EINS
E s musste ja irgendwann so kommen, dass ich mir eines Tages bei der Arbeit zu viel spritzen und auffliegen würde. Dabei war ich mittlerweile außerordentlich geübt – Beschaffung des pharmazeutischen Morphins durch unauffälliges Abzweigen von Tarnbestellungen. Konsum in meiner Lieblingstoilette, draußen im Tierhaus, wo es niemand bemerkte. Die Spritze aus der Packung, diskret entsorgt über den Abfall im Tierhaus, ein kurzes Zusammenkneifen der Haut. Dann Ruhe . Es war die Ruhe, nach der ich mich sehnte. Mit der kleinen, sorgsam berechneten Dosis Morphin konnte ich während der Arbeit ruhen, ohne spürbare Auswirkungen auf meine Tätigkeit, die darin bestand, Statistiken auszuwerten, Fotos zu schießen und mir akribische Notizen zum Mienenspiel der Bonobos zu machen, welches ich über Kameras vom Studio aus verfolgte.
Außerdem schien ich in meinem Ruhezustand etwas an mir zu haben, das auch die Bonobos beruhigte. Die bejahrte Matriarchin Zaire gesellte sich oft zu mir, wenn ich mich an die Gitterstäbe vor dem Schlafbereich lehnte. Eigentlich durfte ich während der Studienphasen nicht ins Gehege, weil es natürlich die Ergebnisse verfälscht, wenn man zu präsent, zu nahe dran ist. So wie in der Physik, wo sich das Licht unter Beobachtung anders verhält, sich in Wellen oder Teilchen verwandelt, wie um dem Zuschauer zu gefallen, so verhält es sich auch bei Bonobo und Forscherin, wenn letztere ihren Beobachterstatus preisgibt. Aber ich liebte Zaire, und sie liebte mich, und gegen Ende der Ruhephasen achtete ich nicht mehr so genau darauf, was erlaubt war und was nicht. Entscheidend war, sich nicht erwischen zu lassen, doch selbst das verlor an Bedeutung. Ich wurde dreister, schlich mich nachts ins Gehege, legte mich auf den Wall aus Heuballen, stets darauf bedacht, nicht von der Kamera erfasst zu werden. Die Bonobos ließen sich, miteinander schwatzend, in meiner Nähe nieder. Zaire setzte sich des Öfteren neben mich. Einmal legte sie mir die Hand auf den Arm, und hätte ich mich nicht so benommen gefühlt, hätte ich geweint. Ich hatte keine Angst, wenn ich ruhte. Es war die Angst, vor der ich in der Ruhe Zuflucht fand.
Oft blickte ich während meiner heimlichen Ruhephasen im Gehege in den schwarzen Nachthimmel empor und fragte mich, ob sich die Bonobos für die Sterne interessierten. Wunderten sie sich darüber, dass der ihnen vertraute Himmel in manchen dunklen Nächten von einem Meer aus winzigen Lichtpunkten übersät war? Bonobos sind intelligent und emotional auf eine Weise, die Menschen verstehen und messen können. Sie leben in Beziehungssystemen, die man als Kultur beschreiben könnte. Sie verfallen oft in tiefe Grübeleien. Und sie sind sich ihrer selbst bewusst. Fragten sie sich, was aus ihren Artgenossen wurde, wenn sie sahen, wie die Alten, Gebrechlichen erkrankten und starben?
Ich argumentierte, als der Zeitpunkt für verzweifeltes Argumentieren gekommen war, dass ich durch eben diese Ruhetrips im Gehege über etwas gestolpert war, das einen wesentlichen Teil unserer Forschung ausmachte. Meine Entdeckung bestand darin, dass Bonobos den Tod als Gruppe verarbeiten, mit einer Art Ritual. Dieses Verhalten hatte zuvor noch nie jemand beobachtet. Ihr natürlicher Lebensraum tief im Kongo ist nur schwer zugänglich, und die Erforschung von Bonobos in Gefangenschaft ist relativ jung. Etwas Ähnliches hatte man erst kürzlich über Elefanten herausgefunden. Die Reviere von Elefanten in freier Wildbahn sind riesig, und die Bedingungen lassen sich in Gefangenschaft nicht reproduzieren, deshalb waren ihre komplizierten Trauerrituale lang unentdeckt geblieben.
