ZEHN
E
s gab eine Bank, zu der ich gern spazierte, ganz oben auf der Hügelkuppe. Von dort konnte ich den gesamten Torbet Zoo sehen, sämtliche Einfriedungen und Sektionen lagen vor mir ausgebreitet. Ich gehöre zu den Menschen, deren Verstand stets nach Mustern Ausschau hält, und ich ließ den Blick gern auf jenen ruhen, die hier durch die Gehege entstanden. Ich fühlte mich an die Ausdrucke mit den Lautäußerungen der Bonobos erinnert, die ich am Institut analysiert hatte, um herauszufinden, was die Bonobo-Babys zu kommunizieren versuchten. Fakten, Muster, Zahlen … All das führte zu besserem Verständnis. Jedenfalls war es früher so gewesen. Irgendwie war mir mein bisheriges Gespür im Umgang mit der nüchternen Wahrheit abhandengekommen.
Hier oben an der Peripherie des Zoos waren nur einige wenige Tiere untergebracht, viele davon zählten zu den »glanzloseren« Exemplaren – die seltenen Antilopen beispielsweise, bei denen außergewöhnliche Züchtungserfolge zu verzeichnen waren, aber auch solche, die der Isolation bedurften.
Im Augenblick war ich hier oben, weil die Elenantilope ausgebüchst war. Die Elenantilope könnte man als den etwas missglückten ersten Versuch bei der Erschaffung der Giraffe bezeichnen: nicht ganz so hoch aufgeschossen und auch nicht so wunderschön gemustert, aber wie die Giraffen mit einem überdurchschnittlich langen Hals und ebenso langen Wimpern
ausgestattet. Unsere Elenantilope war dem Zoo gespendet worden, ehe ein passendes Gehege für sie aufgetrieben oder konstruiert werden konnte, weshalb sie nun hier oben auf einer quadratischen Koppel mit zertrampeltem Gras ein eher tristes Dasein fristete. Auf der Koppel stand ein einzelner Baum, dessen Laub das Tier soweit als möglich abgegrast hatte, sowie ein einsamer Pfosten, von dem ein Netz mit Heu hing.
Die vernachlässigte Elenantilope (dass sie noch nicht einmal einen Namen hatte, verdeutlicht das Ausmaß der Vernachlässigung), war streitbar und clever, und sie war abgehauen. Geglückt war ihr dies dank eines morschen Holzpflocks in der Einfriedung, den sie so geflissentlich ignoriert hatte, dass er auch sonst niemandem aufgefallen war. Die Anzahl der infrastrukturellen Schwachstellen in diesem Zoo ist groß; viele Umzäunungen sind reparaturbedürftig oder morsch und werden oft nur noch von gutem Willen und den Heimwerkerfähigkeiten der Wärter zusammengehalten. Die Vernachlässigung der Elenantilope spiegelte sich auch in der Tatsache, dass man ihre Intelligenz und ihren Wunsch nach einem schöneren Leben unterschätzt hatte, und so hatte sie lediglich geduldig abwarten müssen, bis der Holzpflock so morsch war, dass er sich mit einem kräftigen Tritt zu Fall bringen ließ. Auf diese Weise war sie entkommen und tat sich nun auf den Wiesen und in den Wäldern rund um den Zoo gierig am verbliebenen Laub der Bäume gütlich. Sie hatte vermutlich bereits mehrere Stunden lang ihre Freiheit genossen, ehe ein Pfleger ihr Fehlen bemerkte und über Funk einige Kollegen zum Hügel beorderte, um sie wieder einzufangen.
Wir sichteten sie auf einer Lichtung im Wald, wo sie mit geradezu verblüffender Eleganz die Vorderläufe an einen Baumstamm gestemmt hatte und sich mithilfe ihrer langen Zunge die Zweige in den Mund führte, während die Sonne goldene Streifen auf ihr Fell malte. Sie war wie ausgewechselt in dieser
Umgebung, die ihrem natürlichen Lebensraum zumindest ansatzweise ähnelte, fast als hätte sie ihr albernes Weder-Fisch-noch-Fleisch-Aussehen vorübergehend abgestreift.
Wir schlichen zwischen den Bäumen hindurch auf sie zu in dem Bestreben, eine Kette zu bilden, sie auf offenes Gelände zu treiben und schließlich mit sanfter Gewalt zur Rückkehr in ihr Gehege zu bewegen. Kaum hatte sie unsere Anwesenheit registriert, war es mit der Zufriedenheit in ihrem Blick vorbei – sie trottete tollpatschig los, geriet in Panik, verfing sich in Sträuchern, kollidierte mit Baumstümpfen, schlug Haken, ihre braunen Augen schimmerten. Ich empfand Mitleid mit ihr, hegte die Hoffnung, es möge ihr gelingen, uns abzuhängen. Doch selbst wenn sie es schaffte, diesem bunt zusammengewürfelten Geschwader zu entkommen, wo sollte sie hin? Sie war auf dem Holzweg, heimatlos.
