Papiere entworfen, die noch heute hergestellt werden. Er war ein kapitalistischer Kleinunternehmer und einer der Begründer der englischen Sozialistenbewegung, dazu berühmter Schriftsteller, Architekt, Designer und Dichter.
In seinem 1890 erschienenen Roman «Kunde vom Nirgendwo» erträumt Morris sich eine ideale Welt, eine Zukunft im 21. Jahrhundert, in der alle Menschen gut, freundlich, wohlgestaltet und gesund sind, zwischen Feldern und Gärten in schönen, großzügigen Häusern wohnen, sich in prachtvoll geschmückten Gebäuden treffen und nur arbeiten, was sie mögen und können. Es gibt keine Armut, kein Verbrechen, keine Regierung, keine Polizei, kein Gericht. Die Vergangenheit ist ein böser Spuk. Die Gegenwart ein heiteres Elysium.
Schönheit und menschliche Anmut waren Morris’ sehnsüchtige Antworten auf luftverpestende Schlote, auf Armut, Ausbeutung und Entrechtung. Als doch leicht abgebrühte Heutige lächelt man vielleicht ob der zärtlichen Hingabe an das Gute in allen Menschen und die Schönheit dessen, was sie bauen, gestalten, genießen – und liest den Roman doch mit einem heimlichen Verlangen nach dem Guten, Schönen und Wahren.
Unsere Aufgabe muss es sein, uns zu befreien,
indem wir den Kreis des Mitgefühls für andere
erweitern, bis alle lebenden Wesen und die
ganze Natur in ihrer Schönheit dazugehören.
Albert Einstein (1879–1955)
Einmal in einem Sommer war ich eingeladen in einen kleinen Gartenpark in einem Häusergeviert, mitten in einer großen Stadt. Es standen Biertische mit weißen Bettlaken auf dem Rasen, es gab Kuchen und Brot und Salate und große Käsestücke auf Holzbrettern. Es gab Sekt und Wein, aber auch Wasser und Cola für die Kinder. Ein wenig unsicher begrüßte man sich, die Corona-Zahlen stiegen wieder. «Bist du zweimal geimpft?» Dann umarmte man sich.
Wir saßen plaudernd auf den Bänken, kleine Gruppen fanden sich unter den hohen Bäumen zusammen, die Kinder tobten, ein junger Hund spielte mit ihnen Fußball, den er begeistert bewachte, Schaukelscharniere knarzten, später knallten ein paar Sektkorken. Hier und da ein Lachen. Viele lächelten froh vor sich hin. Einfach so. Weil es sich fast unwirklich gut anfühlte, hier zu sein. In dieser grünen Idylle, in so freundlicher Atmosphäre, mitten in der Stadt, mitten in der Pandemie, mitten in der Welt, in der zur selben Zeit Waldbrände wüteten, Fluten Menschen mitrissen und ganze Landstriche zerstörten, zur selben Zeit, in der die Taliban in Kabul einmarschierten. «Sie werden mich töten», hatte eine junge Regisseurin vor wenigen Tagen in eine westliche Kamera gesagt. «Sie werden mich fraglos töten.»
An diesem frühen Sommerabend schien der Schrecken ausgesperrt, war das Böse weit weg. Natürlich gab es auch hier Probleme mit Frauen und Männern und Kindern und Jobs, mit Versagensängsten und Neid und Geld. Aber keines dieser Probleme war tödlich. Sie waren vermutlich nicht einmal existenziell. Wir saßen und standen und sprachen miteinander auf einer Insel des gegenseitigen Wohlwollens.
Es ist diese Gleichzeitigkeit von Geschehen, die mich seit je bestürzt. In Oberschlesien holte man die letzte Flasche Champagner aus dem Keller, buk einen Kuchen mit vielen Eiern, feierte Geburtstag – und im nahen Auschwitz wurden Menschen im Vernichtungslager vergast.
Ich sitze zufrieden mit einem Kaffee in der Sonne – und in Syrien wird Giftgas gegen Regimegegner eingesetzt.
Ich mache Ferien am Mittelmeer, gleite glückselig seufzend in die Fluten, in denen Tausende von Flüchtlingen in den letzten Jahren ertrunken sind.
Eine Freundin geht hier seither nicht mehr ins Wasser. «Ich kann nicht mit Toten schwimmen», sagt sie, «ich kann es nicht.»
Vielleicht schwimmt sie ohnehin nicht gern. Vielleicht ist sie sensibler als ich. Vielleicht denkt sie, wenn sie Leid auf sich nimmt, hilft sie den Leidenden, ehrt sie die Toten. «Vielleicht stilisiert sie sich ein bisschen als Empathie-Crack», stichelt ein bissiger Freund. Aber vielleicht fühlt er sich auch unbehaglich, angesichts ihrer Entschlossenheit. Er geht gern mit mir ins Wasser.
Eine Freundin unterschreibt an genau dem Tag einen Vertrag zum Umbau des von den Großeltern geerbten Hauses, in das sie bald einziehen möchte mit ihrer Familie, an dem die russische Armee in die Ukraine einmarschiert, Häuser zerbombt, Straßen zerstört, Menschen tötet.
Am Abend des Tages, an dem die Russen Kiew zum ersten Mal bombardieren, sitze ich in der Oper in Berlin. Die Flugstrecke zwischen den Städten beträgt 1.236,47 km – man fliegt genau eine Stunde und 57 Minuten.
Am fünften Tag des russischen Überfalls bekomme ich Corona. Mein Immunsystem hat aufgegeben, sich zu wehren. Ich sitze in dieser Welt zwischen Krieg und Krankheit und sehne mich nach KrimsKramsÄrger, möchte mich echauffieren über Dämliches.
Am neunten Tag des Krieges blüht der weiße Jasmin auf, der irgendwann eigensinnig entschieden hat, immer im Winter zu blühen, und schickt seinen betörenden Duft ins Treppenhaus, in dem er sicher und geborgen steht.