Eines unserer Bonobo-Mädchen war seit jeher kränklich gewesen. So etwas kommt vor. Manchmal spürt ein Tier von Geburt an, dass es am falschen Ort ist, im falschen Körper, dass es unter der Herrschaft eines anderen Wesens steht. Solche Exemplare wollen einfach nicht so recht gedeihen. Sie sind schwach und gebrechlich, manchmal entwickeln sie Krankheiten. Doch selbst wenn nicht, sind sie von kleinem Wuchs, wirken von Beginn an verloren und warten, so scheint mir, immerzu auf das Ende, an dem das Bild ihrer Selbsterfahrung und die Wahrheit, die irgendwo dort draußen liegt, im sternenübersäten Himmel vielleicht, zusammenfinden.
So war es bei Dembe, einer Urgroßnichte von Zaire. In letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, im Dunklen zu sitzen, wie am Tor zur Unterwelt. Die anderen ließen sie schon bald in Ruhe, versuchten nicht mehr, sie in die Gruppe zurückzuholen. Gleich einem Bettler, an dem die Menschen geschäftig vorüberströmen, befand sie sich am Rande dessen, was die Gruppe ohne allzu großes Unwohlsein gerade noch ertragen konnte. Für unser Projekt war von Interesse, was das bedeutete. Dembe zeigte keinerlei Krankheits- oder Stresssymptome, zumindest keine, die die Kamera erfassen konnte, doch wenn ich im Gehege ruhte, registrierte ich durchaus etwas. In jüngster Zeit verfügte ich über die Wahrnehmung eines Beutetiers, als wäre ich dem Angriff kleinster emotionaler Signale hilflos ausgeliefert. Diese ließen sich zum größten Teil nicht belegen, sodass ich weniger wie eine Wissenschaftlerin klang, sondern eher wie ein wirrer Pilger, der von seinen Visionen berichtet. Beim Ruhen im Gehege war mir aufgefallen, dass Dembes Blick abwesend, aber nichtsdestotrotz recht friedvoll wirkte, als würde sie die Gruppe durch eine Glasscheibe beobachten. Ihre Mutter Kia schien sie vergessen zu haben und drehte sich meist von ihr weg. Doch ich wusste, sie hatte Dembe nicht vergessen. Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen .
Dembe war bald darauf gestorben. Sie hatte irgendwann einfach die Augen geschlossen und war im Schatten an die Wand gesunken. Binnen Sekunden war sie nur noch ein Bildnis ihrer selbst gewesen.
Die anderen Bonobos merkten sofort, dass der Tod eingetreten war: Von Aufregung erfasst riefen sich die Gruppenmitglieder allerlei zu und näherten sich Dembe, angeführt von Kia. Ihr Sohn, kleiner und jünger als Dembe, umkreiste sie und entblößte grinsend seine quadratischen weißen Zähne. Von meinem Ruheplatz auf den Heuballen aus nahm ich deutlich die Stimmung der Tiere wahr. Klebrig. Violett. Ich bekam Gänsehaut auf Armen und Brust.
Und dann griff Kia nach einer Gemüsekiste aus Holz, die ihr Sohn vorhin durch die Luft gewirbelt hatte, und pfefferte sie (von unten, um nicht dabei gefilmt zu werden – clever) an die Kamera, sodass die Linse zerbrach. Von den darauffolgenden Ereignissen gibt es nur meinen mündlichen Bericht, allerdings waren sie so außergewöhnlich, dass sie ohnehin keine Kamera umfassend hätte aufzeichnen können. Was für ein Jammer, dass ich zu diesem Zeitpunkt keine glaubwürdige Zeugin mehr war.
Sie trugen die tote Dembe in die Mitte des Geheges und räumten den Platz um sie herum frei. Dort lag ihr Körper dann, dunkel und amorph wie eine Qualle an Land.
Wieder schwappte die Stimmung der Gruppe wellenartig über mich hinweg. Meine Nackenhaare sträubten sich. Es war, als würden die Gefühle aus ihren offenen Mäulern sickern und miteinander verschmelzen. In mir machte sich eine Empfindung breit, als würde ein altes schmiedeeisernes Gatter oder ein Mühlrad herunterstürzen und eine rostige Fläche durchschlagen. Trauer hat etwas Metallisches. Dembes Leben war oxidiert, und wir alle konnten es spüren, schmecken, wie man das Eisen im Blut schmeckt.
Dann rannten sie im Gehege umher und suchten nach Material, um sie zuzudecken. Einen Fetzen Sackleinen, zerbrochene Bretter, ein paar Zweige. Sie begruben sie. Dieses Verhalten ist nicht unbekannt bei Wildtieren: Bären etwa bedecken tote Artgenossen mit Erde. Warum sie das tun, weiß man nicht genau. Doch bei Bonobos war derlei bislang nicht beobachtet worden. Zaire schwang sich auf ihren kräftigen Fingerknöcheln anmutig zu mir rüber. Die anderen folgten, und die Männchen, die etwas aggressiver waren, rupften an den Ballen, auf denen ich lag. Schließlich schubste mich Kias junger Sohn sogar leicht. Seine Augen blitzten auf wie Messer, seine Hand, schon jetzt so groß wie meine, fuhr wie eine Frettchenschnauze an meinem T-Shirt entlang.
