D ie Freundin, die an einem Herbstabend aufgebracht an meinem Tisch saß, ist eine weltkluge Frau. Mit einem geraden Blick für politische und gesellschaftliche Verhältnisse. «Wir sind am Ende», rief sie, «einfach am Ende.»
Ihr Land war politisch, ökonomisch, moralisch gescheitert. Zerrieben durch gnadenlose Machtpolitik. Auch fremden Interessen ausgeliefert. Korruption und Armut grassierten. Und sie fühlte sich ohnmächtig und betrogen. Nach Jahrzehnten des Muts und der analytischen Ermutigung, der Anstrengung, der Gestaltung, der Hilfe und des Mitgefühls durchzog sie profunde, zornige Ratlosigkeit.
«Im Bürgerkrieg haben wir auf Frieden gehofft. Jetzt wissen wir nicht, worauf wir hoffen könnten. Wir haben keine Hoffnung mehr. Wir haben Armut, wir haben Angst.»
Ich saß stumm, angesichts der Kraft ihrer Verzweiflung. Wie sollte ich etwas sagen, die ich privilegiert in einem demokratischen Land lebe – wenn auch mit zu vielen gefährlich schweigenden Demokratiedösern. Wie das Ausmaß des Ruins nachempfinden, den ich zum Glück selbst nie erfahren musste. Wie die Angst vor einem nächsten Bürgerkrieg mitfühlen. Ich war ein schlaffes gesellschaftliches Exemplar, ein politisches Luxuskind im Vergleich zu der krisen- und kriegserfahrenen Freundin.
Und so tat ich, worin ich gut bin. Hatte mit marokkanischen Tellern für uns gedeckt, mit den geerbten alten Gläsern und Silberbesteck vom Flohmarkt, hatte uns Stoffservietten mit prächtigen Blumenmotiven hingelegt. Das Curryhuhn war gelungen, der Wein vorzüglich.
Meine Freundin tobte, weinte, verdüsterte, verstummte. Sie aß und schien nichts zu schmecken, sie trank ohne Genuss. Ihre Zunge war taub vor Kummer. Ihre Sinne gefangen in ihrer Wut.
Aber auf einmal begann sie, die Blüten zu streicheln, die ich in eine flache Schale gelegt hatte. Immer wieder fuhr sie mit sanften Fingern über die feinen, im Licht der Lampe leuchtenden Blumensträhnen. Sie lächelte abwesend.
«Schön», sagte sie auf einmal, «es ist schön bei dir.» Sie schaute sich um, als käme sie gerade erst an. «Es ist tröstlich hier», sagte sie. «Hier zu sein, gibt mir meine Würde zurück. Ich fühle mich als respektierter Mensch.»
Im Anblick der aufbegehrenden und verzagten Frau, die zärtlich meine Blumen streichelte, beatmete uns beide der Trost der Schönheit. Vielleicht waren es 50 Sekunden, vielleicht auch nur 35. Trost ist wie Glück – beides dauert meist nur einen Moment. Aber was für ein kostbarer Moment. Was für ein lindernder Augenblick. Einige wenige gute Herzschläge lang wurde Schönheit zum heilenden Gegengift.
Monate später telefonierten wir. Sie – in ihrem gefährdeten Land, ich – sitzend in meiner Behaglichkeit. Sie renoviere gerade ihre Küche, rief sie ins Telefon. «Es ist verrückt, ich lasse einen neuen Boden legen, male die Wände, leiste mir einen neuen Herd – und weiß nicht, ob es morgen Krieg gibt. Crazy, absolutely crazy. Aber der neue Boden ist schön. Ich schicke dir ein Foto.»
Die eine macht sich schön im Krankenhaus, die andere streichelt Blumen und gestaltet ihre Küche neu, während sie einen Bürgerkrieg fürchtet – beide brauchen Schönheit auch als Selbstvergewisserung, als Anerkennung ihrer selbst und als Schutz für ihre Verletzlichkeit. Weil Schönheit ihnen Würde verleiht. Und Halt gibt.
Als mein Mann im Koma lag, bin ich zweimal in der Woche ins Sonnenstudio geradelt, um nicht bleich und grünhäutig an seinem Bett zu sitzen. Er hätte ja aufwachen und mich so mutlos-fahl sehen können. Ich wollte Haltung bewahren, Würde – und sie teilen mit ihm.
Es gibt zwei Arten des Schönen: In der einen
liegt Anmut, in der anderen liegt Würde.
Marcus Tullius Cicero (106–43 v.Chr.)
Schönheit wird uns nicht erlösen, aber ein Blumenstrauß – und wir reden hier von sterbenden Blumen –, ein liebevoll gedeckter Tisch. Die Schönheit der Gastfreundschaft, die Innigkeit des Zuhörens, des Zusammenseins können uns für Momente lösen aus dem unerbittlichen Griff der Bedrängnis, können Hoffnung wecken, das innere Gemütsgefüge stärken. Carpe momentum . Auch und gerade, wenn Krisen uns schütteln.
Als ich noch dort war, wo ich herkomme, ahnte ich von alldem nichts. Suchte keine Schönheit und keinen Trost. Konnte nicht suchen danach, weil ich nicht wusste, dass es so etwas geben könnte. Dämmerte im Familiennetz mit fast betäubten Sinnen. Schlich wie ein leergewehter Geist durchs Leben. Bin nicht über die Stränge geschlagen, habe mich nicht ausgetobt. Nicht ich. Ich war kein wildes Mädchen. Suchte keine Extreme.
Georgia O’Keeffe schrieb: «Die Ebenen, dieser wundervolle große, weite Himmel, ich möchte so tief atmen, dass ich zerbreche. Ich möchte über alles hinweg, hinaus, es von außen sehen, ich täte es, wenn ich könnte, und wenn es mich töten würde.»
Ich kannte nicht die Angstlust der unbeherrschbaren Neugier. Ich brauchte keine Drogen, um mich zu betäuben. Ich war betäubt. Ich suchte keine Provokation, keine Freiheit, keine selbstbestimmte Ausgrenzung. Wozu auch. Ich war ja ausgegrenzt. War ohnehin auffällig, anders, humpelnd, unzulänglicher als die anderen. Es gab keinen Platz für Neugier, Begehren oder Mut.
Ich war zu lange Raupe. Gerade uns jetzt alten Frauen hat man ja nicht beigebracht, Schmetterling zu sein. Frei und flügge. Im Gegenteil. Es hat die Gesellschaft uns von Kindesbeinen an Kisten gezimmert, in die wir hineinkriechen und dort gefälligst bleiben sollten. Und wehe, wir versuchten, uns Gucklöcher zu bohren oder gar den Deckel zu heben, um selbst in die Welt zu schauen oder ein Bein über den Rand zu schwingen – pfui Teufel, das ist ja ein Mannweib.
Oft waren es ausgerechnet die Mütter, die der Gesellschaft den Hammer reichten, um die Nägel in die Kisten für ihre Töchter (und Söhne) einzuschlagen, oder sie reichten ihren Kindern die Larve, um sich dahinter zu verbergen.
«Du musst wissen», hat die Mutter gesagt, als ich Abitur machte und anfangen wollte zu studieren: «Männer mögen keine Probleme.» In anderen Worten: Sei still, anschmiegsam und geschmeidig. Und bitte hab keine eigene Meinung. Sonst kriegst du keinen ab.
Und als ich dann doch einen abkriegte, und vielleicht aus lauter Angst vor ihrer Warnung mit 19 Jahren den ersten nahm, der mich fragte, einen Mann nahm, den ich gar nicht haben wollte, weil ich noch nicht wusste, wie es sich anfühlt, einen Mann zu wollen, da krabbelte ich von einer Kiste in die nächste. Habe «ja» gesagt, als er mir auf einem Spaziergang einen Heiratsantrag machte, und nichts gefühlt. Außer der Freude darüber, meinen Freundinnen erzählen zu können, ich sei nun verlobt.
Man kann sein Leben nachträglich umdichten. Es sich neu erzählen. So, wie es hätte sein können, wenn die Umstände andere gewesen wären. Ich hätte es auch gern anders gehabt. Will aber nicht umschreiben, was war und wie ich war, das Gewesene nicht mit wohlriechender Essenz besprühen wie meine Pullover im Schrank.
Jede Familiengeschichte ist auch
das private Abbild der Zeitgeschichte.
Herta Müller (geb. 1953)
Da ich nun einen zukünftigen Mann hatte, stand meine ganze Zukunft offenbar fest. «Mein Kind», sagte der Vater, «was musst du studieren, du bist doch jetzt verlobt.»
Der Mann, den ich angeblich heiraten wollte – als hätte ich die Phantasie und die Kraft zum großen Wollen gehabt –, erwartete, dass ich seine Dissertation tippte. Also meldete ich mich von der Uni ab und in einem Schreibmaschinenkurs an. Was sich später übrigens als nützlich erwies, als ich meine und nicht seine Doktorarbeit tippte. Der Verlobte nämlich war dann doch einverstanden gewesen, dass ich weiter studierte – unter einer Bedingung: «Wenn du dich trotzdem pflegst.»