Ich habe schon erzählt von der Straße in einer ukrainischen Stadt, in der, mitten im Frühling, alle Bäume schwarz waren, verkohlt, verbrannt. Und muss es noch einmal erzählen, weil mir das Bild die systematische Lebensfeindlichkeit eines Krieges auf so unspektakuläre Weise zu zeigen scheint. Man sieht keine Verzweifelten, keine Verwundeten, keine Leichen. Man sieht Bäume ohne Grün, ohne Knospe, ohne Blatt – mitten im Frühling.
Und in meinem Hof blüht die Kastanie.
Schönheit hier, Krieg dort. Ein Widerspruch, den ich nicht zusammendenken kann. Ein Widerspruch, den ich täglich lebe.
Wir müssen uns alle entscheiden, wie wir umgehen mit der Gewalt dort und dem Genuss hier. Wo wir Nachrichten ausblenden, wann wir sie aufnehmen. Wann wir uns vergiften lassen, wo wir uns entgiften. Das Wegfühlen kostet Kraft. Das Hinsehen scheint uns immer wieder zu überfordern. Kann man eine Balance finden? Es ist diese Gratwanderung zwischen Mitgefühl und Selbstrettung, bei der man immer wieder strauchelt, wenn man Nachrichten hört, die Zeitung liest oder auch wenn Freunde krank werden. Ich möchte, wie Silvia Bovenschen, empfänglich sein für «das Leiden der Kreatur» und nicht daran zerbrechen.
Will meine Empfindlichkeit und will sie ummänteln.
Will Wunde und Verband.
Kämpfe gegen meine Verletzbarkeit, um mich zu schützen.
Und kämpfe um sie, um berührbar zu bleiben.
Ich brauche Pausen zwischen den Attacken auf mein schon müdes Nervensystem. Will auch verteidigen, was angegriffen wird: die Lebenslust, das innere Gleichgewicht, die Unbeschwertheit. Dann suche ich Besänftigung, Sinnlichkeit, leuchtende Seelenfülle.
Wie kann ich die innere und die äußere Wirklichkeit verwoben sein lassen und zugleich trennen. Wie das tobende Leben genießen, wenn an so vielen Stellen der Welt der Tod Leben zerstört.
Und immer bündeln sich Angst und Sorgen an der einen großen Wasserflut, dem einen Hunger, dem einen Krieg, dem einen Brandherd. Als könnte unser mentales und emotionales System die Meute der Bedrohungen nicht alle auf einmal wahrnehmen.
«Nicht panisch werden», schreibt eine Freundin, «damit wir weiterhin präzise denken können.»
Auf Instagram postet eine junge Frau einen flammend gelb blühenden Mimosenbaum. «A little beauty in terrible times», schreibt sie.
Schönheit als Trost. Mehr denn je brauchen wir die Obhut der Schönheit, um unsere angegriffene, eingerissene Schutzschicht zu stärken. Deshalb werde ich auch jetzt meine Schönheitslust leben. Es jedenfalls versuchen. Eine kleine Normalität für mich bewahren. Das Gift von Krieg und Tod nicht in jede Freude träufeln, mich trösten lassen, auch um andere trösten zu können. Um im großen energetischen Feld die Balance zwischen zerstörerischer und heilender Kraft zu halten, welt- und lebensbejahende Gedanken ins Universum zu atmen.
Oder versuche ich jetzt nur, mich dafür zu rechtfertigen, dass ich gerade, so zerrissen wie genüsslich, inmitten von Meer- und AgapantenSchönheit sitze?
Jeff Foster, ein spiritueller Heiler mit einer großen Gefolgschaft, bittet darum, auf Gewalt mit Liebe zu antworten, auf Schmerz mit Mitgefühl, auf Wahnsinn mit innerer Wahrheit.
Innere Wahrheit – ist das der Glutkern unserer Kraft? Und kann Schönheit den Weg dorthin weisen?
Schönheit suchen, gestalten, empfinden. Auch und gerade in schwierigen Situationen oder in schreckensvollen Zeiten wie diesen. Denn wenn wir in Angst, Sorge, Entsetzen stecken bleiben und nur sie vermitteln, wenn wir strampeln im Wirbelsturm der negativen Gefühle wie die Fliege im Netz der Spinne, belasten wir dann nicht nur uns, sondern auch die anderen, schwächen sie, statt ihnen Kraft zu geben?
«Und Trost, auch den Trost der Schönheit in die Welt zu schicken», sagt eine Freundin, «hilft einem, sich selbst zu entbittern.»
Immer ist Schönheit eine Reflexion unserer inneren Kometenbahn, auf der wir tosend durchs Leben und durch Gelebtes stürmen. Mit Kopf und Leib und Lust.
Ein Blick, eine Landschaft, eine Skulptur, Musik oder Malerei, wandern, wenn sie gut sind, durch den ganzen Körper.
Dort, wo ich herkomme, gab es die Landschaft, den weiten Blick auf den großen Fluss, aber es gab keine Körper, durch die die Schönheit hätten wandern können. Erst als ein Freund meiner Schwester erstaunt bemerkte: «Dass ihr euch nie umarmt …», wurde ich kurz aufmerksam, spürte die Körperlosigkeit dieser Figuren, die hier Familientheater spielten. Fieberhaft vergrub ich den Satz des Freundes und die Ahnung der Bedürftigkeit. Dort, wo ich herkomme, hielt man sich Berührungen im wahrsten Sinne des Wortes vom Leibe.
Als das Kind krank wurde, der Hüftkopf aus dem Becken gekippt war und es unter elenden Schmerzen litt, haben die Eltern die schon fast erwachsene Schwester herbeizitiert, um sich zu kümmern, weil sie selbst ihre Ferien nicht unterbrechen wollten.