Nach einer Weile ließ sie den Wald hinter sich und sprengte über die Fluren, in einem ungestümen Galopp, bei dem der Hautlappen an ihrem Hals heftig baumelte. Unser Trupp stürmte hinterdrein, Gabriel setzte sich an die Spitze, den Blick auf die Antilope geheftet. Seine Baseballmütze flog davon, als er noch einen Zahn zulegte, dennoch erschien es in Anbetracht ihres Vorsprungs unmöglich, dass er sie einholen würde. Wir beobachteten fasziniert die katzenhafte Mühelosigkeit, mit der er sich bewegte. Jeder seiner riesigen, federnden Schritte glich einem Sprung, die Finger waren zusammengepresst, sodass seine Hände gleich Messerklingen die Luft zerschnitten. Die Antilope wurde langsamer; Ausdauer zählt nicht zu ihren Stärken. Um ihn zu täuschen, begann sie, Haken zu schlagen wie ein Hase.
Das war der Moment, in dem Gabriel auf Raubkatzenmodus umschaltete: Als sie das nächste Mal abrupt die Richtung änderte und in dem Versuch, ihn abzuschütteln, an ihm vorüberpreschte, machte er einen gewaltigen Satz nach vorn. Er segelte
gleichsam durch die Luft, ein Manöver, wie ich es bis dahin nur bei wilden Tieren, nicht aber bei Menschen beobachtet hatte.
Noch im Zusammenprall packte er die Antilope an den Hinterläufen, brachte sie brutal zu Fall und rappelte sich, kaum dass sie mit einem hörbaren Plumpsen auf der Erde gelandet war, auf, um sich schwer auf ihren Schultern niederzulassen und sie so am Aufstehen zu hindern.
Die Antilope hatte Schaum vorm Mund und verdrehte heftig schnaubend die Augen, während Gabriel ihr den Hals so weit es ging nach hinten bog. Jemand drückte mir ein Stück Seil in die Hand, das ich ihr hastig um die Läufe zu schlingen versuchte. Als sie sich frei strampelte, drehte sich Gabriel zu mir herum und hielt die schlanken Fesseln fest, bis ich sie zusammengebunden hatte. Mehrmals rutschte mir dabei das Seil durch die Finger, die Enden stahlen sich aus den Knoten, doch unter Gabriels Blick machte ich umso entschlossener weiter, sah keine Antilope mehr, sondern nur noch Gliedmaßen, die es zu bändigen galt.
Genau das hatte mir Gabriel an meinem allerersten Tag zu erklären versucht: Es gibt in der Natur nur Jäger und Gejagte. Ich hatte ihm widersprochen, nicht nur einmal, doch das soeben Erlebte illustrierte unleugbar, dass es stimmte. In der Natur geht es um Kraft und Geschwindigkeit und Macht, und nur allzu häufig wird das Streben nach Freiheit im Keim erstickt.
Ich verspürte den Drang, mich auf die Gewinnerseite zu schlagen. Denn was für ein Schicksal blühte mir anderenfalls? Das hier? Ich tätschelte der gefesselten Antilope die Flanke. Gabriel hatte ihr unterdessen einen weiteren Strick um den Hals geknüpft und schob ihr, ehe er sich seitwärts von ihr herunterwälzte, Zeige- und Mittelfinger in die Nasenlöcher. Ich hatte gelesen, dass sich mit diesem Griff selbst ausgewachsene Bullen zu widerstrebender Unterwürfigkeit bewegen lassen.
Gemeinsam halfen wir der Antilope auf die Beine und
stützten sie, während sie zu ihrem Gehege trippelte. Dort hämmerten gerade zwei Wärter das Loch in der Umzäunung mit Brettern zu, ein dritter suchte nach etwaigen weiteren Schwachstellen. Bis sie fertig waren, wurde die Antilope an einem Pfosten festgebunden. Ihre Augen glänzten wie riesige Wassertropfen, ihr langer Hals hing traurig durch.
Ich ging zu ihr, um sie zu streicheln, doch sie wich vor mir zurück, soweit die Stricke es erlaubten, und verdrehte in ihrer Panik die Augen.
»Lass sie«, rief Gabriel. »Sonst stranguliert sie sich noch. Dumme Pute. Die Antilope, nicht du.« Er grinste.
Kurz vor Feierabend verkündete Gabriel: »Party im Gästehaus!« Der Großteil der Wärter folgte seiner Aufforderung gut gelaunt, nur einige Wenige gingen nach Hause zu ihrer Familie. Ich hatte bereits von den legendären Partys im Gästehaus gehört. Angeblich dauerten sie die ganze Nacht, und alle waren eingeladen. Die erste Gelegenheit für mich, Leute kennenzulernen, mit denen ich nicht direkt zusammenarbeitete. Es würde Alkohol geben. Vielleicht wurde es ja ganz lustig.
Das Gästehaus verfügte über ein großes Wohnzimmer und eine Gemeinschaftsküche, die ich jedoch normalerweise mied, wenn sich andere Bewohner dort aufhielten. Ich zog es vor, mir etwas auf meiner kleinen Kochplatte zu essen zu machen. Mittlerweile war mir auch aufgegangen, warum Gabriel nicht bei seinem Vater im Haupthaus wohnte: Das Verhältnis der beiden war unwiderruflich zerrüttet.