Ich brüllte nicht, entlobte mich nicht, ich blieb still, heiratete und ging zur Universität. «Wenn du dich trotzdem pflegst», sagte der Mann zu mir, dessen Heiratsantrag ich angenommen hatte. Ich ahnte, was er meinte, was er brauchte: eine gut angezogene, eine soignierte Frau, eine zum Herzeigen, die gesellschaftlich adrett an seiner Seite steht. Eine Marionette, an deren Fäden er ziehen könnte.
So eine Frau war ich nicht und wollte so eine nicht sein. «Wenn du dich trotzdem pflegst.» Er wollte eine Frau, wie er sie schön finden würde.
Ist so eine schön?
Meine Freundin V. wird stutzig, wenn ich zu meiner Jacke ein farblich abgestimmtes Tuch um den Hals lege und auch noch die passende rote, blaue oder pinke Brille ins Haar schiebe. «Du bist ja heute fleißig angezogen», sagt sie dann. «Geht es dir gut?»
Sie misstraut der hübschen Norm in der Schönheit. Vermutet, dass, wer sich «fleißig» anzieht, an Gerüsten hämmert, um der eigenen Auflösung Halt zu geben. Sie mag lebendige, vagabundierende Abweichungen, die zu tun haben mit dem eigenen Ich, dem eigenen Gefühl für Schönheit.
Schönheit und Geschmack haben wohl weniger miteinander zu tun als Schönheit und Lebendigkeit. Ob in einem Gesicht, einem Garten oder einer Wohnung.
Die Mutter, die sich so gern eincremte und in die Sonne lächelte, war eine anerkannt schöne Frau. Oder verfielen die Bewunderer ihrer schönen Maske? Hinter der sie sich womöglich verbarg? Wäre sie – innerlich erlöst – wahr und deshalb schöner gewesen?
Über Schönheit, soll Sigmund Freud gesagt haben, habe die Psychoanalyse am wenigsten zu sagen. Was vielleicht nicht so erstaunlich ist, weil man Schönheit meist in der Sphäre des Emotionalen und somit des Weiblichen verortete. Und über das «Rätsel der Weiblichkeit» hat Freud ja bekanntlich immer wieder gesprochen.
Ich finde die alte Frau schön, die gebratene Heuschrecken auf dem mexikanischen Markt verkauft. Ihr zerklüftetes Gesicht ist wie eine Landschaft voller Rinnen und Furchen, eingeschrieben von einem Leben in Sonne und Wind.
Wann sind wir schön? Was lassen wir andere sehen, was sehen wir selbst? Viele von uns jetzt alten Frauen wurden nicht vorbereitet auf uns. Wuchsen auf im Selbstzweifel, uns fremd geblieben. Wir waren auf der Welt, aber wussten nicht, wie und wer wir sein könnten in ihr. Es war ein Aufwachsen, ohne aufzuwachen, ohne geweckt worden zu sein fürs Sehen, fürs Hinsehen und schon gar nicht fürs UnsSehen.
Was braucht es, um Schönheit in anderen zu sehen, und was, um sich das Sehen der eigenen Schönheit zu erlauben?
Immer wieder erzählen Frauen (aber auch Männer) mit leuchtenden Augen davon, in alten Fotoalben geblättert und sich entdeckt zu haben, ihre Schönheit. «Und damals», sagen sie dann erstaunt, «damals habe ich nichts davon gewusst. Ich ahnte nicht, dass ich schön war. Was ich wohl alles verpasst habe …» Aber vielleicht hätten sie auch ihre Schönheit verloren, wären sie sich ihrer bewusst gewesen. Wie der Jüngling in Kleists «Marionettentheater» seine Anmut in dem Moment verliert, in dem er seinen Liebreiz wahrnimmt.
Oft haben Menschen mir ausgerechnet dann gesagt, «du siehst schön aus», wenn ich selbst dachte, wie ein zerzaustes, vom Ast gerissenes Herbstblatt durch die Gegend zu wirbeln, wenn ich mich traurig, kümmerlich, weggeweht und ungetröstet fühlte. Erst viel später habe ich begriffen: Es waren genau die Momente, in denen ich zu schwach war, mich zu vermummen, mein Öffentlichkeitsgesicht aufzusetzen. Momente, in denen mein Gesicht nackt war und ich mich zeigte, so weich und verletzlich, wie ich war.
Es ist ein Wagnis, sich zu zeigen. Aber will man denn ewig im jahrmarktgrellen Kostüm angeblicher Stärke posieren?
To be beautiful means to be yourself.
Thich Nhat Hanh (1926–2022)
Wird ein Gesicht erst schön, wenn es wahr ist? Und wird es erst wahr, wenn der Mensch durch Erschütterungsstürme geschleudert wurde? Wenn sein TäuschungsSelbst dem Ansturm nicht mehr standhält. Brauchen wir Krisen, um uns zu sehen und um uns zu zeigen? Was wird aus uns, wenn wir werden, wer wir sind? Wenn wir nicht mehr so tun, als wären wir unantastbar, vor Schmerz und Niederlage gefeit, kraftvoll und wehrhaft. Sondern das Zarte in uns durchscheinen, unser dünnhäutiges Ich ahnen und diejenigen sehen lassen, die zu sehen gelernt haben.
Im Alter geschieht das fast von allein. Ich habe weniger Kraft für Maskeraden, fordere mir Ehrlichkeit ab und übe mich im Betrachten des faltigen Gesichts, von dem der Spiegel behauptet, es sei meins.
«Das Richtigste ist das Schönste», heißt es im Orakel von Delphi. Was richtig ist für mich, was mich bewegt, was mich aus der Erstarrung löst, ist demnach schön. Also raus aus dem gefrorenen Maskengesicht. Freude zeigen und Schmerz zugeben.
Vor vielen Jahren bin ich an einem sehr frühen Morgen im Bodensee geschwommen. Die Sonne ging gerade auf, und der Mond war noch nicht untergegangen. Rosa Morgenwolken hingen im Blau. Eine sah aus wie ein Xylophon, auf dem ein Riese spielen könnte. Ich schwamm von der Sonne zum Mond und vom Mond zur Sonne. Hin und zurück.
Manchmal hat man Angst, sich angesichts überwältigender Schönheit innerlich aufzulösen, und verwechselt womöglich befreite Gefühle mit bedrohlicher Kraftlosigkeit. In unerbittlichen Zeiten meines Lebens, in denen mein Mann (der II ) krank war und ich stark sein musste, konnte ich in kein Konzert gehen, in keine Oper, konnte keine Musik hören. Ihre Schönheit hat mich wehrlos gemacht, meine schützende Rüstung zerbrochen, meine tiefsten Ängste aus ihren Verstecken geholt, meine Verletzbarkeit ins Freie katapultiert.
Odysseus ließ sich festbinden am Mast, um nicht dem betörenden Gesang der Sirenen nachzustürzen, der ihn unweigerlich in den Tod geführt hätte. Auch ich brauchte einen Mast. Ich durfte nicht hinweggeschleudert werden, meine Kraft verlieren. Konnte es mir nicht leisten, mich aufzulösen in Fragmente. Musste mich schützen.
Nein, angebunden am Mast zu hängen und hören zu können, wäre viel zu tollkühn gewesen für mein leidenschaftlich angstvolles Herz. Lieber Wachs in die Ohren kleben, wie Odysseus es seinen Matrosen befohlen hatte. Taub sein, gar nicht erst verzweifeln können an der Schönheit von Melodien und Klang, die dem Schmerz erlauben würde, sich auszubreiten, sich hineinzufräsen in mich wie ein Sprengsatz, der explodieren will, der explodieren wird. Ich konnte nicht fliehen in die Musik, sondern musste fliehen vor ihr. Zitterte, verkrampfte, verkrallte die Hände ineinander. Wollte nichts hören, nicht weinen, nicht zerbrechen.
Vielleicht wäre es klüger gewesen, den Schmerz wüten zu lassen, die Erschütterung auszuhalten, vielleicht wäre die Explosion auch erlösende Rettung gewesen. Den Mut hatte ich nicht. Nicht das Zutrauen in meine Lebenskraft.
Am 13. Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine war der Fluchtimpuls wieder da. Ich saß in der Philharmonie in Berlin, die Wiener Symphoniker und Vilde Frang als Solistin spielten Beethovens Violinkonzert. Es war unerträglich schön. Ich ertrank in den Panikwellen der Trauer und der Angst, die über mir zusammenschlugen. Es zerbrach, was in den Tagen zuvor schon begonnen hatte zu bröckeln: die innere Gewissheit, dass es bei uns keinen Eroberungskrieg geben könnte. Dass wir weiterhin leben könnten im Frieden. Nebenan war Krieg, Menschen flüchteten, hungerten, fanden keinen Schlaf, weil Bombenalarm sie aus den Betten riss. Sie kämpften, wurden verwundet, starben. Und wir hörten Beethoven.
Einige Konzertbesucher sind gegangen. Vielleicht war ihnen schlecht vom zuvor verspiesenen Aalbrötchen, vielleicht aber konnten auch sie ihre Ängste und ihr MitLeiden nicht einfangen und versuchten wegzulaufen vor ihnen.
«Falsch», sagt eine Freundin, «das Schöne auskosten bis zur Neige. Und dann weitersehen.»