Eines Nachts hat das Kind, das ich war, die Schwester angefaucht, weil sie nicht schnell genug auf sein Klingeln in seinem Zimmer erschienen war. Wütend gab sie mir eine Ohrfeige – was für ein warmblütig lebendiger Akt! Sie hatte die Beherrschung verloren, das Netz zerrissen, uns beide für Sekunden aus der Körperlosigkeit befreit. Ich war empört und erlöst. Ohne zu ahnen natürlich, warum mich dieser Backenschlag so glücklich machte. Ihre scheinbare MitLeidLosigkeit war tatsächlich leidende Hilflosigkeit.
Das Kind blieb unbeweglich im Bett – wo es im Sommer, im Herbst, im Winter, im Frühling und auch noch im nächsten Sommer lag. Danach hatschte es als hinkendes, einsames, in Krankheitsspeck eingepacktes Mädchen durch die Tage. Fast zwei Jahre konnte es nicht zur Schule gehen, es konnte nicht schwimmen, nicht radeln, erst nur mit Krücken, später an Stöcken laufen, bevor es auch die weglassen konnte. Das Gehen wurde nie geschmeidig, wurde kein selbstverständliches Gleiten der Gelenke, sondern blieb ein hässlich sperrendes Stocken. Jeder Schritt wurde von einer abrupten Bremsung unterbrochen, bei der eine Hinternhälfte unelegant nach oben schnellte.
Manchmal kicherten die anderen Mädchen hinter meinem Rücken.
Lange hatte ich keine Freundinnen. Nur die Familie. Einmal schenkten mir meine Geschwister zum Geburtstag einen Kleiderbügel, auf dem Dicke stand. Der hing nun in meinem Schrank und sah mich an. Tag für Tag. Immerhin hatten sie nicht humpelnde Dicke auf den Bügel getuscht.
Als ich zu Weihnachten einen Kanarienvogel geschenkt bekam, öffnete mein Bruder mutwillig die Tür des Käfigs, und der kleine Vogel flog mit Schwung auf dem Weg ins Freie gegen die große Fensterscheibe. Er war auf der Stelle tot. Dann ging man zum Essen. Es gab Puter.
Als eine Mitschülerin mich einlud zu sich, hieß meine Mutter mich, ihr eine Postkarte zu schreiben und sie zu bitten, zu uns zu kommen. «Dann könnt ihr im Park spielen und schwimmen», rief sie. «Hier ist es doch viel schöner.»
Ob die so ins Patrizierhaus mit Privatschwimmbad Geladene kam? Ich weiß es nicht mehr.
Manchmal durfte das Kind – auf dem elterlichen Ehebett hockend – zuschauen, wie die Mutter sich zurechtmachte, sich schön machte, um am Abend auszugehen. Mal trug sie ein elegantes schwarzes Kleid aus Samt mit einem seidenen Revers, mal hing ein mit Hunderten von glitzernden Perlen und Pailletten besticktes Abendkleid auf dem Bügel am Schrank. Die passend eingefärbten Seidenschuhe, auch sie mit Perlen bestickt, standen daneben, während sie noch an ihrem Schminktisch saß und sich Nase und Wangen puderte, die Haare toupierte und zupfte und schließlich Parfum auf sich und, zu meinem Entzücken, in den Raum sprühte. Sie legte eine Kette an, Ohrringe, Armbänder. Alles glänzte und roch festlich.
Wenn sie gegangen war, klaubte das Kind heimlich die Pfennige und Groschen aus allen ihren Hand- und Rocktaschen.
Es gab lange SommerNachmittage auf dem großen Rasen, es gab Erdbeeren, Kirschen, Himbeeren und Brombeeren im Obstgarten, Abendessen auf der Terrasse mit Blick auf den breiten Fluss, friedliche Stunden im Pferdestall, auf der Krippe hockend, bei den gemächlich kauenden Tieren, die mich geduldig dort sitzen ließen in dem weichen Geruch ihres gestriegelten Fells, dem leisen Schnauben.
Und drinnen, im Haus, mein Kinderzimmer?, frage ich die Erinnerung. Da schweigt sie lange. Angeblich hat die Familie oft oben im ersten Stock bei dem kranken Kind im Zimmer gegessen. Aber die Erinnerung sieht einen großen runden Tisch, der leer ist. Es tauchen im Nachsinnen keine Eltern, keine lärmenden Geschwister auf im matten Krankenraum.
Wahrheit und Erinnerung – sie streiten und versöhnen sich, und vielleicht schummeln sie beide.
Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg,
aus dem man sich nicht allein befreien kann.
Tove Ditlevsen (1917–1976)
Meine Kindheit ist wie ein Wespennest, von dem immer mal wieder fiese Viecher ausfliegen, mich suchen, finden und stechen.
Atmen. Einatmen, ausatmen. Atmen. Man soll ja auch nicht die Luft anhalten, wenn der Rücken schmerzt, sondern hineinatmen in die Pein, um die Muskeln zu entkrampfen. So ist es auch mit dem Lebensschmerz. Wahrnehmen, einatmen, ausatmen.
Ich träume.
Mal wieder bin ich auf der Suche nach Schönheit. Die nur, so heißt es, in Taschkent zu finden sei. Da ich geographisch unkundig bin, weiß ich natürlich nicht, wo Taschkent liegt – irgendwo in VorderAsien halt –, wie soll ich mich da auf den Weg machen?
Es gelte, Zeichen zu folgen, heißt es im Traum. Unter anderem müsse ich 24 Sonderausstellungen besuchen, sie richtig lesen, sehen und verstehen.
Vermutlich habe ich den Weg nicht gefunden, die Schönheit am Ende nicht angetroffen – das wüsste ich wohl noch. Vielleicht irre ich ja immer noch im vorderen Asien umher.
Während mein Alter Ego in Taschkent nach der Schönheit sucht, werfe ich mich – ich brauche Erholung – mit Verve ins Blau des Himmels, der Kornblume, der Gemälde von Yves Klein und in die wunderbare Frage von Pablo Neruda:
Wer alles schrie vor Freude,
als das Blau geboren wurde?
