NEUNZEHN
»D as muss alles neu gestrichen werden.« Iwan deutete auf die Banja und die Hütten in der Nähe der Einfahrt zum Lager. Er hatte nicht schlafen können und sich deshalb hinausbegeben in die bittere Kälte der Morgendämmerung, um das Camp mit den Augen eines Besuchers zu betrachten. Er war bestürzt gewesen. Die Schaltzentrale des Iwanowitsch-Reservats war in einem Zustand, den man dem General beim besten Willen nicht zumuten konnte. Der von der grellen Sonne verblasste Anstrich der Hütten blätterte ab, schadhafte Stellen waren nur da und dort mit Teer oder etwaigen anderen Materialien, die gerade zur Verfügung gestanden hatten, ausgebessert, die verrosteten Wellblechdächer bogen sich unter der turmhohen Schneelast. Ein Tigerschutzzentrum, das sich derart desolat präsentierte, würde Putin wohl kaum finanziell unterstützen wollen, und deshalb musste sich auf der Stelle etwas ändern.
»Welche Farbe?«, fragte Petrow mürrisch.
»Wir haben nur schwarz«, meldete sich Erik zu Wort. »Und Tomas hat den Hilux genommen, Boss. Das heißt, wir müssten in Petrows Rostlaube nach Chabarowsk zuckeln, um Farbe zu besorgen. Damit wären wir zwei volle Tage beschäftigt.«
Doch Iwan hörte gar nicht zu. Er marschierte vor der Gemeinschaftshütte auf und ab und rieb sich das Kinn. »Und die Latrine … Da können wir den General nicht scheißen gehen lassen. «
»Wo soll er denn sonst scheißen gehen?«
»Wir müssen ihm ein eigenes Klo bauen, ein richtiges Plumpsklo mit Sickergrube. Und es streichen.«
Petrow hob die Augenbrauen. »Der Boden ist gefroren, Boss.« Iwan fuhr herum. »Und?«, herrschte er ihn an. »Dann macht ihr eben ein Feuer, damit er auftaut. Wenn der General kommt, soll er in eine anständige Sickergrube scheißen können.«
Die Männer schwiegen, tauschten verstohlene Blicke.
Iwan wandte sich zum Gehen, machte aber gleich noch einmal kehrt. »Und noch etwas: Es wird nicht mehr draußen vor den Hütten in den Schnee gepisst, verstanden? Es kotzt mich an, dass hier alles voller gelber Flecken ist! Der Wald ist keine zwanzig Schritte weit weg! Wenn ihr es nicht bis zur Latrine schafft, dann geht verdammt nochmal in den Wald oder schifft euch meinetwegen in die Hosen, jedenfalls bis der General wieder abgereist ist. Wir sind doch keine Barbaren!« Damit marschierte er in seine Hütte, um einen Blick in seine Inbox zu werfen.
Petrow verteilte derweil seufzend die Aufgaben: »Erik, wir zwei kümmern uns um die Farbe«, sagte er. »Der Rest baut das Scheißhaus für den General.«
»Was meinst du, wo wird der Boss es haben wollen?«, fragte Erik.
Petrow überlegte. »Neben seiner Hütte. Ich schätze mal, wenn der General kommt, überlässt der Boss ihm seine Hütte und zieht so lange zu uns.«
Erik nickte. »Gut. Am besten gar nicht groß nachfragen. Nicht, wenn er so mies drauf ist.«
Die Männer teilten sich auf und schlurften davon, um sich an die Arbeit zu machen.
Was ist der Laptop wieder langsam heute!, dachte Iwan. Es kostete ihn unheimlich viel Zeit und Nerven, mehrmals täglich nachzusehen, ob in seiner Inbox eine Antwort wartete. Wenn doch nur Tomas endlich zurückkäme! Er wäre vielleicht in der Lage, die Verbindung etwas schneller zu machen, und außerdem könnte er sich bei den Vorbereitungen für den Besuch des Generals nützlich machen. Iwan verbrachte täglich mehr Zeit damit, wechselweise den Horizont abzusuchen in Erwartung seines Sohnes und den Computerbildschirm anzustarren in Erwartung der Antwort auf seine Nachricht. Beide waren längst überfällig.