Wochen später war ich wieder in der Philharmonie. Hörte Bruckners 7. Symphonie, gespielt von den Berliner Philharmonikern mit Andris Nelson am Pult. Es war ein ganz anderes Hören. Fast ohne Krieg im Kopf ließ ich mich hinwegfegen von der überwältigenden Schönheit. Und doch lauerte auch hier in der berauschten Seligkeitsglut ein tiefes Erschrecken. Wie befreiend für jemanden wie mich, die immer wieder übt, sich zu öffnen. Und wie zermürbend die Unvereinbarkeiten. Es hüllte der Trost mich ein, während zugleich die nackte Angst mich packte.
Es ist diese Gleichzeitigkeit, die gefährlich vibriert, die Gewissheit, dass mich zerreißt, was mich so glücklich macht. Beiden Gefühlen unausweichlich ausgeliefert.
Schönheit und Empfindsamkeit gehören zusammen und sind ein prekäres Paar. Man braucht einen inneren Kompass, um mit ihnen leben zu können, ohne abzustürzen. Denn nicht jede Schönheit ist in jedem Lebensmoment zu ertragen. Man muss erspüren, was man sich wann zumuten kann und möchte. Schönheit kann die Stimmung verstärken, in der man gerade ist. Man kann die größte Wachheit erleben, die lichterlohe Sinnlichkeit oder den Absturz in die Angst, die Verlassenheit, ins Dunkel. Verse, Melodien, mächtige Baumwurzeln, Sätze, Gemälde oder Alpenglühen brechen uns auf, machen uns verletzlich, empfänglich, um uns dann zu verwüsten und/oder zu beseelen.
Immer wieder möchte ich, dass Schönheit mir Märchen erzählt, wenn mich die Wirklichkeit bedrängt. Und immer wieder bedrängt mich die Schönheit, entkräftet mich, lässt mich die leidende Wirklichkeit in gleißender Klarheit sehen, reißt Löcher in meine bloße Haut.
«Schmerz und Schönheit, das sind die beiden Gesichter Gottes.» Ich glaube, es war ein franziskanischer Mönch, der das einmal gesagt hat.
Schönheit, ob trügerisch oder wahr, ist so vergänglich, so veränderlich wie auch wir Menschen es sind. Jeder von uns. Unbeständig. Ein Sandkorn, das über den Erdball weht, bis es sich wieder im Boden verkrümelt. Und weil ich Mensch bin, reagiere ich auf die flüchtige Schönheit von Blumen, Menschen, Sonnenuntergängen wohl nicht anders als auf die möglicherweise bleibende Schönheit der Alpen, des Meers, einer Sonate. Denn auch mit der Schönheit der Kunst oder des Bergmassivs verbindet sich Endlichkeit – weil zwar sie vielleicht bleiben wird, aber nicht ich, der Mensch, der sie betrachtet, sie hört.
Deshalb wollen wir ja Schönheit, wenn wir sie spüren, gleich festhalten, statt zu begreifen, dass es gerade die Vergänglichkeit ist, die den Moment des Schönheitsglücks so prekär und kostbar macht.
Du siehst die leuchtende Sternschnuppe
nur dann, wenn sie vergeht!
Friedrich Hebbel (1813–1863)
Schönheit ist zu eng verknüpft mit der eigenen Sterblichkeit, dem Moder der Auflösung, der Endlichkeit, um uns keine Angst zu machen. Manche Schönheitsgelehrte vermuten sogar, dass in der Verdrängung des Schönen aus unserer Welt mehr stecke als oberflächliche Hinwendung zu Tand und Schund. Womöglich werde Schönheit aus dem Alltag verbannt, um mit genau der Assoziation von Schönheit und Tod nicht konfrontiert zu werden.
«Der aufwendige Kampf gegen die Schönheit», schreibt der Philosoph Hans-Dieter Bahr, «mit welcher das 20. Jahrhundert einsetzte, könnte sich also nicht allein gegen die Abschwächung des Schönen zum spannungslos Wohlgefälligen richten, sondern zugleich tiefer noch auf eine Verdrängung des Todes und somit der Endlichkeit des Lebens verweisen.»
Gilt das auch für das eigene tägliche Leben? Ist meine Lust auf lebendige Schönheit, hinter der ich so oft Eskapismus argwöhne, womöglich gar nicht Feigheit, sondern beherztes Hinsehen, weil ich nicht flüchte vor der zähnefletschenden Welt, um ihre dunkle Beunruhigung zu vergessen? Läuft, wer Schönheit flieht, auch davon vor dem Wissen um die eigene Endlichkeit?
Das ist übrigens die Chance für den Auftritt der Makellosigkeit – von der die Rede noch sein wird. Die nicht weckt und bedroht, sondern die Sinne einlullt. Denn Makellosigkeit ist Antwort. In der Schönheit atmen Fragen, tänzelt ein Ahnen, lodern die Sehnsucht und die Gefahr. Fragen sind lebendig – eine Frage gebiert die nächste, eine reiht sich an die andere, aus einer Frage werden Ketten, Schlangen. Antworten reproduzieren sich nicht. Sie stehen da, allein und gerade und irgendwie unfruchtbar.
Die Schönheit, so fährt Bahr mit einiger Rage fort, verkümmere zum Netten, Dekorativen und schlage schließlich um in die Hässlichkeit des Monumentalen, etwa im Städtebau. In anderen Worten: Man begnügt sich mit kalter und ausdrucksloser Baukunst, um Sehnsucht und Furcht erst gar keinen Raum zu geben.
Heute bin ich mit der Ringbahn durch Berlin gefahren. An einem kühlen, grauen Nieselregentag. Durch eine deprimierend hässliche, abstoßend kalte Stadtlandschaft. Ein phantasieloser Riesenklotz neben dem nächsten. Kein Gefühl fürs Gesamte, kein Ensemble, kein Geist, keine Lust, kein Ornament, keine Freundlichkeit, keine Eleganz. Nur Gebäude im Dienst der Effizienz, des Kapitals oder, gleich nebenan, Sozialwohnungen. Hässlichkeit als Vermittlerin einer Wahrheit, die wehtut.
Wie kann es sein, dass Menschen sich so seelenlose Umgebungen bauen, in denen man kaum etwas findet, was durch Schönheit trösten könnte. Ich schaue auf Monstren, in denen Schönheit brutal weggebaut wurde. Architekten, die solch sinnenfeindliche MenschenBehälter entwerfen, sollte man übrigens verbieten, sich selbst ein Haus unter hohen Buchen am plätschernden Bach zu errichten, und sie zwingen, entweder selbst in die Kerker einzuziehen, die sie für andere schufen, oder direkt gegenüber, damit sie jeden Tag draufschauen müssen.
Roger Willemsen, der allseits gebildete Renaissance-Mensch, hat einmal in einem Vortrag über Innenstädte gesagt, das Kostbarste, was Lebensräume anbieten könnten, sei «das Gefühl, in einem Augenblick wirklich zu werden».
Wenn mein Mann (der II ) in eine Stadt kam, die ihm gefiel, lief er anders, wurde sein Schritt geschmeidiger, zufriedener, erobernder. Unsere Körper reagieren auf empfundene Schönheit, werden lockerer, entspannter, bewegen sich freier im Raum. Oder, wie ein Freund es nannte, als er in einer lauen Sommernacht auf einer romantisch schönen italienischen Piazza saß: «Wäre ich Primel, würde ich blühen, wäre ich Huhn, würde ich gackern.»
In der Hässlichkeit einer Betonklotzsiedlung neben Schnellstraßen, wie ich sie sah von der Ringbahn aus, würde man wohl kaum wirklich werden, würde eher brüllen als hühnerfroh gackern. Weil man in stumpfe Phantasie-, ja Lieblosigkeit schaut. Die nicht besänftigt, sondern aggressiert. Die den Menschen nicht aufnimmt, sondern aussperrt. Mir verdirbt monoton missmutiger Städtebau nicht nur die Laune. Ich fühle mich angegriffen. Muss Energie und heitere Einbildung wachschütteln, um dem Trübsinn keinen Raum zu geben. Die Gebäude schauen mich nicht an, sondern stehen blind und seelenleer herum. Behaupten – wie hingestampft – ihren Platz. Sie wollen keine Beziehung aufbauen zu ihrer Umgebung oder zu mir. Und ich will die Zumutungen ihrer öden Freudlosigkeit nicht in meinem Blick, auf meinem Weg. Kein Trost in dieser Tristesse, wenn ich in einer langen Straße kein einziges Lächeln finde, keine Melodie.
Ich will lebendige Fassaden, die mir etwas erzählen. Ob die von manchen Gestaltern postulierte Rückkehr des Ornaments der Königsweg ist, sei hier nur als Frage gestellt, weil wir sonst tief einsteigen müssten in die Kulturgeschichte des Ornaments, die Adolph Loos einst so verdammte («Ornament und Verbrechen» hieß seine 1910 erschienene Streitschrift). Und in der Tat können Ornamente süßliches Blendwerk sein, aber eben auch großartiges und zärtliches Handwerk.
Form follows function – Die Form folgt der Funktion – galt lange als Devise fortschrittlicher Architekten und hat im Laufe der Jahrzehnte zu Bauformen geführt, in denen Effizienz die wichtigste Rolle spielt und nicht der Mensch und seine Gewohnheiten, seine Bedürfnisse, sein Wohlbefinden.