Pablo Neruda (1904–1973)
Das Meer, das Grün, die Kornblume? Der scheue Enzian? Der dämmernde Morgen, das Veilchen, die fallenden Schatten der nahenden Nacht? Die Pflaume, der August, der Rittersporn, der Fasan? Lavendel, Hanf, Rosmarin? Die eitle Sonne, weil sie sich schöner ausnahm denn je vor dem Blau?
Natürlich und vor allem schrie der Himmel, als endlich das Blau geboren wurde. Ein gewaltiger Urschrei hallte durch die Welt und ließ die Erde erzittern, Berge einstürzen und Vulkane Lava spucken. Flüsse stiegen aus ihren Betten, überfluteten Täler und leckten sich hügelwärts. Hunde und Ziegen flogen durch die Luft und schwammen auf dem Meer; entwurzelte Bäume suchten Zuflucht im Himmel und die Menschen, weil sie schneller rannten, als die Wolken zogen, verloren den Boden unter den Füßen. Alle Kreatur geriet in heillose Verwirrung, als der Himmel schrie vor Freude darüber, dass er nun blau war.
Zuvor nämlich, so sagt es die Legende, habe der vergessliche Schöpfer den Himmel farblos gelassen. Ihn allein. Zärtlich und deftig habe der Erdenmaler aus seinem kosmischen Farbkasten die Welt eingefärbt. Grasgrün und hasenfellbraun, moos- und fichtengrün, steingrau, maus- und elefantenhautgrau, schlammgrau, zitronen-, sonnen- und sandgelb; lehmrot, mohnrot, blutrot, rosenrot, feuerrot und schneeweiß. Aber: Kein Pinselstrich für den Himmel. Kein göttlicher Farbhauch. Und überhaupt nirgendwo Blau.
Warum der Schöpfer das Blau vergessen hat, darüber denken nun schon Generationen von Psychologen nach. Warum kannte Gott kein Blau, oder warum wollte er es nicht kennen? Weil es die Farbe der Sehnsucht ist, die Farbe der Dichter und der Melancholie? Die Farbe des Morgens und des Abends, des Anfangs und des Endes. Sind Alpha und Omega blau? Fürchtete der Schöpfer das Blau, weil es ihn mächtiger dünkte als alle anderen Farben?
Wurde es womöglich gegen seinen Willen geboren? Ist es Teufelswerk? Ein Teufelsblau, das den Himmel einfärbt?
Meine Freundin Louise ist sich dessen gewiss. Wenn im Flugzeug der Moment kommt, der immer kommt, wenn der Pilot sagt, man habe die Reisehöhe von 10000 Metern erreicht und könne auf der linken Seite den Genfer See sehr schön sehen, dann schaut Louise nicht nach unten, sondern nach oben, wo nichts ist als dieses ausweglose Blau, das sie so liebt und so fürchtet. Sie zieht ihren Sitzgurt ein wenig fester und fragt sich, ob heute der Pilot im Cockpit sitzt, der eines Tages fraglos dort sitzen wird und – magisch angezogen von diesem Blau, ihm ausgeliefert wie sie – weiter und weiter steigen wird, immer näher heran an das Blau, das unerreichbar bleibt. Eines Tages, das weiß Louise, wird sie im Himmelsblau ertrinken.
Mag das Blau nun göttlich oder teuflisch sein, gewiss ist Folgendes: Als das Blau auf neunhundert geflügelten Mauleseln daherkam und auf dem Rücken von zehntausend Ameisen, als Drachen nicht länger Gift ausspien, sondern Blau, als Hähne blau krähten und Hunde blau bellten, als Kühe und Ziegen es in ihren Eutern trugen und die Rede der Menschen sich blau färbte, als, in anderen Worten, das Blau geboren wurde, da griff der Himmel zu und nahm sich das Blau, so viel Blau, wie er nur kriegen konnte.
«Das ist es ja», sagt meine Freundin Louise. «Zu viel Blau. Blau ohne Ende. Es schwindelt einem, wenn man hineinschaut. Man verliert sich. Wie in der Liebe. Blau», sagt Louise, «Blau ist meine Farbe der Angstlust. Es ist unerbittlich», sagt sie.
Und ohne Wolke ist das Himmelsblau auch noch ohne Geheimnis. Ihr Blau ist bleicher, matter, zärtlicher. Es färbt Stunden, Abendlicht und ferne Hügel. Ist das Blau der Romantik, des Eros und der Sehnsucht. Ein Schattenblau.
Blau ist mehr als eine Farbe. Blau ist viele Farben. Aber Blau ist auch Gefühl, Lust, Provokation und Klang. Friedrich Nietzsche hat über die Ouvertüre zu «Lohengrin» geschrieben, dass die Musik, die Aura des Grals, «blau, von opiatischer, narkotischer Wirkung» sei.
Auch die Phantasie ist blau. Jeder Mensch hat seine Phantasien, und jeder hat sein Blau. Der Künstler Yves Klein hat, zusammen mit dem Pariser Apotheker Adam, lange nach seinem Blau gesucht. Es durfte weder wie Ölfarbe glänzen noch die poröse Mattigkeit des Pastells aufweisen. Es sollte leben und blenden. Und er hat es gefunden, hat sich sein Blau erfunden: ein samtenes, sattes, glühendes, leuchtendes Blau, nicht meer-, nicht himmel-, nicht lilienblau; ein reines Blau, das an Giotto wie auch an Cézanne erinnert, sinnlich ist und hart zugleich, das Auge lockt und in der Iris schmerzt. Ein Blau wie ein Rausch, das die Menschheit sensibilisieren sollte. Stolz taufte Klein die Erfindung: IKB , Internationales Klein Blau.
Man sollte seine Bilder nicht nur anschauen, sondern in ihnen die eigene Empfindsamkeit entdecken. Entscheidend war nicht, was man sah, sondern was man spürte. Und so stellte er 1957 elf identisch eingefärbte Leinwände aus und bot sie zu unterschiedlichen Preisen an.