Dieses wortlose Umkreisen (wortlos, aber nicht ohne eine eigene Grammatik; das Entstehen von Gewalt folgt einer strengen Grammatik, die manche von Geburt an lesen, andere von Geburt an schreiben können) erinnerte mich an die pubertierenden Gangs, die ich als junges Mädchen bisweilen passieren musste, diese Jungs, die schon Mann genug waren, um davon überzeugt zu sein, dass ihnen ein Teil von mir zustand – der Raum, den ich durchschritt, als Vorstufe dessen, was unter meiner Haut lag und was ich für mein Eigentum gehalten hatte. Ich bekam Angst und wälzte mich vorsichtig von meinem Ballen. Sie stürzten sich kreischend darauf, rissen ihn in Stücke und verteilten dann das Heu über Dembe, bis sie eine Erhebung in der Mitte des Geheges war, ein Heuberg, ein Scheiterhaufen. Wer weiß, was sie in freier Wildbahn getan hätten, oder wenn ihnen jemand – ich – ein Feuerzeug hingehalten hätte.
Ich hatte kein Feuerzeug. Ich hatte nichts als die Kleidung, die ich am Leib trug, Schlüssel und Ausweis und eine schmerzende Stelle in der Armbeuge. Sie ließen mich in Frieden, die Stimmung wurde aufs Neue klebrig, und sie sammelten sich in der von Dembes Leichnam am weitesten entfernten Ecke, drängten sich schnatternd zusammen, während Kia heulte – auch Bonobos weinen. Ich wurde von einer Welle der Erschöpfung erfasst, die so stark war, dass ich nicht anders konnte, als mich auf den Fliesen zusammenzurollen und zu schlafen.
So fand man mich am nächsten Morgen. Man beschuldigte mich, die Kamera demoliert zu haben. Man beschuldigte mich, den Leichnam mit Einstreu bedeckt zu haben. Kein Mensch interessierte sich für meinen Augenzeugenbericht. Und es war, wie konnte es anders sein, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte geglaubt, ich hätte meine Ruhephasen erfolgreich vertuscht, doch dem war nicht so, und meine Kollegen – insbesondere Cosima, die selbstgefällige Doktorandin – observierten mich schon seit geraumer Zeit.
Ich beschwor sowohl die Chefin der Personalabteilung als auch den Fachbereichsleiter, führte ins Rennen, dass mir die Tiere vertrauten, dass ich Dinge mitbekam, die unsere Kameras unmöglich erfassen konnten, dass meine Leistungsfähigkeit nicht gelitten hatte. Zugegebenermaßen stellten der Diebstahl von Morphin und die Einnahme während der Arbeitszeit grobes Fehlverhalten dar, daran gab es nichts zu rütteln, aber, aber, aber
Professor Charlie Grace, mein Mentor und besagter Fachbereichsleiter, wirkte betroffen in dieser Besprechung, bei der man mich über mein Schicksal informierte. Neugierig beobachtete ich ihn. Die Chefin der Personalabteilung, Gina Irgendwas, trug einen Lippenstift, der sich blau zu verfärben schien, während sie sprach. Wir saßen in einem winzigen Besprechungsraum, in dem bisweilen auch Vorstellungsgespräche geführt wurden. Ich versuchte, mich zu verteidigen. Die zwei Pfeiler meiner Argumentation waren:
1. Meine Arbeit hatte nicht gelitten.
2. Mir war es seit dem schrecklichen Vorfall nicht mehr so gut gegangen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht von dem umfangreichen Dossier über meine Vergehen, das Cosima zusammengestellt hatte. Die Qualität meiner wissenschaftlichen Arbeit stand außer Frage. Ich war, und als ich ihn in diesem Moment ansah, konnte ich mir ein verstohlenes, zärtliches Lächeln nicht verkneifen, Charlies Liebling. Ich hatte nur getan, was ich tun musste, um Ruhe zu finden. Natürlich bereute ich es zutiefst und würde es nie wieder tun. Ich würde mir auf andere Art Hilfe suchen. Wir waren uns alle einig, dass das Entwenden und Spritzen von Morphin am Arbeitsplatz inakzeptabel war.
Dabei behielt ich für mich, was mein Herz schrie: Aber es ging mir noch nie so gut wie jetzt!