«Man muss schon konstatieren», schreibt Laura Weissmüller in der Süddeutschen Zeitung , «dass diesem Land … die Menschlichkeit in seinen Gebäuden abhandengekommen ist.»
Hässlichkeit entwürdigt. Schwächt. Macht ohnmächtig. Erklärt sie einem doch, man sei es nicht wert, es schön zu haben. Wenn man sich die öden RasterFassaden beguckt, die einen nicht nur in Berlin in vielen Straßen attackieren und verletzen, die tristen Betonkübel anschaut, mit denen man Einkaufsstraßen möbliert oder die synthetischen Vorgärten, fühlt man sich in der Tat in seinen Bedürfnissen als stadtbewohnender Mensch nicht wahrgenommen.
«Architektur ist Politik», sagt der Architekt Francis Kéré, der 2022 mit dem prestigereichen Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde. Berühmt wurde er bei uns unter anderem für seine Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief in Burkina Faso. «Egal wie man es macht», sagt Kéré, «man greift in das Leben von Menschen ein, allein durch die physische Präsenz dessen, was wir schaffen.»
Die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao hat Hunderte von Menschen befragt nach ihren WohnWünschen, als sie von der Regierung ihres Landes den Auftrag erhielt, Kleinsthäuser für arme ländliche Gemeinden zu entwickeln. Sie arbeitet gern mit Philosophen zusammen und mit lokalen Handwerkern, die die Materialien ihrer Heimat kennen und das, was die Menschen mögen und brauchen zum Wohnen. «Wir alle brauchen Schönheit», sagt sie, «um uns zu entwickeln.»
Es geht nicht allein um Geschmack. Es geht darum, Mensch sein zu können in den Häusern, in denen man lebt, in den Straßen, in denen man geht, in den Parks, in denen man in Sommernächten liebt. Städte sollten es uns ermöglichen, uns in ihnen zu erfahren, im Gehen (wie mein Mann), im Sehen, im Fühlen, im Luftholen, im Erkennen. Städte sollten dazu da sein, Menschen ins Gespräch zu bringen, auf Straßen zu spielen, auf Plätzen zu sitzen, von Balkonen zu singen oder Gedichte aufzusagen, wie die Schriftstellerin Marica Bodrožić es tat während der Pandemie.
Die französische Architektin Odile Decq lässt ihre Studenten auch von einer Neurologin unterrichten und von einem Choreographen, mit dem sie tanzen. Was für eine kluge Idee, angehenden Architekten ein Gefühl zu geben für Körper und Raum, für Körper im Raum.
Städte sollten unsere Lebenskraft speisen, nicht auslaugen, so wie sie es jetzt so oft tun. Wer mag schon flanieren zwischen Monstrositäten, wie ich sie sah aus der Ringbahn oder sehe in Einkaufsmeilen, wo es um Konsum geht, ums HabenWollen und nicht darum, zu schauen, zu entdecken, die Stadt und sich darin sinnlich zu erleben. Wie der französische Schriftsteller und Lyriker Charles Baudelaire, einer der ersten modernen Flaneure. «Er sieht den Fluss der Lebenskräfte rollen, so majestätisch und so glänzend. Er bewundert die ewige Schönheit und die erstaunliche Harmonie des hauptstädtischen Lebens, die Harmonie, die im Tumult der menschlichen Freiheit so urvorbedacht erhalten ist. Er betrachtet die Landschaften der großen Stadt, Landschaften von Stein, über die kosend der Nebel gleitet, auf die peitschend die Strahlen der Sonne niederfallen.»
Im 19. Jahrhundert galt es als elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen, damit der kluge und gemächliche Straßenschlenderer auch in Muße schauen konnte. Und wir Heutigen? Hasten und eilen auf dem schnellsten Wege zum vorbestimmten Ziel – ohne Blick für die Stadt und die Menschen in ihr und ohne Ohr für sie. Weil so viele unserer Städte mit ihren abweisenden Fassaden und Straßenzügen uns eben genau dazu nicht verführen.
Nicht nur Zimmer sollten singen, wie Beata Heuman es postuliert, sondern auch Städte sollten ihre Melodie haben – aus Plätzen, Brunnen, Bänken, Bäumen, Hauswandwasserfällen, öffentlichen Dachterrassen.
Die Schwärmerei für die Natur
kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte.
Bertolt Brecht (1898–1956)
Seit einer Weile gibt es den Begriff der healing architecture , der heilenden Architektur. Die hin und wieder in Krankenhausbauten (und mancherorts auch an Schulen) verwirklicht wird. Eine Architektur, die ganzheitlich orientiert ist und mit Neurowissenschaftlern und Biologen zusammenarbeitet.
Schon in den Achtzigerjahren hat der Amerikaner Roger Ulrich, Professor für Landschaftsarchitektur und Stadtplanung, angefangen, darüber nachzudenken, wie sich physische Räume auf die geistige und körperliche Gesundheit auswirken. Hat sich mit Neurobiologie beschäftigt und herausgefunden, dass etwa Pflanzen und Wasser den Parasympathikus, den man auch den Ruhenerv nennt, aktivieren. Es entstand das Konzept des restorative environment , das über Licht, Farben, Raumformen und Blickachsen nachdenkt. Ulrichs Forschungen hatten unter anderem ergeben, dass Patienten nach einer Operation weniger Schmerzmittel brauchten, schneller gesund wurden und früher entlassen werden konnten, wenn sie ins Grüne und nicht auf eine Brandmauer schauten.
Schon merkwürdig, dass man dafür wissenschaftliche Gutachten erstellen musste.
Auch die Empfehlung der Max-Planck-Gesellschaft, dass mehr Grünflächen in den Städten essenziell seien für die psychische Gesundheit der Stadtbewohner, wird niemand als staunenswerte Erkenntnis feiern wollen, der selbst in einer «verdichteten» Stadt lebt.
Es gibt Neurologen wie Oliver Sacks, Biologen oder Psychologen, die glauben, dass manche Gärten bessere Heiler seien als Ärzte mit ihren Pillen, und daher Öko-Psychosomatik als interdisziplinäre Wissenschaft etablieren möchten. Schönheit als Heilung für die wunde Seele? Schönheit als Therapeutikum?
In Berlin gibt es ein Café mit einem hinreißend wuchernden Kräutergarten, in den man auf schmalen Trampelpfaden hineingeht. Hier und da streift ein langer Stängel am Knie entlang. Kleine Tische stehen auf kleinen Inseln in dem grünen Gewoge. Es gibt Kräuteromelette, Kräutersalate, Kräutersaucen. Man sitzt in Kräutern und verspeist sie. Es fehlt nur der fliegende Teppich im Märchengarten, so weit weg scheint man zu sein vom Großstadtgetöse. Man staunt und verschnauft und heilt ein bisschen.
Laufen wir noch einmal ein im Hafen des Wahren, Schönen, Guten? Das Schöne kuriert, weil es wahr und gut ist?
Epidauros, das berühmte antike Theater, das hineingebaut ist in einen Hang mit einem weiten Blick in die hügelige Landschaft, muss ein magischer Ort sein. Trotz seiner Größe. 14000 Menschen konnten sich hier auf den steinernen Stufen versammeln. Das Theater war dem Heilgott Asklepios gewidmet, weil es Teil war eines großen Areals mit Brunnenhäusern für die Reinigung, Tempeln, in denen man den Göttern opferte und Priester befragte, welchen Heilweg man einschlagen solle, mit Arzthäusern für Konsultationen und Gästehäusern, in denen man übernachten konnte. Teil der Heiltherapie waren eine große Bibliothek und eben das Theater. Wo man als Zuschauer eleos und phobos , den Jammer und das Schaudern der Tragödien durchlebte (Lessing übersetzte die Begriffe mit Mitleid und Furcht) und so eine innere, eine kultische Reinigung erfuhr, eine Katharsis. Und nur gereinigt und verwandelt kann man heilen. Nur der Schmetterling kann flügelwippend am Nektar saugen.
Als mein Mann viele Monate in einem Zimmer mit fleckiger Wand in einer Reha-Klinik lag, hat meine Tochter ein Foto des Daches, das er liebte und das ich ausbaute, als sehr großes Plakat drucken lassen und an die Wand gegenüber von seinem Bett gepinnt. So schaute er nicht auf Krankenzimmergesudel, sondern auf Balken, Gaube, Sägen und Handwerker, schaute in eine mögliche Zukunft, konnte sie in Gedanken gestalten.
Der schon mehrmals zitierte Philosoph Georges Didi-Huberman erzählt von Erkenntnissen und Möglichkeiten, von Gefahren und Beglückungen des Schauens. Und dem Versuch, in Sprache zu fassen, was man sieht. «In diesem fast schmerzhaften Atmen der Sprache zwischen dem, was sich zeigt, und dem, was sich entzieht, beginnt die Erfahrung des Sehens zum Denken zu werden.»
Sehen gewahrt nicht nur, es gestaltet auch. Dann prägt das Sehen das Denken. Weil die Phantasie mitschaut und mein Lebenswissen, meine Kindheit, meine Verlassenheitsängste, meine Lust und Neugier, die Sonne von gestern und der Regen von heute, der Knieschmerz, die verlorene Liebe.