Mätzchen seien das, schimpften die einen, von Magie schwärmten die anderen. Klein selbst war vielleicht ein Spieler, aber er glaubte an sein Spiel. Er glaubte mit der naiven Besessenheit eines überzeugten Scharlatans an die Macht des Guten und des Schönen. Dafür kämpfte er, darum betete er sogar. Vor einer großen Ausstellung in Paris schrieb er in sein Tagebuch:
«Gott. Allmächtiger Vater, mit meinem Glauben bitte ich Dich, … mir die Anwesenheit des Heiligen Geistes in der Galerie während der Ausstellung zu gewähren.»
Alle, so wünschte er sich, sollten in «eine neue und große Welt-Zivilisation der Schönheit eintreten».
Klein träumte von der Rückkehr in den Garten Eden und suchte die kosmischen Energien, die ihm den Weg dorthin weisen würden. Mit dem absoluten Blau meinte er, die Richtung gefunden zu haben. Wer sich der blauen Energie hingebe, sei auf dem Wege. «Die Seele zu fühlen und diese Empfindung ohne Vokabular darzustellen – diese Sehnsucht ist es wohl, die mich zur Monochromie gebracht hat.»
Dort, wo ich herkomme, hätte man Yves Klein mit einem sarkastischen Lächeln als Irren abgetan. «Was soll denn werden aus unserer Welt», hätte der Vater indigniert gerufen, «wenn man solche Leute ernst nehmen wollte.»
Er ahnte wohl nicht, dass wir Wirklichkeitswirbler brauchen, die zweifeln an der Wahrheit der Welt und die das Verlangen treibt, Fesseln zu sprengen, Sinnliches und Übersinnliches zu vermählen, der Menschheit die reine Schönheit zu offenbaren, die Angst vor dem Mysterium zu überwinden, sich der Freude zu öffnen.
Vielleicht hätte ein Phantast wie Yves Klein die Mutter befreien können, die immer fröhlich sein musste und keine Freude lebte. Ach, diese Mutter, die so schön war, so charmant und so viele bezauberte. Sie liebe das Leben, rief sie gern, denn das Leben sei schön. Sie schien so fröhlich. So eingelebt ins Sein. So selbstverständlich zu Hause in ihrem Luxus. Lag in der Sonne, schrieb Briefe, viele Briefe, aß Pralinen, las alle Bände von «Angélique», las «Vom Winde verweht» und jeden Tag die Bibel.
Und schlug sich im Alter, als Bewunderung und Beifall sie nicht mehr umwehten wie eine zärtliche Sommerbrise, mit verzweifelter Kraft den Kopf an die Gartenmauer, um die Beulen herzeigen und weinend erzählen zu können, sie sei überfallen worden.
Zerkratzte sich mit hart lackierten Nägeln den Hals, bis er Striemen hatte, und beschrieb atemlos, wie ein Mann in dunkler Nacht ihr Auto gestoppt und versucht habe, ihr die zweireihige Perlenkette vom Hals zu reißen.
Sie simulierte Krankheiten, um den Arzt zu sich zu holen, den sie mit Brötchen, Keksen und Kaffee ausgiebig bewirtete. «Er ist mein einziger Freund», sagte sie.
«Aber du bezahlst ihn doch.»
«Er liebt mich. Er ist da für mich. Er ist mir treu.»
Und der treue Freund aß nicht nur die kleinen Sandwiches, die sie ihm hatte bereiten lassen, er steckte auch die kleinen silbernen Teller ein, auf denen sie ihm gereicht wurden. Das machte er, so hat man es sich später erzählt, bei allen alten Damen so. Starb dann selbst allerdings plötzlich und noch jung und bevor er am eigenen Tisch elegant vom eingesteckten Silber hätte essen können.
Wahrheit lässt sich nicht zeigen, nur erfinden!
Max Frisch (1911–1991)
Die Mutter erfand Leiden, um getröstet zu werden. Sie erfand selbst im hohen Alter noch Liebhaber, um bewundert zu werden. Der letzte war ein Finne.
Mit Leidenschaft phantasierte sie sich ein Leben, das sie nicht hatte. Hungerte nach Erfüllung und Gefühlsrausch und erstickte fast (wie ich in jungen Jahren) im heimischen Konventionskorsett. Täglich neu geschnürt. Atemholen unerwünscht. Hin und wieder kamen Blumensträuße oder Pralinenschachteln von Verehrern. Dann glühte sie, die so viel mehr gebraucht hätte, als sie bekam.
Atmen. Einatmen. Ausatmen, Atmen. Ruhe atmen.
Als ich am Sterbebett der Mutter saß und ihr beim Schlafen zusah, durchzog mich ein Schmerz darüber, dass wir beide eingesperrt geblieben waren in unseren abgerichteten Fühlstrukturen, in überlieferten Mustern. Beide hatten wir es nicht geschafft, uns zu befreien, hatten stattdessen, so hilflos wie gefällig, als gefangene Vögel in der Voliere die Welt jenseits des Gitters angezwitschert.
Es gibt nicht nur das Schwarze Loch, sondern auch das Schwarze Licht, eine Ultraviolettstrahlung, die das menschliche Auge nicht wahrnehmen kann. Hell und Dunkel sind nicht absolut. Immer ist in dem einen ein wenig vom anderen. Der Schatten kann nicht sein ohne das Licht. Ohne das Licht zu kennen, könnten wir das Dunkel nicht benennen.
Der englische Schriftsteller Edward St. Aubyn erzählt in einer Trilogie von seiner finsteren Kindheit in feinen britischen Adelskreisen. Er wurde vergewaltigt von seinem Vater und von seiner Mutter willig dem Ungeheuer überlassen. Statt den eigenen Sohn zu schützen, trat sie dem Kinderschutzbund bei und engagierte sich für fremde geschändete Kinder. In einem der Romane gibt es Szenen, in denen der inzwischen erwachsene, der Drogensucht entkommene, aber immer noch fragile Sohn sich fürsorglich seiner Mutter zuneigt, sich aufmerksam kümmert um sie.
«Wieso», habe ich St. Aubyn gefragt, «ist der Sohn so liebevoll mit der Mutter, die ihn doch schmählich verraten hat?»