Nicht, dass sich Iwan Sorgen machte. Nein, er machte sich keine Sorgen, obwohl Tomas für seine Tour maximal vier Tage hätte benötigen dürfen und mittlerweile schon eine Woche unterwegs war, und das Thermometer zeigte jede Nacht mindestens minus dreißig Grad. Iwan war vielmehr verärgert, denn die Abwesenheit seines Sohnes machte sich allenthalben bemerkbar. Die Satellitenschüssel muckte auf, als wüsste sie, dass Tomas nicht da war, und die Männer wurden sehr unruhig, wenn sie nicht Radio hören konnten. Iwan protokollierte weiterhin jede neue Tigerfährte und jedes von einem Tiger gerissene Beutetier, das sie entdeckten, doch Petrow, der ihm dabei zur Hand ging, stellte sich beim Markieren der Fundorte auf der Landkarte äußerst ungeschickt an und rutschte immer wieder mit dem Stift ab (wie konnte man beim Zeichnen einer geraden Linie verrutschen, trotz Verwendung eines Lineals ?). Außerdem atmete er sehr laut, wenn er sich konzentrieren musste, möglicherweise ein beginnendes Emphysem, und er hatte immer wieder neue Ausreden für seine Zigarettenpausen parat. Im Grunde saß er nur herum und leistete vor allem dann ganze Arbeit, wenn es darum ging, zu demonstrieren, dass er nicht Tomas war. Es war wirklich zum aus der Haut fahren.
Niemand schlug vor, einen Suchtrupp loszuschicken. Niemand beschwerte sich über den schlechten Radioempfang. Erik hatte ein paar Mal eine Bemerkung mit den Worten Wenn Tomas wieder da ist eingeleitet oder Sätze wie Das überlassen wir mal schön Tomas vom Stapel gelassen. Doch im Wald konnte alles Mögliche passieren – mehr noch, man konnte sich darauf verlassen, dass irgendwann etwas passieren würde, und wenn man ein Leben ohne Handyempfang führt, werden die Erwartungen daran, wann was passieren wird, notgedrungen elastisch, genau wie die Einstellung zu Pünktlichkeit und zur Zeit selbst.
Niemand würde etwas sagen, bis Iwan etwas sagte, und Iwan hatte beschlossen, dass er erst nach Ablauf von zwei Wochen anfangen würde, sich Sorgen zu machen. »Nun komm schon!«, knurrte er, während das Modem kraftlos vor sich hin surrte, und ließ die Faust neben dem Laptop auf die Tischplatte donnern, worauf die Verbindung prompt komplett abbrach. Iwan stierte entgeistert auf den Bildschirm, auf dem sich nun gar nichts mehr tat. Die Sorge um seinen Sohn nahm schlagartig zu. Sollte er in zwei Tagen nicht zurück sein, würde Iwan einen Suchtrupp losschicken. In der Zwischenzeit konnten seine Männer in Chabarowsk Farbe besorgen und schon mal mit dem Bau des neuen Plumpsklos und den Verschönerungsarbeiten beginnen.
Hätte er sich weiter den Kopf zerbrochen – was er nicht zu tun gedachte –, dann hätte er im Geiste die Liste an Gefahren durchgehen können, die einem Jäger zum Verhängnis werden konnten, wenn er sich allein im winterlichen Wald aufhielt, nämlich: Verletzung, Verlust der Orientierung, Kälte, Tiger. Vielleicht sollte die Aufzählung in umgekehrter Reihenfolge vonstatten gehen, doch Iwan dachte nicht gern an Tigerangriffe. Ein Tigerangriff war eine Katastrophe, aus einer ganzen Reihe von Gründen, die weit über eine Tragödie wie den Verlust des einzigen Sohnes hinausreichte.