Genauso wie die Wahrheit, die sich wie ein Maulwurf durch die Finsternis in meinem Gehirn buddelte: Morphin klebt die Schuppen wieder auf meine Augen.
Ich wusste, dass meine Romanze mit dem segensreichen Narkotikum enden musste. Ich dachte, tief im Herzen würde Charlie verstehen.
Aber seine Bestürzung und Kühle waren äußerst besorgniserregend.
Die beiden lauschten meiner wohlformulierten Argumentation anstelle der sorgsam unterdrückten Wahrheit. Ich lehnte mich erschöpft und mit schmerzenden Gliedern zurück und fügte hinzu: »Aber was sie mit Dembe gemacht haben … Unglaublich! Es war verblüffend. Wir sollten uns eingehender damit befassen, Charlie. Ausdruck der Trauer bei Bonobos.«
Niemand sagte etwas. Charlie sah mich nicht an. Das Unbehagen in dem Kabuff, in dem wir saßen, wirkte auf mich wie ein inertes Gas, das mich zu ersticken drohte.
Gina hustete, ein Zittern ging durch ihre Satinbluse. »Wir haben folgendes Problem, Dr. Bloom: Aufgrund der Schwere Ihres Vergehens ist das Procedere, das bei Disziplinarverfahren für gewöhnlich zur Anwendung kommt, ausgeschlossen. Wir wissen, dass Sie … ähm … seit dem … Vorfall zu kämpfen haben. Auf Geheiß von Professor Grace haben wir über andere Verstöße hinweggesehen, weil er uns versichert hat, dass Sie auf dem Wege der Besserung sind, und weil er uns – völlig zu Recht – an unsere Fürsorgepflicht erinnert hat. Und natürlich kann ich Ihnen versichern, dass wir Sie sowohl fachlich als auch menschlich ungemein schätzen.«
Ihre Augen waren umrahmt von Metallic-Lidschatten, der eine Spur heller war als die Iris. Die Wirkung war sehr irritierend – ihr Gesicht erschien mir so groß wie unser Sonnensystem, ich blickte in zwei Saturne mit ihren Gasringen. Ich nahm keine wie auch immer geartete Wertschätzung von ihrer Seite wahr, weder für meine menschlichen noch für meine fachlichen Qualitäten.
»Doch die Ereignisse der vergangenen Nacht müssen, wie Sie sicher verstehen werden, die sofortige Kündigung zur Folge haben. Sie haben nicht nur auf dem Institutsgelände gegen das Gesetz verstoßen, sondern mit ihrem Verhalten auch unsere Sicherheit gefährdet, ganz zu schweigen von der potenziellen Verfälschung von Forschungsergebnissen. Wir versuchen, kreativen Menschen und ihrer exzentrischen Ader so weit als möglich entgegenzukommen« – an dieser Stelle verriet Ginas abstoßendes Lächeln, dass sie sich für das Musterexemplar einer kreativen Exzentrikerin hielt –, »aber diesmal sind Sie zu weit gegangen. Sie brauchen Hilfe. Professionelle Hilfe.«
Ich stierte Charlie mit offenem Mund an. »Charlie?«
Mein teurer Freund und Mentor holte tief Luft.
»Es tut mir leid«, murmelte er, an seine Knie gewandt.
Draußen sagte er: »Wenn du ein Arbeitszeugnis willst, schreibe ich es dir privat. Lass mich wissen, wie es dir geht.«
Ich sagte: »Darf ich noch einmal zu den Bonobos? Mich von Zaire verabschieden?«
Er schüttelte den Kopf. »Man wird dich nicht mehr reinlassen, Frieda.«
Ich hätte mir gern eingeredet, dass seine Augen feucht glänzten, als er mich umarmte und das Schlüsselband mit meinem Ausweis entgegennahm. Er beharrte darauf, dass ich meine Karriere nicht mit einer Busfahrt beenden dürfe, also stand ich verlegen auf dem Parkplatz herum, während er ein Taxi bestellte. Zu Hause angekommen, rief ich ihn an, um zu eruieren, was da gerade geschehen war. Fast hätte ich gefragt: Ist es zum Schlimmsten gekommen? , obwohl es zum Schlimmsten ja bereits vor ein paar Jahren gekommen war. Nichts konnte auch nur annähernd so schlimm sein. Ich wusste nicht recht, wie ich die Tatsache einordnen sollte, dass ich aufgrund groben Fehlverhaltens meine geliebte Stelle in diesem Pantheon verloren hatte. Es war, als würde ich meine CD s nach ihrer Bedeutung für mich ordnen, obwohl längst das Haus in die Luft geflogen war.