Sehen gestaltet, weil Bilder entstehen aus Reflexion, Erinnerung und Sehnsucht. Sehen ist auch nostalgische oder gar poetische Kreation, ist Sammlung, Konzentration. Erfordert Geduld. Oft verstreicht Zeit zwischen dem Sehen oder Hören und dem Empfinden, der Berührung, dem Erkennen. Vielleicht sollte man dem Begriff des Denkens eine Prise Transzendenz hinzufügen und eher von Geist sprechen.
Schönheit liegt im Auge des Betrachters, sagt man seit Thukydides. Aber mehr noch liegt sie wohl in seiner Seele, in seinem Geist, seiner Phantasie, seinem Mut, seiner Zärtlichkeit für die Welt und für sich. Sie bestimmen, was er sieht, was er sehen kann, was er sich zu sehen erlaubt und zu hoffen wagt.
Erfahrung, Erinnerung, die Kraft des Denkens und die Kraft des Sehens verändern unsere Vorstellung von der Welt.
Sehen ist eine Form sensorischen Denkens.
Priya Basil (geb. 1977)
Man braucht innere Freiheit und die eigene innere Zeit, um jenseits von Klischees und herkömmlichen Normen sehen zu können. Um Schönheit zu finden und zu empfinden. Man braucht den Mut zur Leere in sich. Muss Wahrnehmungsballast abwerfen, der Unrast entronnen sein, bevor man Schönheit wahrnehmen kann.
Deshalb erwacht ja in vielen von uns das SehenKönnen erst auf Reisen. Wenn wir uns außerhalb unseres Alltagsschauens bewegen, wenn Neues unsere Aufmerksamkeit fordert, ohne dass man es in altbekannte Schablonen packen kann. Wenn der leere Kopf fremde Wege zur Schönheit sucht.
«Ways of seeing» hieß eine berühmte Fernsehserie der BBC , die in den frühen Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts ausgestrahlt wurde. Der Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker John Berger erzählte dort seinen Zuschauern, wie er Bilder sieht, wie man Bilder sehen könnte, wie etwa das Betrachten eines Originals im Museum sich in seiner Wirkung unterscheidet vom Sehen einer Reproduktion im eigenen Wohnzimmer. Wie man sehen lernen und üben kann. Die Sendungen sind eine so intelligente wie amüsante SehSchule. Die man übrigens noch heute auf YouTube anschauen kann.
Könnten wir sehen, könnten wir mit allen Sinnen wahrnehmen, würde die jammervoll monotone Architektur, würden unsere ungeschlacht hässlichen Krankenhäuser und Schulen und ideenlos faden Bauten mit Schießschartenfenstern, würden die trost-losen Vorgärten vielleicht anders aussehen.
Wie scheußlich, dieser lebensfeindliche Schotter, darin ein paar ebenmäßig verstümmelte Immergrün-Gehölze. Praktisch muss es sein, unveränderlich, monoton, ohne auch nur die Suggestion der Flüchtigkeit. Der Spießer, so pingelig wie engstirnig, der so einen Garten anlegt, hasst die Linde des Nachbarn, deren Duft er im Frühsommer nicht selig einatmet, sondern deren im Herbst auch in seinen Garten fallenden Blätter er wütend zusammenharkt. Wo es doch bei ihm so ordentlich und gesittet zugeht, mit Lärchen und Koniferen zwischen Zaun und Thujahecke – und dann ludert da dieser Laubbaum, dieses unberechenbare Wesen, ein so pralles Symbol für Leben und Vergänglichkeit, für Blüte und Welke. So etwas Anstößiges gehört einfach gefällt! Immergrün-Gehölze blenden Vergänglichkeit aus, lenken ab von Lebendigkeit und ihrem Ende.
Melania Trump, die zum Glück längst und hoffentlich für immer vergessene Gattin eines einstigen amerikanischen Präsidenten, hat als einzige Großtat den Rosengarten des Weißen Hauses umgestaltet und aus einem paradiesisch bunten und mannigfach wuchernden Stück KulturNatur ein Paradeobjekt von Emotions- und Phantasielosigkeit geschaffen. Ein akkurat gestutztes Rasenstück mit einwandfrei gerade gezwickten Kanten, artig geharkten Wegen, braven Baumreihen, die dort wie Soldaten in Reih und Glied stehen. Flankiert wird die trübselige MöchteGernEleganz mit Formschnittgehölzen, bei deren Anblick man eher an die geschickt die elektrische Schere führende Gärtnerhand denkt als an Schönheit, Lust, Natur, Genuss und Sehnsucht.
Mrs. Trump hat dem Garten ausgerissen und ausgetrieben, was er zuvor an Lebenskraft und Unbestand in sich hatte. Ihn zugerichtet, gebändigt, unterworfen, gezähmt. Vielleicht unbewusst ein Ausdruck ihres eigenen Zustands. Männlichen Phantasien gehorchend, nach denen ja auch wir Frauen nicht wuchernd, sondern gefügig wachsen sollen. Davon wird die Rede noch sein. Davon werde ich noch berichten müssen, die ich mich so mühsam aus der Fügsamkeit entließ.
Ich schaue wieder einmal aufs Meer, während ich schreibe. Das sich blau und scheinbar endlos ausbreitet vor mir. Sich irgendwo dort hinten im Ungewissen trifft mit dem sanfteren Himmelsblau. Zwei Segelboote gleiten wie winzige Spielzeuge still über die funkelnde Scheibe. Sonst geschieht nichts. Kein Wind, keine Welle, keine weißen Schaumkronen. Alles ist ruhig. Selbst die Vögel schweigen in der Mittagshitze. Die Zikaden werden erst später anfangen zu zirpen. Und die Frösche quaken erst nach Einbruch der Dunkelheit, wie man sagt, als breche die Dunkelheit ein in den Tag wie ein Dieb – was letztlich ja stimmt, denn sie klaut das Licht.
Es ist diese ruhige Schönheit, die die zitternde Unrast in mir beruhigt. Mich aus der geschwätzigen Welt löst. Eine Sammlung der Sinne. Am frühen Morgen war ich schwimmen in einer von rötlichen Felsen eingerahmten Bucht. Palmen und Pinien klammern sich dort wundersam ans karge Gestein. Ich habe geächzt vor Glück, weil das Wasser mich so klar, so sauber, so grün und kühl umschloss. Schönheit und Sinnenfreude – eine Ahnung von Traurigkeit, von Lust und ihrem Ende.
Auf der langen Treppe zurück in die Welt der Straßen und Autos und hupenden Vertreter der Spezies Mensch blühte, allein und trotzig strahlend, eine kleine lila Blume im Eck einer steinernen Stufe. Eine bescheidene, zärtliche Schönheit, die von der Kraft erzählt, auch in dürrer Zeit zu blühen, von der Lust, Blume zu sein.
Es ist ein Moment, in dem ich bleiben möchte, der bleiben möge in mir. Weil es schön ist, mit der kleinen Blume zu sein, die mir erzählt von Hoffnung und Trost und mir freundlich sagt, ich solle weitergehen und am Abend den Mond von ihr grüßen, weil sie dann schon schlafen werde.
«Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!», sagt Faust in seinem Gespräch mit Mephisto, bevor er ihm seine Seele verkauft. Denn er ist sicher, dass sein Wissensdrang, sein Geisteshunger, nie dazu führen werde, dass er in gelangweilter Zufriedenheit im schönen Augenblick verweilen wolle.
Hat Goethe recht? Führt das Verweilen unentrinnbar zur matten Glanzlosigkeit oder ist es doch eher die Angst, die einzieht, angesichts der pochenden Gewissheit der Endlichkeit?
Schönheit erleben heißt Abschied nehmen.
Man sitzt auf einer Bank in einem Skulpturengarten in Südfrankreich oder an einem Tisch im Restaurant am Meer, im Sand, gleich am Wasserrand, und kann sein Glück nicht fassen. «So schön!», rufen wir, ein wenig bang, weil wir ja gleich verlieren könnten, was gerade so schön ist.
Ohne das Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit kann Schönheit kaum genossen oder beweint werden. «Zum Weinen schön», sagen wir und weinen im April, weil es wirklich und tatsächlich Frühling geworden ist und der Apfelbaum blüht. Wir weinen vielleicht, wenn nach wohnlichen Wolkentagen – die wir geborgen verbrachten unter den weichen grauen Decken – auf einmal der Himmel leergeweht ist und sich gebieterisch in seiner blauen Überwältigung über uns wölbt und wir erschreckt Unendlichkeit ahnen, an der wir nicht teilhaben können.
«Schön», sagen wir, wenn wir froh vor einem knorrigen Baum stehen, und sagen es auch, wenn wir weinen im herbstlich gelb-rot-braunen Wald unter samtblauem Himmel. Schönheit erweckt lebendige Gefühle.
Ich weine auf dem Balkon einer Freundin, angesichts des im Abendlicht rosa lodernden Wilden Kaisers. Wer weiß, ob er morgen wieder so rosa, so glühend schimmert und mich dabei meint. Oder ob ich mich morgen auch gemeint fühle. Weil ich morgen vielleicht nicht mehr die sein werde, die ich heute bin. Und was heute schön ist für mich, mich morgen nicht mehr berührt.