Ich warf meine hässliche, verdreckte Uniform in eine Ecke meines Zimmers und kramte in der Schublade meines Schranks nach einem für eine Party geeigneten Kleidungsstück. Allzu groß war die Auswahl nicht. Ich hatte genau ein Kleid mitgenommen, in erster Linie deshalb, weil es sich klein zusammenknüllen ließ, aber auch, weil es ausgesprochen fröhlich wirkte.
Es war elfenbeinweiß und mit Rosen bedruckt, und ich hatte es seit über zwei Jahren nicht mehr getragen. Diese Frau ist fröhlich. Es macht Spaß, mit ihr zu plaudern,
signalisierte es. Genau das hatte ich seit jeher an diesem Kleid gemocht, dachte ich, während ich es mir über den Kopf zog: Es verriet etwas über mich, ohne dass ich ein Wort sagen musste. Beim Anziehen war ein Gegenstand aus der Tasche gefallen, den ich die ganze Zeit über kein einziges Mal verwendet hatte: ein Lippenstift. Ich hob ihn auf und ging ins Bad.
Der Lippenstift lag warm in meiner Hand. Dass ich ihn aus meinem alten Leben in mein neues mitgebracht hatte, war ein Ausdruck der Hoffnung. Hoffnung
. Wenn ich es laut aussprach, formte ich dabei die Lippen zu einem O und konnte den Stift über sie gleiten lassen.
Ich nahm die verdreckte Arbeitsmütze ab und ersetzte sie nach einem Blick auf mein Haar, das mir traurig am Kopf klebte, durch eine hübsche blaue, die ich irgendwann gekauft hatte, nur für den Fall, dass sich einmal eine Gelegenheit ergeben würde, sie zu tragen.
Das hübsche Kleid, dazu das adrette Blau der Mütze über dem Gesicht – so gut hatte die andere Frieda schon seit einer ganzen Weile nicht mehr ausgesehen. Leider würde ich dazu Turnschuhe tragen müssen, nicht die ideale Kombi, aber der Gesamteindruck blieb heiter-optimistisch. Ich nickte meinem Spiegelbild zu und begab mich nach unten.
In einer Ecke des Aufenthaltsraumes stand ein altersschwaches Klavier, und kaum trudelten die ersten Gäste ein, nahm Morris auch schon auf der Klavierbank mit dem zerschlissenen Bezug Platz und begann zu spielen. Er hatte einige überraschend tanzbare Rock-Balladen im Repertoire. Sein Kopf wippte auf und ab wie eine Anemone in der Strömung. Er lächelte nicht und redete auch mit niemandem, und als ich anbot, ihm etwas zu trinken zu holen, ignorierte er mich
.
Ich ließ mich mit einem kalten Bier auf dem Sofa nieder und blinzelte entschlossen meine Fantasien von den Ketamin-Valium-Spritzen oben in Leylands Büro fort. Gabriel hatte aus den Spirituosen, die sich in den diversen Zimmern des Gästehauses gefunden hatten, ein mauvefarbenes Gebräu zusammengemischt, das er mit einem »Ta-daaa!« auf den Couchtisch stellte. Er zwinkerte mir zu und verschwand, ehe ich reagieren konnte. Nicht, dass ich eine Reaktion auf Lager gehabt hätte. Er bewegte sich von Grüppchen zu Grüppchen, lachend, die natürliche Ordnung wiederhergestellt, und damit auch sein Selbstvertrauen.
Jemand legte eine Tüte Chips auf den Couchtisch. Morris spielte ohne Pause. Inzwischen war er zu Abba übergegangen und variierte die Themen mit virtuosen Schnörkeln. Wie es schien, brachte er in der Musik seinen Humor zum Ausdruck, und auch jede andere nicht-feindselige Emotion. Er spielte alles aus dem Gedächtnis, seine spindeldürren Finger hüpften mal wie Springspinnen in die Höhe, mal jagten sie über die gesamte Länge der Klaviatur.
Ich ging in die Küche und kippte Fanta und Wodka in ein Pintglas, und auf dem Weg zurück in den Aufenthaltsraum registrierte ich die ersten Anzeichen eines alkoholbedingten Hochgefühls. Das Ziehen schien aus den Fasern meiner Muskeln zu schwinden. Inzwischen war das Sofa besetzt, also stellte ich mich etwas unbeholfen daneben und schob mir eine Handvoll Chips in den Mund. Morris erhob sich ohne Vorwarnung vom Klavierhocker, nahm seine Jacke und ging. Ein Jungspund, den ich schon mal gesehen zu haben glaubte – ein Pinguinpfleger? –, tippte auf ein iPad, und aus den beiden riesigen Lautsprechern dröhnte ein mir unbekannter, lebhafter Song, gefolgt von etlichen weiteren. Mein Halbliterglas Fanta mit Wodka war leer. Ich würde mir Nachschub holen müssen. In der Küche herrschte ein Chaos, als hätte ein Kind
inszeniert, was es sich unter einer Erwachsenenparty vorstellt: überall Tüten, Limoflaschen, Chips, zerfledderte Weißbrotscheiben und billiger Käse. Dazwischen Bierdosen, manche leer und zerquetscht, andere halbvoll, der Inhalt warm geworden, sowie mehrere Flaschen mit süßem Wein und Hochprozentigem, hervorgekramt, weil es sonst nichts gab: Cointreau, Baileys, dubiose Fertig-Cocktails.