Es gab keinen Grund, warum ein Tiger seinen Sohn angreifen sollte, einmal abgesehen von der Tatsache, dass dieser Winter der strengste seit einer halben Ewigkeit war. Tomas hatte sich zweifellos tief in jenes abgelegene Gebiet vorgewagt, in dem die Gräfin jagte, denn in der Nähe des Lagers waren Rot- und Schwarzwild längst nicht mehr anzutreffen.
Iwan blickte aus dem Fenster und verfolgte, wie Erik mit den anderen ein Feuer entfachte, um den Boden aufzutauen, damit sie eine Sickergrube ausheben konnten. Die Eiskristalle, die die Fenster jeden Morgen mit neuen Mustern überzogen, hatten begonnen, sich in der Mitte aufzulösen, sodass die Szene von einer Art Spitzenpassepartout umrahmt war. Wie immer hatten die Männer ihre Unlust überwunden und lachten bei der Arbeit. Iwan schlüpfte in seine Jacke und ging hinaus. Ihm war noch etwas eingefallen.
»Sorgt dafür, dass man im Sitzen in diese Richtung schaut.« Er deutete auf das Vogelhaus. »Der General soll beim Scheißen die Finken beobachten können.« Die Männer nickten.
Erik hatte den Kochdienst übernommen. Als er den Männern schließlich den vierten Tag in Folge seine Spezialität, eine Militärsuppe namens Balanda , kredenzte, die diesmal ganz eindeutig Eichhörnchenfleisch enthielt, platzte Petrow, der nach der anstrengenden Fahrt nach Chabarowsk müde und ausgehungert war, mit einem Blick zu Iwan heraus: »He, Boss, wo bleibt Tomas?«
Iwan schlürfte seine Suppe und verzog unwillkürlich das Gesicht, als ihm eine zähe Nagetiersehne durch die Kehle rutschte. »Es könnte nicht schaden, wenn ein paar von euch mal wieder jagen gingen. Ich stelle gleich morgen früh eine Truppe zusammen. Bist du dabei, Petrow?«
»Natürlich.«
»Ihr werdet euch in den borealen Urwald aufmachen, entlang der Route, die Tomas genommen hat. Auf diese Weise werdet ihr ihm unweigerlich über den Weg laufen. Ein paar von euch brauche ich aber hier im Lager. Der General kann jeden Tag aufkreuzen, und dann müssen wir bereit sein. Alles Weitere entscheiden wir morgen.«
Als Iwan am zehnten Tag seit Tomas’ Aufbruch den Blick von den Eiskristallen am Fenster hob, die er gerade fotografierte, weil er sich auf nichts mehr konzentrieren konnte, stellte er fest, dass die Männer die Toilette für den General fertiggestellt hatten. Sie war ein Triumph: solide gebaut und geräumig, mit gelbem Anstrich und einem glänzenden Wellblechdach.
Das Häuschen roch nach frisch gefälltem Holz, und die Tür hatte nebst einem Knauf aus Keramik, der vermutlich von einem alten Topfdeckel stammte, ein kleines Fenster, durch das man das Vogelhaus sehen konnte. Iwan öffnete sie und erblickte eine gehobelte Bank mit einem glattgeschliffenen Loch, und darunter – und das war das Beste daran – eine Grube, die so tief war, dass er den Grund nicht sehen konnte. Eine Rolle Toilettenpapier steckte in einem der Halter, die er selbst erfunden hatte: eine halbe Plastikflasche, durch deren Hals das Papier gezogen wurde. Iwan war beinahe gerührt angesichts der Liebe zum Detail, die die Männer bei der Errichtung dieses Plumpsklos an den Tag gelegt hatten. Ein solches Ausmaß an Komfort war wohl kaum zu überbieten, nicht einmal von den sanitären Anlagen im Kreml. Und nach der Abreise des Generals würde Iwan dieses Plumpsklo mit Freuden selbst benutzen.