Also versuche ich, Schönheit und Schönes in mir zu speichern. Will nicht aufhören zu schauen, zu hören, zu riechen, zu fühlen, zu spüren, zu zittern, will festhalten, anketten, mir einverleiben, was ist, um ein Depot anzulegen, wie der Igel sein Winterfett, aus dem ich jederzeit hervorholen kann, was ich brauche. Will die Vergänglichkeit austricksen – und scheitere natürlich. Dann sitze ich fröstelnd im Winter an meinem Schreibtisch, schaue in den unbewegten Himmel, der sich auf die Stadt zu senken scheint, als wollte er sie verschlucken, verschwinden lassen in seiner fahlen Glanzlosigkeit, und möchte so sehr das einst Erlebte imaginieren, die Erinnerung aktivieren, möchte mich erheitern, mich amüsieren, mich trösten. Mir die Schönheit im Möglichkeitssinn verschaffen.
Die Vor-Freude, viel zitiert und oft gelebt, ist uns vertraut. Die Nach-Freude stellen wir viel schneller als abgestaubte Figur in die Vitrine, statt sie berückt zu leben.
Seit einigen Wochen habe ich eine Solareule, die in einem Blumentopf steckt und Licht für dunkle Stunden sammelt. Speichert Sonne am Tag und leuchtet in der Nacht.
Eine Freundin, mit der ich saß am Meer, begann auf einmal, vor sich hinzumurmeln: «I have to take this in. I have to take this in.»
Sie beschwor sich selbst, in ihr Gewebe aufzunehmen, was sie sah, roch und hörte. Den fast gläsern leuchtenden Himmel, in der Hitze duftende Piniennadeln, zischelnde Wellen.
«I have to take this in.» Als wolle sie die Schönheit schmieden in ein Mantra.
«Mantra means», schreibt Mingyur Rinpoche in seinem Buch «In Love with the World», «to protect the mind.»
Schönheit ist vergänglich. Wie das Leben auch. Was wir gern leugnen. Springen wie das Kalb über die Weide, das nichts davon ahnt, bald Braten zu sein. Wir wissen, was wir nicht sehen wollen. Täuschen uns, beschwindeln uns mit behaupteter Unaufhörlichkeit. In seinem Buch «Aufhören» schreibt Harald Welzer, weil wir der Endlichkeit unseres Lebens nicht bewusst seien, dächten wir, dass auch unsere Ressourcen unendlich seien, und hätten nicht gelernt, was existenziell sei: aufzuhören.
Vergänglichkeit – wie beruhigend, wie bedrohlich.
Ich möchte weder ewig leben noch gleich nächste Woche sterben.
«Warum bin ich vergänglich, o Zeus?» so fragte die Schönheit.
«Macht’ ich doch», sagte der Gott, «nur das Vergängliche schön.»
Und die Liebe, die Blumen, der Tau und die Jugend vernahmen’s;
Alle gingen sie weg, weinend, von Jupiters Thron.
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Gerade sitze ich auf meinem roten Sessel mit dem Glücksblick in die Pappeln auf dem Spielplatz gegenüber. Die genau jetzt, just in diesem Augenblick, da ich sie erzählen will, mit kreischenden städtischen Sägen abgeholzt werden. Ich springe auf, öffne das Fenster, schreie aufgebracht hinein ins Sägen, in die herabstürzenden Stämme und Zweige. Stehe dort in meiner Hilflosigkeit.
Schönheit ist ohne Vergänglichkeit nicht zu haben. Behütetsein ist immer nur ein vorübergehender Zustand.
Jede Opernaufführung, jedes Konzert, jeder Theaterabend ist im Kern einmalig. Ist nicht wiederholbar in genau der Intensität, der Energie, der Intonation. Kaum jemand hat seine Kunst diesem Thema so radikal gewidmet wie das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude, die ihre Werke nur für den Moment schufen. Der mal ein, mal zwei Wochen dauern durfte, damit genügend Menschen die Möglichkeit hatten, den Augenblick zu erleben. Aber dann wurde alles abgebaut, abgetragen, zerstört. Für die beiden war die Vergänglichkeit existenzieller Teil der Schönheit ihrer Arbeiten. «Menschen schauen anders», sagten sie, «wenn sie wissen: Das sehen wir nie wieder.» Ihre Projekte, so Christo, hätten «a basic suicidal character and that is very important».
Vermutlich haben diese beiden Künstler mehr Staunen und Trost, mehr Schönheit in die Welt gebracht als mancher Seelsorger oder Philosoph. Verwirklichten ihre Visionen ganz im Hier und Jetzt der schönen und revolutionären Nutzlosigkeit, ja der Irrationalität, wie Christo immer wieder betonte. «Kein Mensch», sagte er, «braucht einen running fence oder surrounded islands … Sie existieren, um eine Aussage zu machen über die vollkommene Freiheit. Und niemand kann sie kaufen.» Das war sein Urverständnis von Kunst.
Als die beiden das Reichstagsgebäude verhüllen wollten, hat der Politiker Wolfgang Schäuble erklärt, die Aktion sei unvereinbar mit der Würde der demokratischen Geschichte und Kultur. Und siebzig Prozent der Deutschen waren gegen das Projekt.
Als der running fence in Kalifornien nach zwei Wochen abgebaut wurde, schenkten Christo und Jeanne-Claude den Farmern nicht nur die Pfähle und Stahlkabel, sondern auch 150000 Quadratmeter Nylongewebe. So wurden aus dem running fence Tore und Zäune, und der schimmernde Stoff lag als schützende Haut auf Treckern und Mähdreschern. Was für eine schöne Vorstellung, was für eine SehBelebung.
Als die beiden in Paris die Pont Neuf mit 40877 Quadratmetern Stoff verhüllten, sagte der damalige französische Kulturminister Jack Lang, niemals hätten so viel Menschen die Pont Neuf beachtet wie an den Tagen, an denen sie verborgen gewesen sei.
So haben wir mit diesen Künstlern das Sehen gelernt, das Staunen und das Denken, konnten dank der «sanften Störung», wie Christo es nannte, einen neuen Blick auf Altbekanntes gewinnen. Was sie schufen, war Schönheit pur. In ihrer unbarmherzigen Vergänglichkeit. War Wirklichkeit und Illusion, war Welt und Ahnung.
Es ist ein sehr grauer Morgen. Ich habe zwei Kerzen angezündet. Auch sie sind grau. Ich fand sie schön in ihrer Mattigkeit, als ich sie im blauen Sommer kaufte. Aber jetzt verschwinden sie fast im Wolkengrau, das durch die Fenster in mein Zimmer quillt – und die beiden Kerzen scheinen am Himmel zu brennen.
Ich brauche Schönheit als Rückhalt und als Ort des Rückzugs. Als Bild, in das ich einziehe und ein wenig herumgaukele in ihm. Mal kommt es aus der Erinnerung, mal aus der begehrenden Phantasie. Es könnte ja doch noch mal sein, was nicht ist. Das nennt man dann wohl Hoffnung.
Mal wähle ich aus, was ich imaginieren möchte, mal schwirrt es heran, löst sich aus dem Morast des Tages. Und dann gehe ich mal wieder den Wolkenweg dort oben – wohin denn sonst mit mir –, um dort, vom Wind umfasst, von einem gemütlichen Kissen zum nächsten zu hüpfen.
Dort, wo ich herkomme, ist niemand mit mir auf Wolken gewandert. Oder eingetaucht in Literatur. Es wurde nicht vorgelesen. Schiller und Goethe standen vollständig im Bücherregal. Und blieben dort stehen, weil ich tumbes Kind nicht begriff, dass man die Bücher einfach nehmen und lesen könnte. Wie andere es getan hätten. Die schon mit zwölf alles lasen, was sie in die Finger bekamen. Überhaupt staune ich immer wieder, wenn Menschen schon als Kinder wissen, was sie brauchen, was sie wollen.
Die schon erwähnte Dänin Tove Ditlevsen wollte von Kindesbeinen an Dichterin werden. Ihr ganzes Sein streckte sich diesem Ziel entgegen.
Die Schriftstellerin Elke Heidenreich, so erzählt sie es in einem Interview, verließ mit 15 ihr Mutterhaus, weil es dort nichts von dem gab, was sie brauchte. Vor allem keine Kultur. Und zog ein bei einer anderen Familie, wo es ein Klavier gab, Musik und Bildung. «Das», sagte sie, «brauchte ich.»
Ich war mit 15 ahnungslos und blieb es noch lange. Einbetoniert durch das lange KindKrankSein wusste ich nicht, was ich brauchte. Kannte kein Wollen.
Untamed nennt die Schriftstellerin und Aktivistin Glennon Doyle Frauen, die sich wehren, die eigenwillig sind, widerspenstig. Ungezähmt. Raus aus der Konvention dessen, was man immer schon war. Rein ins Selbstvertrauen und ins Risiko. Das Beben der Wahrhaftigkeit aushalten. Mehr wagen. Auch sich trauen zu stolpern. Auch noch im Alter. Staub abklopfen, Krone richten, weitermachen.