Mehr Wodka, diesmal mit abgestandener No-Name-Cola aus einer knirschenden Literflasche. Mittlerweile schwirrte mir der Kopf. Um mich herum Gejohle und das Knallen von Konfettikanonen. Wenn ich die Augen schloss, vibrierten meine Lider. Der Jungspund schloss eine Reihe Party-Scheinwerfer an das iPad an, die den Aufenthaltsraum in orangefarbenes, blaues, rotes Licht tauchten. Erst jetzt fiel mir die Diskokugel auf, die in der Mitte des Raumes von der Decke hing. Sie war die ganze Zeit über da gewesen, hatte nur darauf gewartet, zum glitzernden Epizentrum des Geschehens zu werden.
Die Möbel wurden an die Wände geschoben. Es wimmelte vor Leuten; Leuten, die ich nicht kannte. Weitere Zooangestellte vermutlich, die im Shop oder in der Gastro arbeiteten. Möglicherweise starteten die Pfleger auch einfach einen Rundruf, wenn eine Party stieg. Gabriel kam in Jeans und T-Shirt aus seinem Zimmer und begann mit Kizzy, der gertenschlanken Kioskverkäuferin, zu tanzen. Ich schlürfte meinen Drink und gab mir Mühe, ihm nicht dabei zuzusehen. Aber außer ihm gab es nichts zu sehen. Er war das einzig Schöne im Raum.
Er hatte einen Arm über Kizzys Schulter drapiert, sie hielt ihn eng umschlungen und ließ die Hände an seinem Rücken auf und ab wandern, während sie sich schreiend unterhielten. Es war Kizzys kaleidoskopartig im Dunkel aufleuchtendes Gesicht, in dem sich die nüchterne Tatsache seiner Schönheit spiegelte. Ihre Züge waren verzerrt vor Verlangen. Er konnte mit ihr tun und lassen, was er wollte
.
Ich trat nach hinten in den Schatten und umklammerte mein Glas. Ich hatte schreckliche Angst. Dicke rote Lichtbalken wanderten blinkend, pulsierend über mein Kleid. Es sah aus, als hätte man auf mich geschossen und dann den Film zurückgedreht zu der Sekunde, bevor es geschah. Ich war hin und hergerissen zwischen dem Drang zu gehen und dem Drang, quer durch den Raum zu marschieren, mir das Kleid vom Leib zu reißen und mich nackt vor Gabriel zu postieren. Nun, da ich es gedacht hatte, fürchtete ich, ich könnte es tatsächlich tun, gerade so, als stünde ich auf einem Hochhaus, versucht zu springen. Ich begann, mir selbst streng ins Gewissen zu reden wie eine Ärztin, eine, die mir eine Tablette gegen die Stromstöße geben konnte, bei denen mir die Lippen taub wurden und es mir die Augen weit aufriss. Ich flehte mein Getränk, die imaginäre Ärztin, ja, selbst Gott an, mich in Sicherheit zu bringen, ganz egal wohin – zu Charlie, zu Zaire, irgendwohin, wo sich eine Glasscheibe zwischen mir und dem befand, was mich zu überwältigen drohte, was auch immer es sein mochte. Als Gabriel den Kopf beugte, um Kizzy zu küssen, wandte ich mich nach Luft schnappend ab.
Ich stand vor einem hohen CD
-Regal, also versuchte ich, die CD
-Rücken zu studieren, doch ich starrte sie bloß an, es war zu dunkel. Die Zeit verging. Jemand kam und goss mir mauvefarbenen Punsch ins Glas. Ich trank. Irgendwann ging ein Raunen durch die Anwesenden, Gelächter. Ich sah, wie Gabriel mit der reichlich zerzausten Kizzy aus seinem Zimmer auftauchte. Sie umklammerte seinen Arm, trug nur noch ein Unterhemd, Gabriel war in ihr T-Shirt mit Playboy-Häschen-Aufdruck geschlüpft. Es war ihm viel zu klein, gab den Blick auf seinen nackten Bauch frei, an den Ärmeln hatten seine Schultern die Nähte gesprengt. Sein Körper hatte ihr T-Shirt zerfetzt, und dennoch klebte es wie hypnotisiert an ihm. Es sah aus, als würde Kizzy selbst in Fetzen an ihm
herunterhängen. Er machte sich von ihr los und ging allein in die Küche.
Und ich, die ich eben noch die CD
s betrachtet hatte, stand plötzlich direkt vor ihm, in meinem fröhlichen Kleid, mit meinen optimistisch geschminkten Lippen. Ich staunte selbst über meine Willenlosigkeit, darüber, dass ich die Gefahr zwar so korrekt eingeschätzt hatte wie ein Reh, das sich in der Nähe eines Tigers aufhält, und mich ihm dennoch quasi auf dem Silbertablett präsentierte.
Gabriel besah prüfend die kümmerliche Auswahl an noch vorhandenen Getränken, ließ die Finger über die Flaschenetiketten wandern in dem Versuch, sich auf die Aufschriften zu konzentrieren. »Ingwerwein? Was zum Teufel soll denn das sein? Wo ist der Wodka?«
Ich berührte seine Hand und spürte in der Millisekunde, ehe er sie wegzog, die gleiche bedeutungsvolle Wärme seiner Haut wie bei ihrer ersten Begegnung.