Er schüttelte den Kopf: Immer für eine Überraschung gut, diese Burschen. Mit diesem Gedanken machte er sich wieder auf den Weg zu seiner Hütte, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als er im fahlen Licht der Dämmerung zwei Scheinwerfer aufblitzen sah.
Es war der Hilux, der da den Weg aus dem Wald entlangholperte. Iwan stierte ins Zwielicht, ging ungläubig ein, zwei Schritte darauf zu, den Blick auf den Wagen geheftet .
Denn neben Tomas, auf dem Beifahrersitz, saß … ein Mädchen.
Und auf der Ladefläche stand eine große, in Segeltuch gewickelte Kiste.
Iwan dachte nicht daran, seinem Sohn entgegenzueilen, um ihn zu begrüßen, er stand nur da, unübersehbar, kochend vor Wut, und zugleich so froh, dass er hätte weinen mögen, wäre er denn ein anderer Mann in einem anderen Land gewesen. Dies war die einzige Zufahrt zum Lager; auf dieser Route waren schon immer alle angekommen, so wie Marta vor all den Jahren, so wie Iwan selbst. Seltene Momente der Aufregung waren das in diesem abgeschiedenen Leben hier draußen, wenn Unbekannte oder geliebte Menschen sich näherten, oder ein Fremder, der zwischen den Bäumen heraustrat.
Tomas lenkte den Pickup schwungvoll auf den Hof, hielt an und sprang heraus. Er war unrasiert und starrte vor Dreck, Ruß und Blutflecken. Ohne seinen Vater oder die anderen Männer, die inzwischen herbeigeeilt waren, zu beachten, ging er zur Beifahrerseite, riss die Tür auf und half dem Mädchen, das, wie sich nun herausstellte, noch sehr jung war, flachbrüstig und mit kindlichem Gesicht, beim Aussteigen.
»Das ist Sina«, stellte er sie mit einem Blick in die Runde vor, eine Hand an ihrer Schulter, während sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden.
Sina sah sich um, mit weit aufgerissenen Augen, in denen jedoch keine Angst zu lesen war, sie huschten lediglich unruhig hin und her, erfassten jede Bewegung. Sie hatte die Oberlippe zurückgezogen und bleckte die Zähne. Die Männer traten fasziniert näher, sichtlich verunsichert, wie sie reagieren sollten auf dieses Wesen, das ihnen, obwohl es ganz offensichtlich noch ein Kind war, mit seiner Größe und Wildheit Unbehagen einflößte. Seine Kleider waren wie die von Tomas blutverschmiert, Haut und Haare waren schmutzig und voller Asche .
Iwan räusperte sich. »Warum ist sie hier, Tomas?«
»Ich habe sie im Wald gefunden. Sie hat dort gelebt. Sie will mir nicht verraten, wie lange schon.«
Iwan trat zu ihnen und sah dem Mädchen in die Augen. »Wie heißt dein Vater?«
Keine Antwort.
»Wie heißt deine Mutter?«
Iwan fuhr jäh herum, als er hinter sich ein Knurren vernahm.
»Was zum Teufel ist da drin?« Er marschierte zur Ladefläche und zerrte an der Plane.
»Petrow! Erik!« Er bedeutete den beiden, ihm zu helfen.
Ein Kratzen und Schaben tönte aus der Kiste, gefolgt von einem Brüllen, unter dem der Hilux erzitterte. Tomas spürte, wie seine Kopfhaut kribbelte und die Angst seine Wirbelsäule entlang nach oben kroch. Das Brüllen eines Tigers aus nächster Nähe kann einen Menschen durchaus in Schockstarre versetzen. Und hier hatten sie es bloß mit einem Jungtier zu tun, doch der Laut, so nah, so ungestüm, ließ sie alle einen Schritt zurückweichen – alle bis auf Iwan, der den Pickup umrundete.