Da hat mich der English upperclass -hübsche Mann freundlich und fast ein wenig mitleidig angesehen und gesagt: «Einer muss doch lieben.»
Vielleicht hat er ja recht. Vermutlich hat er recht. Man kann erst heilen, wenn man verzeiht. Wenn man nicht nur den Schatten wahrnimmt, sondern auch das Licht darin. Vielleicht liegt ja wirklich die Schönheit der Zuwendung auch in der Freiheit, die sie dem Gebenden schenkt. Das kann nicht die Raupe. Das kann nur der Schmetterling. Der gelernt hat zu fliegen und flügelwippend am Nektar zu saugen.
Als ich am Sterbebett der Mutter saß, konnte ich ihr zum Glück von Herzen eine gute Reise wünschen.
Der Mensch, hat der Schriftsteller Hans Sahl oft traurig gesagt, könne nicht das Endprodukt der Schöpfung sein. Wir sind fehlbar, unvollkommen – und hören vielleicht zu selten den Ruf der Schönheit, den Cheng so dringlich formuliert. Ein Ruf, der in fernen Tälern verhallt. Bis endlich einer lauscht und antwortet, indem er einen Tanz choreographiert, einem Unbekannten seine Hilfe anbietet, ein Poem schreibt, ein Bild malt, einen Film macht, sich schön anzieht im Krankenhaus, Anmut in den Alltag trägt und uns matten Tumben eine Brücke baut zur rufenden Schönheit der Welt.
Der Schönheit hingegeben, der Schönheit ausgeliefert bis zur seligen Besinnungslosigkeit oder einem tiefen Erschrecken. Beruhigung und Gefahr kichern gemeinsam, wenn Schönheit uns überfällt.
Einmal haben wir zu dritt nebeneinander auf einer Bank am Meer gesessen. Und in die sinkende Sonne geschaut, die sich in ihrer gewaltigen Schönheit ein wenig prahlerisch spiegelte im Wasser, als wollte sie sich selbst ergötzen an ihrem Bild. Jede von uns dreien, die wir dort dicht nebeneinandersaßen, hat aus tiefer Seele geseufzt. Jede sah ihre Schönheit, sah ihr Glück, ihren Kummer, ihre Sehnsucht. Jede hatte ihren Grund, in dieser Schönheit zu seufzen.
Schönheit ist immer wieder schwer zu entziffern in ihren so widersprüchlichen Bedeutungen und Botschaften. Ausgerechnet eines der Inbilder der Schönheit, Narziss, Sohn des Flussgottes Kephissos und der Wassernymphe Leiriope, den viele vergeblich begehrten, muss sterben, als er sich in sein Spiegelbild verliebt und begreift, dass er selbst es ist, der ihm aus dem Wasser entgegenlächelt. Es hatte ihn eine Liebe erfasst, die unerwidert, die unersättlich bleiben musste.
«Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.»
Auch das ungeheure Ausmaß der Schönheit kann uns vernichten. Der Pianist Menahem Pressler fiel nur in Ohnmacht, als er Beethoven spielte. Aber Semele, Tochter der Harmonia und des Königs von Theben, Geliebte von Jupiter, muss sterben, als dieser – verzweifelt – ihrem leidenschaftlichen Wunsch nachkommt, ihn einmal in seiner ganzen unverhüllten Pracht zu sehen. Sie wird von seiner flammenden Schönheit zerstört.
Ich verstehe nichts von Musik – aber die Arien in Händels Oper «Semele» sind so schön, dass sie einen tief ins Glück und zugleich ins Unglück stürzen.
Manchmal versuchen wir, die Gefahr der Schönheit zu bannen, und sagen: «Zu schön, um wahr zu sein», wenn wir hinter wogenden Halmen eines Weizenfeldes einen mäandernden Fluss entdecken oder eine grandiose Küstenstraße entlangfahren. Dann nennen wir Schönheit vorsichtshalber unwirklich, surreal, weil, was nicht ist, uns nicht zerschmettern kann.
Schönheit kann unheilvoll sein für den, der sie empfindet, der riskiert, überwältigt oder – wie Semele – gar getötet zu werden. Aber Schönheit sendet antagonistische Botschaften, ist mal bedrohlich, mal befreiend. Kann eben auch innere Fesseln lösen in dem, der sie schaut, hört, liest. Dann malt Schönheit Traumpfade, auf die man vorsichtig einen Fuß setzt und dann den anderen, sich entfernt aus der eigenen Gegenwart und auf den Weg macht zu einem Woandershin. Dann lässt Schönheit Hoffnung aufscheinen, Neues zu erleben, Lustvolles zu leben. Weil die Phantasie zum Schmetterling wird, der zum Blütennektar fliegt. Es gibt aber auch Schmetterlinge, die Schweiß von Säugetieren saugen oder deren Tränenflüssigkeit trinken. Aber schon gerate ich wieder auf Abwege. Darum geht es hier jetzt nicht. Sondern darum, dass Schönheit den Möglichkeitssinn schärft, Luftbilder zaubert, die erzählen von Schlupflöchern und Chancen der Flucht aus gewohnten Strukturen.
Und genau dadurch wird Schönheit für ein politisches System gefährlich, das auf Unterdrückung gründet. Tyrannen müssen Schönheit ausmerzen. Weil der verordneten Gleichschaltung des Denkens entkommen könnte, wer auf einmal bemerkt, dass ein gläserner Briefbeschwerer – korallen schimmernd – schön ist; wer spürt, wie die Luft die Haut küsst, wie Winston Smith es tut in George Orwells großartigem Roman «1984», der das nahtlos überwachte Dasein in einem totalitären Staat beschreibt. Jede Geste, jedes Atmen, jede Mimik am Arbeitsplatz oder im häuslichen Zimmer werden registriert. Privatsphäre gibt es nicht. Big brother is watching you. Immer. Überall. Das Essen schmeckt scheußlich, der Gin ölig, alle tragen die gleichen Blaumänner, Sprache wird so verstümmelt und versimpelt, dass der Mensch mit und in ihr sein Denken und Fühlen verliert.