Er hielt die Hand in größtmöglicher Entfernung von der meinen und blickte auf mich hinunter, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen. Dann beugte er sich über mich, kam mir so nah, dass ich schon annahm, er wolle mich noch einmal küssen. Ich hob sogar das Kinn ein wenig an.
»Was zum Teufel ist in dich gefahren?«, lallte er, trat einen Schritt zurück und sah zu den Leuten, die in die Küche gekommen waren und uns beobachteten.
»Nichts«, sagte ich. »Gar nichts ist in mich gefahren.« Schweigen senkte sich über uns herab, schwer wie ein Fels. Ich war benommen und verwirrt, weil ich alles so völlig falsch eingeschätzt hatte. Die Situation kam mir surreal vor. Mir war, als wäre ich durch eine Tür getreten, hinter der ich, sagen wir, einen Pool vermutet hatte, und nun stellte sich heraus, dass man mich in einen Fluss werfen wollte, um zu testen, ob ich eine Hexe war. Und das Seltsamste daran war, dass der Mann,
der die Steine an meinen Hand- und Fußgelenken befestigte, das schönste Geschöpf war, das ich je gesehen hatte.
Wie sehr sehnte ich mich danach, von Charlie fortgeführt zu werden, doch er war nicht zur Stelle, und er würde es auch nie sein. Wie sehr wünschte ich, wieder neben Zaire auf den Strohballen zu liegen, auch das vergebens. Diese Welt blieb mir verschlossen. Niemand, nicht einmal ich selbst, konnte mich vor dem bewahren, was nun geschehen würde. Meine eigenen Beine hatten mich hierher getragen, zu Gabriel. Mein eigener Körper hatte mich verraten.
»Ich wollte nur sagen, das mit dem Job tut mir leid. Ich habe nicht darum gebeten. Ich …«
Gabriels riesige Hand schnellte nach vorn und zerrte mir die Mütze vom Kopf. Er stülpte sie sich über die schwarzen Locken, dann riss er den Küchenschrank neben sich auf, schraubte ein Marmeladeglas auf und schmierte sich den roten Inhalt über die Lippen.
»Das mit dem Job tut mir leid«, äffte er mich mit Fistelstimme nach. Die Umstehenden schnappten nach Luft.
Ich fasste mir hastig an den Kopf, um meine Haare vor ihren Blicken zu verbergen. Meine Worte stoben davon, flohen wie Ratten: Hör auf, mir nachzulaufen, hör auf, überall aufzutauchen, wo ich bin, lass Luna und mich in Ruhe.
Zur Belohnung rammte mir Gabriel ohne Vorwarnung von unten die Faust zwischen die Beine, so kräftig, dass er mich dabei halb auf die Anrichte hob. Ich schrie auf vor Schmerz.
»Das ist es, was du willst, stimmt’s?«, zischte er mir ins Gesicht. Ich starrte ihm entsetzt in die Augen – glitzerndes Blau rund um ein dunkles Zentrum –, suchte in ihnen vergeblich nach einer Erklärung. Meine geliebte Mütze war über seinen Locken bis zum Anschlag gedehnt. Ich roch die Marmelade, nur Zentimeter von meinem Mund entfernt.
»Was zum Teufel bist
du überhaupt?«, fauchte er. Die
Abscheu in seinem Tonfall schweißte mich förmlich in seine Frage ein. Ich hatte keine Antwort.
Er zog die Hand weg, und ich sackte zu Boden. Die anderen Tierpfleger starrten mich an. Keiner von ihnen kam mir zu Hilfe. Gabriel riss sich meine Mütze vom Kopf, wischte sich den Mund damit ab und warf sie mir vor die Füße, ehe er sich durch die Umstehenden drängte und in den Aufenthaltsraum zurückkehrte. Ich sank mit einem leisen Stöhnen vornüber, den Kopf in die Hände gestützt, darum bemüht, mir nicht an die schmerzende Stelle zu fassen.
»Herrgott nochmal! Geht aus dem Weg, ihr verdammten Ungeheuer!« Leyland ging neben mir in die Hocke. Seine knotigen Finger schlossen sich sanft um meinen Arm. »Kommen Sie mit, Frieda.«
»Nein … nein«, murmelte ich.
»Sie kommen mit«, beharrte Leyland.
Die Musik wurde noch lauter, die Küche hatte sich geleert. Ich rappelte mich auf, griff nach meiner klebrigen Mütze und setzte sie wieder auf. In meiner Verstörtheit wusste ich nicht, was ich tun, wie ich den Raum verlassen sollte. Leyland bugsierte mich behutsam hinaus und den Korridor entlang. Hinter uns verklang die Partymukke.
Draußen war es dunkel. Ich begann zu weinen, an den Pfleger gelehnt, der mich nun über die steinerne Treppe und zu seinem Traktor führte.