Glennon Doyle ist in den Vereinigten Staaten ein Superstar. Schreibt lebensberatende Bestseller, und zwar so amerikanisch schamlos emphatisch tirilierend, dass man die Bücher immer wieder entnervt in die Ecke werfen möchte – und doch dranbleibt. Denn dort geht es genau um unsere eingesperrten Frauenleben, beherrscht von Normen, Konventionen, gesellschaftlichen Festschreibungen.
Es ist gut, sich aus Verhältnissen zu lösen,
die einem die Luft nehmen.
Paula Modersohn-Becker (1876–1907)
«Warum hast du eigentlich so früh geheiratet?», fragt mich eines Abends eine Freundin nach einem sehr guten Essen. Wir hatten zusammen gekocht. Hatten kleine Kartoffeln in Rosmarin gebraten, Ingwer über gedünstete Karottenstifte geraspelt und das Lamm für Stunden im Ofen vor sich hingaren lassen, bis es hellrosa und zart auf die Teller kam.
«Wollen wir nicht lieber in den Himmel schauen, den wandernden Wolken zusehen?», versuche ich abzulenken, weil ich nicht weiß, ob ich so tief einsteigen möchte in mein Gefühlsgeröll, um wirklich antworten zu können. Ich hole uns ein Brett mit Käse – Tomme de Vache und Cantal –, fülle die Karaffe mit Wasser nach und gieße uns noch ein Glas Rotwein ein.
Als ich heiratete, war ich ein hübscher Spuk mit zugesperrtem Innenleben, eine unerlöste Seele voller Kummeraffen, die nun Ehe spielte. Und später Mutter. Das arme Kind. Ich kann nicht ungeschehen machen, was damals war. Kann nur hoffen, dass die Sonnenblumen, die ich irgendwann pflanzte, irgendwann blühen werden.
Am Hochzeitsmorgen protestierte mein kluger Körper. Am schönsten Tag im Leben einer Frau hatte ich einen rasanten Durchfall. Panisch wurde ein Arzt gerufen. Das Kind sollte doch unter die Haube. Und der Herr Doktor – als guter Familienvasall – verabreichte der jungen Frau Opium. Um alles stillzulegen in ihr. Die Rebellion auszumerzen. Die Braut gefügig zu machen. Ich heiratete im Rausch. Erinnere mich fast an nichts. Schaue mir die Fotos an und denke: Das also war meine Hochzeit. Mein Festtag. Ich erinnere mich an das Kleid. Das mochte ich. Man konnte mit der Hand darübergleiten und die Struktur spüren. Seidenrips. An den Bräutigam erinnere ich mich nicht. Und gespürt habe ich ihn schon gar nicht. Ob wir uns wohl in der Kirche geküsst haben?
Nach der kirchlichen Trauung, beim obligaten GartenEmpfang, kamen die Heerscharen, um mir zu gratulieren. Und da nicht nur mein Darm, sondern offenbar auch mein Hirn lahmgelegt war, drückte ich jeder Figur, die auf mich zukam, grinsend die Hand und rief fröhlich: «Herzlichen Glückwunsch! Und alles Gute!»
Gefällig, brav, angepasst. So hatte ich es gelernt. Hatte als kleines Mädchen bei Familientees allen Tanten die Hand geküsst – manchmal kam eine eklig behaarte OnkelHand dazwischen –, und ich beugte mich weiter über welke, beringte Finger.
Die Ehe war ein Lustgrab, und es verzögerte sich der Weg in die Freiheit. Jetzt suchte nicht mehr die Mutter, sondern mein Mann (der I) aus, was ich anziehen sollte – und ich trug es. Zum Glück hatten wir nicht viel Geld, und ich musste nur selten mit ihm in einem Kaufhaus herumstehen. Er war es, der Geschmack hatte, Schönheit erkannte, für das Schöne zuständig war. So dachte er jedenfalls, und also dachte ich es auch.
Die erste Wohnung war ein nettes Zuhause. Wie man so sagt, wenn man lieber nix sagen würde. Im winzigen Esszimmer strichen wir Wände und Decke gelb, legten einen meerblauen Teppich auf den Fußboden, malten die vier schmalen Holzstühle und den kleinen runden Tisch blau; die Intarsien am bauchigen Fuß strichelten wir mit feinem Pinsel gelb. Das Geschirr hatte ein Muster aus gelben und blauen Blumen, die Leinenservietten waren blau mit gelber Paspel. Mir wird schon beim Beschreiben dieser Puppenstube ganz grämlich zumute.
Eingemottet wie ein alter Mantel hing ich im Schrank der jungen Ehe. Je langweiliger mir war, desto mehr klammerte ich mich an sie. So ist es vermutlich auch beim Fallschirmspringen. Da krallt man sich verzweifelt an die Flugzeugtür, bevor man sich endlich hinausstürzt in den freien Fall. Ich sank mit dem kargen Gatten an meiner Seite in eine seelische Ohnmacht. Jede Bewegung war ein Kraftakt. Jeder Weg zum Briefkasten eine Überwindung. Eines Tages jagte das Kind seine Faust durchs Fenster. Und wir jagten im Taxi in die Klinik.
Bewusstsein ist keine schnelle Gewissheit, sondern ein Prozess.
«War tatsächlich alles so», fragte die Freundin, mit der ich noch lange saß bei Rotwein und Cantal, «was du erzählst vom Vater, der Mutter, der frühen Ehe und dir?»
Keine Ahnung. Ich kenne ja nicht die Wahrheit, sondern nur meine Erinnerungen. Trügerische Gesellen, wie wir wissen. Was ich in mir gefunden, was ich erfunden habe, was Dichtung ist, was Wahrheit, was Wahnbild, was Geschehnis – ich könnte es nicht sagen. Wirklichkeit und Erinnerung, sie streiten und versöhnen sich, und irgendwann schummeln sie vielleicht beide. Manchmal stimmen möglicherweise die Fakten, manchmal nur die Gefühle. Wie ich wurde, wer ich bin? Wie könnte ich es mit Sicherheit sagen, wenn das Gedächtnis doch auch ein Lügenbold ist. Wenn die Phantasie und auch das Wünschen die Person mitformen.
Es wurde eine unruhige Nacht nach dem langen Gespräch. Weil Erinnerungen manchmal sind wie Mücken, sie sirren und stechen und saugen Blut. Man schlägt zu und haut daneben, liegt blessiert. Und schon geht das Sirren wieder los und verbindet sich mit dem Dröhnen der Gegenwart.
Heute ist der 103. Tag des Krieges. Ich lese von Straßenkämpfen und Raketenangriffen – so wie ich es täglich lese. Fast lese ich darüber hinweg. Gewöhne ich mich an den scheinbar fernen Schrecken? Stumpfe ich ab? Wende mich ab von dem, was gesehen werden will, gesehen werden muss?
Der Körper ist sensibler. Er schmerzt. Er rebelliert. Er spiegelt, was ich lese. Ich brauche Ruhe. Und beginne, Rezepte zu ordnen. Salate unter A, Geflügel unter B, Suppen unter C. Ich räume dies und jenes in meiner Wohnung um. Gebe den vielen kleinen Figuren im Regal ein neues Zusammenleben. Der kleine dicke Mann aus Texas steht jetzt neben den bunten Sorgenpuppen aus Mexiko, die man sich nachts unters Kopfkissen legen kann, damit sie einem das Leid abnehmen. Das (natürlich) grandiose Graffiti-Bild meines Enkels steht neben Kinderfotos.
Es geht mir so unerhört gut hier mit meinen Dingen, in meinem Refugium, das mein Bangen besänftigt, ohne es auszulöschen.
Manche Menschen antworten auf Schrecken und Schmerz mit ästhetischer Perfektion, um ihr aufgebrachtes Gemüt zu beruhigen. Leidenschaftslose Akkuratesse soll Vergänglichkeit bannen, schützen vor Risiken, Unvorhersehbarem, soll die Illusion vermitteln, alles unter Kontrolle zu haben. Sie flüchten in eine Pedanterie der Verzweiflung. In eine entseelte Schönheit. Und man spürt in der Akribie Unglück, das unterdrückt und in eine Rüstung aus Präzision und Strenge gesteckt wurde. Die Ängstlichen oder Versehrten gewanden sich nicht nur in untadelige Anzüge, Kostüme, Hosen und Pullover, die jeglicher Nonchalance entbehren. Sie wohnen in Räumen, in der es Katzen nur gestickt auf Kissen gibt, wo ein grün schimmernd geschliffenes Glastier auf dem staubkornfreien Glastisch steht, und man weiß, dass dieses Tier nicht verrückt werden darf, auch wenn man es eigentlich verschieben müsste, um an den Teller mit den kleinen Nüssen heranzukommen. Lieber aufstehen.
Selbst wenn man nicht gebeten wird, die Schuhe vor der Wohnungstür auszuziehen, werden sie doch argwöhnisch beäugt. Und selbst die nackten oder bestrumpften Füße sind hier irgendwie fehl am Platz, sie bewegen sich über den Teppich, wippen womöglich am übergeschlagenen Bein, rutschen mal hier- und mal dorthin. Sie stören das Gleichmaß, das hier Gebot ist. Sind nicht unsichtbar, sind eine Zumutung. Bringen ein unruhiges Draußen ins fein tarierte Drinnen.