Winston Smiths Weg in die Auslöschung beginnt in einem Trödelladen, wo er ein wunderschönes Notizbuch ersteht und beginnt, Tagebuch zu führen, ketzerische Gedanken aufzuschreiben. Eigene Gedanken.
Wer anfängt zu träumen muss unverzüglich eingefangen werden. Schönheitsempfindungen unterwandern das Einheitsdenken. «Anything … beautiful, was always vaguely suspect», heißt es bei Orwell.
So war es wohl auch in den osteuropäischen Diktaturen. Alles – fast alles – grau in grau, die Lust am Schönen systematisch unterdrückend. Denn, so sagt es Herta Müller in dem wunderbaren Gesprächsbuch «Mein Vaterland war ein Apfelkern»:
«Die hässliche Gleichheit drückt aufs Gemüt, macht apathisch und anspruchslos, das wollte der Staat … Lebensfreude macht die Menschen spontan, also unberechenbar.»
Fundamentalistische Gedankenkerkermeister können die Freiheit des Sehens nicht erlauben, die Lust am Schönen. Sie müssen das Schöne, das Lachen, die Heiterkeit auslöschen. Deshalb zerstören sie Kunstwerke, morden junge Menschen in Cafés und Bars und Clubs, wollen die Freude aus der Welt schießen.
Freude und Schönheit sind subversiv. Ein FrohSein, das man in sich spürt und nach außen trägt, ist schwer zu beherrschen. Der Untertan könnte vom Dunkel ins Licht steigen und gar die Freiheit haben wollen, zu träumen, zu fühlen, zu begehren. Das dürfen nur die Herrscher, die sich alles nehmen, alles verlangen für sich.
Bis heute bauen sich Tyrannen oder Autokraten ProtzPaläste, in ihren Augen wohl Schönheiten, tatsächlich aber Stein gewordene Allmachtsphantasien und Potenzattitüden. Als wollten sie Vergänglichkeit leugnen und stolze Ewigkeit einfordern, nur für sich. Tatsächlich treibt wohl auch sie die Furcht vor dem Wandel, der existenziellen Verletzbarkeit, der Endlichkeit. Vor der Wirklichkeit. Es zeigt sich in solchen Trutzbauten auch die Angst der Tyrannen.
Weil Schönheit immer wieder andere bedroht, ist sie selbst gefährdet. Ist dem Zerstörungswillen ausgesetzt. Nicht nur dem von Diktatoren. Ihr Leuchten kann verunsichern, überwältigen oder auch Abwehr provozieren, bis hin zur Gewalt. Wenn Verwirrte meinen, sich gegen den schimmernden Glanz verteidigen, sich behaupten, stärker sein zu müssen.
Beauty is perhaps a dangerous possession.
Agatha Christie (1890–1976)
Judith Hermann erzählt in ihrem großartigen Roman «Daheim» eine haarsträubende Geschichte. Fischer haben eine wunderschöne Nixe gefangen und an Land gebracht. Und «haben ihr die Schuppen einzeln ausgerissen, sie haben sie vergewaltigt, geschlagen, getreten. Alle nacheinander, noch mal von vorne. Sie hatten so etwas Wunderbares wie diese Nixe nie zuvor in ihrem Leben gesehen, und es ist ihnen nichts anderes eingefallen, als das kaputt zu machen.»
Die Nixe war fremd, sie war halb eine Frau. Sie war schön.
Auch Lucretia, im sechsten Jahrhundert vor Christus für ihre Schönheit berühmt und für ihre Tugendhaftigkeit, musste geschändet werden. Eines Nachts wurde sie von Sextus Tarquinius, einem entfernten Verwandten ihres Mannes, vergewaltigt. Aus Lust auf die Beute oder reiner Zerstörungslust? Wer will das unterscheiden.
Zwar vergaben Vater und Gatte der Lucretia und beschuldigten allein den Gewalttäter. Doch Lucretia konnte nicht leben mit der Schmach und tötete sich, «stieß sich einen Dolch, den sie unterm Kleide verborgen gehalten, ins Herz» – so steht es in den «Römischen Sagen».
Schriftsteller, Komponisten, Maler haben die Tragödie der Lucretia erzählt, vertont, gemalt. Lucas Cranach der Ältere malte Lucretia nackt. Mit einem hauchzarten Schleier über die herrlichen Schenkel gerafft, der nichts verdeckt, sondern alles enthüllt: nicht die Nacktheit des Todes, sondern die Nacktheit des Leibes. Aufgelöstes rotes Haar, dereinst – als sie noch tugendhafte Gattin war – gewiss züchtig gezopft, umfließt die Entblößte. Jetzt hat sie nichts mehr zu verlieren. Die Ehre ist hin, der Tod ist nahe, und sie will noch einmal als Frau triumphieren, noch einmal das zerbrochene Selbst im Tod wiederfinden, das zerbrach, als sie vergewaltigt wurde.
Cranachs Lucretia ist Inbild des lockenden Weibes. Ganz anders Dürers bittere Dame, die sich lustlos demselben Procedere ergibt. Früher einmal hingen beide Bilder in einem Raum der Alten Pinakothek in München. Cranach malte die Schönheit, Dürer die Schmach.
War Lucretia eine Frau, die zu schön war, um leben zu dürfen? Weil sinnlich schöne Weiblichkeit ewig bedrohlich ist und ewig bedroht?
Schönheit ist nicht nur in manchen Momenten schwer zu ertragen, weil sie überwältigend ist, vergänglich ist, uns erinnert an unsere Zukunft als Erdenstaub, sie kann auch trügerisch daherkommen.