»Ich bin stocknüchtern … hab heute Nachtschicht … wollte noch einen Stapel Bretter umlagern, die vom Gehegeumbau übrig sind … Naja, ehrlich gesagt wollte ich bloß rauf zum Hügel und mich ein Weilchen auf die Bank dort oben setzen«, gestand er verlegen. »Gabriel …« Er schüttelte den Kopf. »Sollen wir zur Polizei gehen?«
»Zur Polizei? Himmel, bloß nicht.« Mir wurde heiß vor Scham
.
»Der Kerl ist doch verdammt nochmal nicht ganz richtig im Kopf!«
»Ich hätte wohl besser …« Ich wusste nicht so recht, was genau ich besser hätte bleiben lassen sollen – alles eben, gar alles, und vor allem hätte ich niemals diesen furchteinflößenden Gefühlen nachgeben dürfen.
»Gabriel hinterlässt, wo er auftaucht, eine Spur der Verwüstung«, knurrte Leyland. »Kommen Sie, steigen Sie ein. Ich hab hier vorn eine Thermoskanne Kaffee.«
Der Motor röhrte auf und hüllte uns in eine Wolke Dieselgestank. Oben beim Schießstand angekommen, parkte Leyland den Traktor etwas abseits des Weges.
Ich nippte an dem starken, gesüßten Kaffee und spürte, wie sich der Nebel in meinem Kopf ein wenig lichtete.
»Na, besser?«
Ich nickte.
»Sie wissen, dass dieses Schwein meine Frau gefickt hat.«
Es widerstrebte mir zuzugeben, dass Morris es mir erzählt hatte.
Leyland holte sein Handy aus der Tasche, scrollte durch eine Reihe Fotos und tippte schließlich auf ein Bild von einer fröhlich lächelnden jungen Frau. »Das ist sie – Gail. Meine zweite Ehefrau.« Er hielt mir das Handy hin. »Sie ist deutlich jünger als ich. Beim zweiten Mal hatte ich das bessere Händchen.«
»Sie sieht sehr glücklich aus.«
»Wir waren auch glücklich.« Er vergrößerte das Bild mit zwei Fingern, betrachtete es prüfend. »Wobei es gut sein kann, dass schon was zwischen den beiden lief, als dieses Foto entstanden ist.« Er schwieg, noch immer in die Betrachtung des Bildes vertieft. »Sie leugnet es natürlich. Sie behauptet, es hätte erst danach angefangen.« Er sah zu mir, sein Gesicht erhellt vom leuchtenden Display. »Was meinen Sie?« Verzweiflung spiegelte sich in seiner gütigen Miene
.
»Ob ich glaube, dass sie schon etwas mit Gabriel hatte, als dieses Foto entstanden ist?«
»Ja.«
Ich nahm das Handy und betrachtete Gail eingehend. »Ich finde, dafür wirkt sie zu glücklich. Sie haben ja gerade gesehen, wozu er fähig ist.«
Erleichterung huschte über sein Gesicht, und erst da wurde mir bewusst, dass das, was ich für Apathie gehalten hatte, in Wahrheit eine Maske der Traurigkeit war. »Dieser verdammte Scheißkerl ist ein absolutes Monster.«
Ich gab Leyland das Handy zurück, unfähig, etwas zu sagen.
»Sie ist nur noch bei mir, weil er ihr den Laufpass gegeben hat. Sie hatte schon ihre Taschen gepackt, müssen Sie wissen. Meine Ehefrau ist zum Gästehaus marschiert und hat Gabriel angefleht. Vor versammelter Mannschaft hat sie ihn angebettelt, nicht Schluss zu machen. Was, bitteschön, soll man da als Ehemann machen?« Er sah mir ins Gesicht. »Sagen Sie es mir. Was soll ich tun?«
»Ich weiß es nicht, Leyland.«
Die Stelle zwischen meinen Beinen schmerzte noch immer. Das gab garantiert einen saftigen Bluterguss. Unter der Decke meiner Benommenheit flackerte Zorn auf. Ich legte Leyland eine Hand auf den Arm. »Halten Sie ihn von den Tigern fern. Sie sind das Einzige, was ihm wirklich wichtig ist. Es macht ihn wahnsinnig, dass er nicht zu ihnen darf.«
»Ja, nicht wahr?« Er grinste, von frischer Energie erfüllt. »Und dass Sie seinen Job gekriegt haben, macht es noch schlimmer. Nur deshalb hat er das vorhin getan, das ist Ihnen doch klar, oder? Das ist die einzige Freude, die mir im Leben noch geblieben ist: diesen Wichser von seinen geliebten Tigern fernzuhalten, auch wenn Sie bedauerlicherweise ins Kreuzfeuer geraten sind.
«
»Ich schätze, irgendetwas wäre ohnehin passiert«, winkte ich ab.