Fast immer wohnt eine sinnliche Resignation in diesen Behausungen oder auch ein tiefer Schmerz. Einmal habe ich einen Dokumentarfilm über eine Überlebende des Holocaust gesehen. Sie wohnte in großen, schönen, hellen Zimmern. In denen jeder Stuhl, jede Lampe, jeder Hocker, jedes Ding so penibel geordnet war, als seien Abstand und Platz mit dem Maßband bestimmt worden. Man sah eine bestürzend gläserne Erstarrung, eine fragile Beherrschtheit, und spürte, wie schnell sie zerspringen könnte.
In der Makellosigkeit hat die Erinnerung an Schmerz keinen Platz. Aber auch tändelndes Verlangen oder eine Lust am Unvorhersehbaren wird mit der versessenen Perfektion gründlich ausgetrieben.
Mein liebstes Beispiel für geglückte Makellosigkeit und missglücktes Leben darin ist die Frau, die sich vor langer Zeit von einer Erbschaft ein Haus an einem bayerischen See baute. Vor allem in der Küche hatte sie offenbar alles genau so gestaltet, wie ihr Drang nach Perfektion es verlangte. Jeder Schritt war bedacht, jede eckige Kante weggeschmirgelt, jede Lichtachse vermessen, jeder Topf und jede Pfanne in glänzendem Kupfer aufgereiht. Sie zeigte Fotos.
«Und was kochen Sie dort?», fragte ich.
«Kochen», rief sie, als hätte ich sie nach Sex mit ihrem Gärtner auf dem Küchentisch gefragt. Kochen? Und ölige Pfannen auf dem Herd stehen haben. Schlieren auf dem Tresen. Eine vergessene Knoblauchzehe auf dem Schneidebrett? Sie könne sich kaum je ein Brot schmieren in dieser Küche, weil jede Butterdose, jeder Krümel, jeder Marmeladenklecks ihr Gemälde zerstöre. Sie schüttelte sich bei der Vorstellung von Unordnung und Sudelei.
Yves Klein hat einmal als Junge mit drei Freunden dösend am Strand von Nizza gelegen, als sie beschlossen, die Welt unter sich aufzuteilen. Yves bekam natürlich den Himmel. Gleich nahm er ihn in Besitz und signierte ihn in Gedanken auf der Rückseite seines blauen Gewölbes. Wütend sah er sich durch einen Schwarm von Vögeln gestört, die das azurne Blau mit dunklen Flügelschlägen beschädigten.
Ich gebe zu, auch ich mag keine Krümel und kenne das leicht neurotische Zucken der Hand, den korrigierenden Griff, wenn die Leuchter im «falschen» Abstand zueinander stehen, die Nippes auf dem Tisch nicht «locker» verteilt sind. Aber wenn die Suppe im Teller dieselbe Farbe hat wie die Bougainvillea auf dem Tisch, wenn die Bluse der Hausherrin farblich passt zu den Servietten oder wenn die Kissen auf dem weißen Sofa die Farben des Bildes aufnehmen, das darüber an der Wand hängt, wird Schönheit wieder einmal zur Pose degradiert, wird entwürdigt.
Perfektion ist Ergebnis, ist Produkt – alles ist erledigt, gelöst, beruhigt. Der Makellosigkeit fehlt das Geheimnis. Nichts ruft danach, aufgespürt zu werden. Es gibt kein Staunen, das sich Pfade sucht und Nischen, es braucht keinen roten Faden, um von der äußeren Haut zum inneren Kern den Weg zu finden. Es fehlt die Provokation, die Überraschung, die Glut, der Riss im Gewebe, der einen genauer hinschauen lässt. Wo bleibt die Einladung, zu denken, zu schwanken, zu zweifeln, zu fliegen?
Die Frau mit dem Haus am bayerischen See, die sich in ihrer Küche kein Ei braten und keinen Salat machen konnte, gab im Laufe des Abends zu, dass sie eigentlich nicht einmal gern übernachte dort in ihrem wunderschönen Refugium. Sie komme sich vor wie ein Eindringling, ein Störenfried des perfekten Bildes, das sie sich geschaffen hatte. Ein ungemachtes Bett, ein geknülltes Handtuch im Bad, ein zerknittertes Seidenhemd am Garderobenhaken – «es geht nicht», rief sie, «ich ertrage es nicht.»
Sie war eine schöne Frau, die sich gern unter viel blasser Schminke und schwarzem Lidschatten versteckte. Wenn sie vom Haus sprach, leuchteten ihre Augen. Als sei das Haus ihr Schoßhund (mit dem man nicht toben), ihr Kind (mit dem man nicht Kuchen backen), ihr Geliebter (mit dem man nicht ludern durfte). Unberührt musste das Haus bleiben, damit sie es bewundern und lieben konnte.
So wurde sie in ihrem eigenen Haus, was die Vögel waren auf Yves Kleins Himmelgemälde. Und hatte sich im Drang, Vollendetes zu schaffen, einen Ort der reinen Schönheit, wie sie es nannte, aus dem eigenen Leben herauskatapultiert.
Wie sie wohl wurde, was sie war: eine Besessene vom Satan der vollkommenen Makellosigkeit. Ausradiert vom schönen Bild des eigenen Lebens. Welche Lebenswunden sie wohl mit dem Mull der Perfektion verbinden musste.
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in
Leonard Cohen (1934–2016)
Eine Küche, in der man nicht kochen darf, ein Zimmer, in dem fremde Füße nicht willkommen sind – sie sind wie die angeblich vollkommen schönen Gesichter, die geschnitten, genäht und gesäumt daherkommen, aus denen jede Lebendigkeit wegoperiert wurde. Wer, bitte, möchte in so ein maßgeschneidertes Antlitz seine lechzende Lust hineinküssen.
Schönheit braucht Störungen, einen Riss, a crack . Nicht umsonst malen sich schöne Frauen Schönheitsflecken ins Gesicht oder lispeln durch entzückende Zahnlücken. Und sind es nicht oft die hinkenden Männer, die – wie Hephaistos, der lahmende Gott – sich fast jede Frau ins Bett holen können, weil die mütterliche Weibeslust hier heilen will.
Umgekehrt klappt das übrigens nicht so gut. Einmal hat mir ein Liebhaber mit diesem verlogen zärtlichen Lächeln der brutalen Ehrlichkeit erklärt, ihn störe mein Hinken wirklich gar nicht. Gerierte sich als generöses Mannsbild, das sogar eine Humpelliese in sein Bett aufnahm.
Es ist der Riss, durch den das Licht fällt, der uns Schönheit sehen und erleben lässt. Der scheinbare Antagonismus ist der eigentliche Reiz. Weil hier der Geist, das Leben, die Sehnsucht, Kraft oder auch Verzagtheit sichtbar werden. Kintsugi ist eine japanische Art der Keramikreparatur, ist die Kunst, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten. Eine Tradition, die lehrt, dass Schönheit nicht in der Perfektion zu finden ist, sondern im guten, ja im kostbaren Umgang mit den Brüchen und Versehrtheiten.
Makellosigkeit kaschiert den Bruch, aber heilt ihn nicht, ist Fassade, hinter der womöglich Unheil lauert. Schönheit macht auf ihn aufmerksam. Respektiert den Riss. Um heilen zu können, brauchen wir Schönheit.
«Schönheit ist lebensnotwendig.»
Vielleicht werde ich morgen Freunde an der Havel besuchen. Wir werden schwimmen im Fluss, der sich in sanften Biegungen durch die Landschaft zieht, gesäumt von großen Hängeweiden am Ufer. Es ist, als schwimme man mitten in einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, in weiter Ferne vom Getümmel der Welt. Und dann werde ich durch das nächste Gemälde – durch abgeerntete gelbe Felder – radeln, Schönheit sehen, empfinden, leben. Vielleicht werde ich singen auf dem Rad und an meine alte Freundin denken, die inzwischen gestorben ist.
Werde ein paar liegen gebliebene Kornähren aufheben, einen kleinen Stein vom Weg mitnehmen für das Grab meines Mannes und die flauschige, kleine, elefantenhautgraue Wolke vom Himmel holen, damit sie mich später am Abend, wenn es kühl wird, wärmen möge. Werde mit einem Glas Rotwein im Sonnenuntergang sitzen, neben mir im Gras erschöpfte Schafe, die vermutlich wieder zu viele Äpfel verspiesen, und wir warten gemeinsam auf die Mondsichel, die ganz schmal sein und wie ein senkrechtes Lächeln am Himmel hängen wird.
Ich werde zurücklächeln. Und den Tisch decken. Mit den Freunden essen und reden, mich wohlfühlen. Und wissen, wie gut es mir geht. Wie unbeschreiblich gut in all dieser Schönheit.
PS
Am 19. Tag des Krieges Russlands gegen die Ukraine, als die Menschen ausharrten in den Schächten der Untergrundbahn von Kiew, sah ich auf einmal in einer Nachrichtensendung, mitten in der Bedrängnis, der Angst, der Enge, der Gefahr, ein Glas mit drei Tulpen stehen, dort auf dem Bahnsteig, mitten in der Not. Vielleicht waren es auch Nelken.