Vor einer Weile ist mir ein Bild in einer Zeitung aufgefallen, das mich auf den ersten – naiven – Blick bezauberte. Ein blau schimmerndes Landschaftsgemälde aus Wasser, Eis und Bergen. Als habe die Hand eines Künstlers kleine und große Eisinseln malerisch ins abendliche Meer getaucht und dahinter Berggipfel gesetzt. Tatsächlich war es das Foto einer Katastrophe. Es erzählte von schmelzenden Eisschilden auf Grönland, von schwimmenden Eisplatten, die – abgesprengt vom Gletscher – wie verlorene Fragmente im Wasser trieben. Ein Bild über die dahingeschmolzene Lebenskraft der Natur und ihrer unheilbaren Zersplitterung.
Im Dezember 2022 wurde Katja Petrowskaja mit dem Menschenrechtspreis der Gerhart und Renate Baum-Stiftung ausgezeichnet. Und erzählte von einem Instagram-Video, das sie vor einer Weile fasziniert angesehen hatte. Viele strahlende, glitzernde Sterne fielen in einer Endlosschleife vom Himmel.
So viel Schönheit – die eine grausame Wirklichkeit maskierte. Die so zauberisch fallenden Sterne waren ein Bombenregen. Das Video, so Petrowskaja, zeigte eine Brandbombe aus Magnesium, die international geächtet ist. «Sie erzeugt ein riesiges Feuer, das man kaum löschen kann. Sie besteht aus 180 Teilen, und dadurch entsteht dieser ‹Regen›, der ungefähr zwei Minuten lang dauert – ideal für ein Instagram-Video. Der Himmel leuchtet. Danach brennt die Erde.»
«Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.»
Immer wieder gibt es schöne Bilder, die Zerstörung und Grauen, Katastrophen und Kriege, Gewalt oder Armut zeigen. Und immer wieder fragt man sich: Wo kippt die Botschaft?
Manchmal entdeckt man, wie wir gesehen haben, die Schönheit hinter dem Vorhang aus Schmerz. Dann hilft mir in meiner Traurigkeit ein Blick, eine Meise, ein Fluss, eine Ouvertüre. Und manchmal sehen wir den Schmerz nicht hinter der Schönheit. Übersehen ihn womöglich, wenn unser Blick nicht «unter der Aufsicht von Vernunft und Gewissen» steht, wie Susan Sontag es nennt in ihrem Essay «Das Leiden anderer betrachten».
Der schmutzige, bildhübsche schwarze Straßenjunge in schwarzen Klamotten vor einer weißen Ziegelwand – gibt der Fotograf ihm seine Würde zurück oder ergötzen wir Schauenden uns an seinem pittoresken Elend? Selbst Sebastião Salgado, der sich als «Sozialfotograf» bezeichnet und es fraglos auch ist, muss sich von manchen den Vorwurf gefallen lassen, ein «Ästhet des Elends» zu sein. Und in der Tat sind seine Fotos – etwa von der brasilianischen Goldmine Serra Pelada – von einer verzweifelten Schönheit. Hunderte von Männern, meist nur in Shorts und mit abgewetzten Turnschuhen oder Sandalen bekleidet, klettern auf sehr langen, in die Felswände geklemmten Leitern hinauf an den Rand des Kraters und hinab in das riesige Loch der Mine, in der ausgeschürfte Höhlungen neben Rillen und Bogengängen liegen. Graphisch meisterlich komponierte Bilder, an denen man sich delektieren könnte. Doch der Vorwurf, dass solche Fotografien Elend ausnutzen, statt es anzuklagen, dass sie den Voyeurismus der von Not Verschonten bedienen, scheint mir zu einseitig. Auch wenn uns auf den ersten Blick vielleicht die Schönheit betört, erkennen wir auf den zweiten anderes. Dann wird aus dem KunstBlick ein MenschenBlick, wird aus der SehLust gefühltes Entsetzen, und werden wir Hinsehenden zu beteiligten Betrachtern, die Verantwortung übernehmen müssen für das, was dort gezeigt wird. Dann sehen wir nicht nur die Wirklichkeit, sondern erkennen die Wahrheit dieser grausamen Hölle der Goldmine Serra Pelada.
Susan Sontag warnt vor dem «lasziven Blick» und schreibt, man solle, wenn man solche Bilder ansehe, über die eigene Fähigkeit nachdenken, «sich das, was sie zeigen, tatsächlich anzueignen».
Die Schönheit der Dinge existiert
im Geist, der sie betrachtet.
David Hume (1711–1776)
Die Morgenbrise spüren, die Morgenröte sehen, mich der Schönheit hingeben, die Mysterium ist, Freiheit, Lebendigkeit, Sehnsucht, Rebellion, Herausforderung, Schutz. Vielleicht würden wir tatsächlich ohne Schönheit verkommen. Weil uns nichts mehr leuchtend einbettete in eine Welt, die schenkt, die Ketten sprengt und befreit. Würden mit dem engen Butzenscheibenblick der Lebensängstlichen das Draußen begucken und – schlimmer noch – es genauso gestalten.
Ein bisschen gilt man als naiv, wenn man Schönheit sucht und benennt und schlemmt. Als sei Schönheit eine bourgeoise Verirrung. Oder ein esoterisches Nischenereignis. Eine junge Frau schüttelt erstaunt den klugen Kopf, als sie die bezauberte Freude ihres Mannes sieht über meine Kerzen, meine Blumen, mein buntes Sammelsurium auf dem Tisch. Mitbringsel von Reisen, die dort stehen: kleine bunte Schalen aus Mexiko, eine LeuchtturmKerze von der Insel Hiddensee, kleine Holzkreisel aus einem Spielzeugladen in München, eine Muschel vom Strand auf Long Island, ein kleines Segelboot, selbst gebastelt aus Steinen, Holz und Stoff, das mir eine wunderbare Rügener Buchhändlerin geschenkt hat.
«This makes me happy», sagt der Mann.
«Ich wusste nicht», sagt seine Frau, «dass er so etwas mag.»
Schönheit als philosophische Herausforderung – das mag ja angehen, aber als Alltagsglück? Manche empfinden Schönheit als überflüssige Dekoration des Lebens, die man ebenso gut abschaffen könnte.
Ich glaube, sie irren.