»Die Frauen sind total verrückt nach ihm, oder? Wie kommt das nur?«
Meine Gedanken kehrten flüchtig zurück zu meinem verängstigten inneren Monolog vorhin im dunklen Aufenthaltsraum. »An meinem allerersten Tag hier hat er mir erklärt, dass es in der Natur nur Jäger und Gejagte gibt, dass beides untrennbar miteinander verbunden ist. Gier und Angst. Ich glaube, er hat sogar versucht, mich zu warnen. Vor dem, was er ist.« Ich trank den letzten Schluck Kaffee. »Eigentlich ist es total krank. Ihre Frau und ich, wir haben vergessen, was wir sind.«
Leyland schwieg eine Weile. Dann sagte er leise: »Ich hoffe, Sie wissen, dass mein Kampf gegen Gabriel nicht der einzige Grund dafür ist, warum Sie in meiner Abteilung sind. Sie können gut mit Tigern umgehen. Mindestens genauso gut wie Gabriel.«
Wir sahen uns an. »Wir hätten wegziehen sollen, Gail und ich. Woanders neu anfangen. Aber ich kann nicht ohne sie – ohne die Tiger, meine ich. Vielleicht war das ja von Anfang an das Problem. Dass ich die ganze Zeit hier war. Diese Arbeit ist alles, was ich kenne. Sie ist mein Leben. Ich bin gewissermaßen hier gefangen.«
»Ist mir nicht fremd, dieses Ausmaß an Engagement.« Um ein Haar hätte ich ihm von Zaire und dem Institut erzählt, aber ich hielt mich zurück. Plötzlich verspürte ich den Drang, allein zu sein, ein paar Schritte zu gehen, mich geistig zu sammeln. »Ich geh dann mal wieder runter, okay? Danke. Es geht mir viel besser. Ich muss mir nur noch ein wenig die Beine vertreten, den Kopf auslüften.«
»Sind Sie sicher?«
Ich nickte und schwang mich vom Beifahrersitz. »Bis morgen, Leyland.
«
Er ließ den Motor aufheulen, und der Traktor rollte davon.
Ich zog kurz in Erwägung, den Bonobos einen Besuch abzustatten, doch dann schlug ich auf noch etwas wackligen Beinen den Weg zu den Tigern ein. Hoch über mir war der Himmel von Sternen und einer perfekt geformten Mondsichel erhellt. Der Gibbon ließ ein letztes Mal seinen Ruf hören, ehe er sich für die Nacht zurückzog. Und dann stand ich allein vor der Glasfront und ließ den Blick durch das von Schatten erfüllte Tigergehege wandern. Ich wollte Luna sehen, wollte ergründen, was genau an diesen Tieren einen Mann dazu bringen konnte, sie mehr zu lieben als die eigene Ehefrau, warum es einen anderen Mann schier um den Verstand brachte, dass er sich ihnen nicht nähern durfte.
Plötzlich war ihr Gesicht direkt vor mir.
Ich unterdrückte einen Aufschrei.
Doch ich wich nicht zurück, sondern holte tief Luft und legte eine Hand an die Scheibe.
Ihr aufblitzendes Auge taxierte mich ohne zu blinzeln. Der Mond spiegelte sich in der Retina, färbte sie glühend rot ein und tauchte die entstellte Hälfte ihres Gesichts in Schatten.
Wir blickten einander an, als betrachteten wir uns jeweils in einem Spiegel. Sah sie mir meine Entstellung an?
Der bloße Gedanke an Gabriel machte mir Angst.
Der Anblick dieser Tigerin nicht.
Anders als bei den Bonobos konnte ich ihre Stimmung nicht einschätzen. Ihre Körpersprache war mir vollkommen fremd. Ich würde bei null anfangen müssen. Unsere Beziehung war ein unbeschriebenes Blatt.
In meinem Kopf herrschte nun eisige Klarheit. Sekunden später fand ich mich an der Tür zu Leylands Büro wieder. Wie sehr ich mich danach sehnte, frei von Schmerz zu sein, zu fühlen, was ich wirklich fühlte, meine Fassade abzulegen und zu schlafen. Kaum hatte ich den muffigen Raum betreten, hielt
ich auch schon die Schachtel mit den Beruhigungsmitteln in der Hand.
Meine Gedanken kehrten zu Luna zurück. Wenn sie dich töten, gibt es keine Angst, dachte ich.
Ich legte die Schachtel zurück und angelte stattdessen den Ersatzschlüssel für das Tigergehege vom Schlüsselbrett. Ungeschickt schloss ich die Seitentür auf. Niemand wusste, wo ich war, niemand interessierte sich dafür. Doch statt mich deshalb zu grämen, fühlte ich mich seltsam befreit.
Ich betrat das Gehege, wobei ich darauf achtete, dass ich im Mondschein deutlich zu sehen war. Luna saß im Schatten; es war unmöglich, auszumachen, ob sie womöglich gerade zum Sprung ansetzte. Ich rief mir Gabriels Worte in Erinnerung. Nicht die, die er mir vorhin in diesem seltsam kalten Tonfall an den Kopf geworfen hatte, sondern die vom ersten Tag, als er mir erklärt hatte, wie ich mich verhalten musste, um von einem Tiger nicht als Beutetier gesehen zu werden: Du musst ihn lautstark begrüßen, ihm zeigen, dass du da bist, ihm signalisieren, dass du ein Freund bist und kein Opfer.
»Luna … Luna
…«, lockte ich.
Sie lief vor mir hin und her, ohne auch nur ein einziges Mal den Blick ihres furchteinflößenden Auges von mir abzuwenden.
Mein Herz schlug so heftig, als wollte es meinen Brustkorb sprengen. Ich zwang mich, die gummiweichen Gliedmaßen stillzuhalten.
Hin und her, hin und her. Sie hechelte leise. Im kärglichen Licht rief jede ihrer Bewegungen wellenartige Schatten hervor, die ihr zu folgen schienen wie ein Cape oder wie ein Schwarm Krähen.
Am Ende jedes Atemzugs ein anderes Geräusch, ein Knurren.
In mir herrschte eine seltsame Ruhe, ähnlich wie in einem
beinahe zugefrorenen Fluss. Meine Angst verflüchtigte sich, an ihrer Stelle tat sich in mir ein Raum auf, und es kam mir vor, als würde Luna diesen Raum in Besitz nehmen. Das Tappen ihrer Pranken hallte in meiner Brust wider, der Fleischgeruch, der sie umgab, drang in jeden Hohlraum meines Körpers ein.
Eine Wolke schob sich vor den Mond, sodass ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich streckte die Arme aus – gerade rechtzeitig, denn sie erhob sich jäh auf die Hinterläufe und stützte die gewaltigen Vorderpranken schwer auf meinen Schultern ab. Ich taumelte ein wenig nach hinten, fiel aber nicht hin.
Es fühlte sich kein bisschen so an wie an meinem ersten Tag, als Gabriel es mir demonstriert hatte. Die Angst, die mich damals überwältigt hatte, kam mir nun klein und belanglos vor, eine lästige, verbissen nagende Empfindung, nicht einmal ansatzweise zu vergleichen mit meiner Demut angesichts dieser …
… Erhabenheit
. Luna konnte mich mit einem einzigen Biss oder Tatzenhieb töten – und wer wusste schon, ob ihre Krallen eingezogen waren oder nicht? Ich befand mich in den Armen eines Geschöpfs, das keine Grenzen kennt, dessen gnädige Entscheidung, mir nah zu sein, mich überwältigte.
»Luna … Luna …«, flüsterte ich. Obwohl die Knie unter mir wegzuknicken drohten, schmiegten sich unsere Körper perfekt aneinander, unsere Herzen nur Zentimeter voneinander entfernt. Durch mein Kleid spürte ich die Wärme ihres Bauches.
Als ich das Gesicht etwas zur Seite drehte, sah ich ihre Zähne aufblitzen. Ihr Maul war geöffnet, nur Zentimeter von meiner Wange entfernt. Ihre drahtigen Schnurrhaare streiften meine Wangen, ihr Atem hatte eine unerwartet süßliche Note.
Nicht einmal bei der Vorbereitung meiner Morphininjektion hatte ich die Nähe des Todes je so deutlich gespürt. Mir
war warm – wärmer als in jedem Morphinrausch. Wollte ich sterben? Eine solche Frage gehörte nun nicht mehr hierher. Diese Umarmung, aus der kein Weg an Lunas weit aufgerissenem Schlund vorbeiführte, war frei von jeglicher Erniedrigung. In dieser Hinsicht lag Gabriel mit seiner Sicht auf die Natur falsch.
Lunas Atem war heiß wie die Luft in einem Vulkankrater. Ihr Maul kam noch näher, verschluckte den Mond und sämtliche Sterne. Mein Wunsch, am Leben zu bleiben, war wie ein schönes Detail – eine grüne Wiese, das Gesicht meiner Mutter in meiner Erinnerung –, das ich von diesem dunklen Aussichtspunkt aus sehen konnte. Es bereitete mir keinen Kummer, dass all das für mich unerreichbar war. Ich verspürte nur Ruhe, als sich Lunas Maul zu meiner Kehle herabsenkte.
Ihre große dunkle Zunge glitt über meine Halsbeuge, schmirgelte die oberste Hautschicht ab. Sie kostete mich.
Ich ließ es mit einem erschrockenen Keuchen geschehen. Gabriel hatte mir erzählt, dass ein Tiger mit seiner ausgesprochen rauen Zunge sogar Fleisch von einem Knochen lösen kann.
Sie hielt inne, kaute die Luft wie ein Gourmet.
Blut wirkt erregend auf Tiger; es ist für sie das Signal, dass es etwas zu fressen gibt. Sie geraten zwar nicht derart in Wallung wie Haie, dennoch ist eine blutende Wunde in der Gegenwart eines Tigers gefährlich. Warum reagierte Luna nicht entsprechend?
Ich begann unter dem Gewicht ihrer Vordertatzen zu zittern, rechnete jeden Augenblick damit, dass sie die Zähne in der Wunde versenkte.
Stattdessen stieß sie sich mit einem rauen Knurren von meinen Schultern ab, umrundete mich, hielt inne, beobachtete mich.
Ich stand verblüfft da, rührte mich nicht von der Stelle,
spürte nur die beißende Kälte und die Blutstropfen, die aus der Schürfwunde an meinem Hals sickerten.
Mein Kleid war feucht vom Tau, die Rosen nahmen sich im silbergrauen Licht wie Löcher darin aus.
Ich lauschte gespannt jedem einzelnen unserer Atemzüge.
Mein Blut schien Luna tatsächlich nicht zu interessieren. Mit einem letzten, leisen Grummeln steuerte sie auf den Schlafbereich zu. Ich blieb stehen, bis sie verschwunden war, dann zupfte ich, fassungslos und völlig außer Atem, meine Mütze zurecht und verließ im Rückwärtsgang vorsichtig das Gehege.