»Ein Tiger? Herrgott nochmal, Tomas, ein Tiger?«
»Ein Tigerjunges«, erwiderte sein Sohn. Die Erschöpfung drohte ihn zu verschlingen, angefangen bei den Beinen arbeitete sich ihr morastiges Maul an seinem Körper entlang hinauf zur Kehle. »Wir brauchen den Hundezwinger. Petrow, scheuch die Hunde raus.«
»Tomas, was zum Teufel hast du getan?«
Tomas schüttelte den Kopf. »Erklär ich dir später. Erst muss das Junge in den Zwinger. Es hat eine Verletzung am Hinterlauf. Petrow!«
Petrow erwachte zum Leben und ging mit Erik zum Zwinger, um die Hunde freizulassen. Sie kratzten winselnd an der Umzäunung, halb toll vor Angst, und flüchteten, sobald das Gatter aufschwang, in den Wald, um sich aus sicherer Entfernung hysterisch die Seele aus dem Leib zu bellen. Petrow säuberte hastig den Boden der Hundehütte und verteilte dann etwas getrocknete Birkenrinde und Reisig darauf.
Die anderen hoben zögernd die Kiste, aus der nun ein Knurren und Fauchen drang, von der Ladefläche und trugen sie vorsichtig zum Zwinger. Petrow durchtrennte die Stricke, mit denen sie zugebunden war, dann eilte er zum eisernen Gatter und verschloss es von außen. Das Tigerjunge machte einen Satz aus dem Käfig und raste humpelnd durch den Zwinger, ohne mit dem verwundeten Hinterlauf den Boden zu berühren. Es bot einen geradezu surrealen Anblick dort drin, inmitten von Drahtgeflecht und stumpfem dunklen Holz. Unter dem Fell zeichneten sich bereits erkennbar die Muskeln ab. Der Verletzung zum Trotz konnte es sich mit zwei, drei Sprüngen von einem Ende der kleinen Fläche zur anderen katapultieren.
Petrow und Erik machten sich sogleich daran, den Zwinger auf Mängel zu überprüfen – Hunde haben im Allgemeinen keinen großen Freiheitsdrang, ein vor Kraft strotzender kleiner Tiger dagegen sehr wohl. Tomas wies sie auf einige Stellen in der Umzäunung hin, die verstärkt werden mussten, und die Männer machten sich mit Nägeln und Lötkolben an die Arbeit. All das geschah rasch, ohne Erklärungen. Wer im Wald lebt, weiß, dass in Krisensituationen gehandelt werden muss, statt auf Erklärungen zu warten. Dennoch spähten Petrow und Erik immer wieder ehrfürchtig in den Zwinger. Noch nie waren sie einem leibhaftigen Tiger so nah gewesen. Sie waren eben erst aufgestanden, und jetzt, nur fünf Minuten später, waren sie damit beschäftigt, den Hundezwinger in ein Gehege für ein wildes Tier umzuwandeln.
Die kleine Tigerin war geschwächt und hatte sich auf der dreitägigen Fahrt kaum bewegen können, doch das hatte ihre Wut nur zusätzlich geschürt. Sie fauchte und fletschte die Zähne mit all der Bedrohlichkeit eines ausgewachsenen Raubtiers.
Genau wie das Tigerjunge schien auch das Mädchen – Sina – die Umgebung nach Fluchtmöglichkeiten abzusuchen, ließ wie in Zeitlupe blinzelnd den Blick über die diversen Hütten und die freien Flächen dazwischen wandern, ehe er an den Männern hängenblieb. Sie runzelte die Stirn, als wäre sie völlig überwältigt von der Gegenwart so vieler Menschen. Just in dem Moment, als es aussah, als wollte sie Reißaus nehmen und in den Wald hinauslaufen, packte Tomas sie am Arm.
»Komm schon. Das haben wir doch alles bereits durchgekaut«, sagte er. »Wir tun dir nichts.«
Es machte zweifellos keinen sonderlich guten Eindruck, ein junges Mädchen in eine von Dampfschwaden erfüllte Küche zu schleifen und auf einen Stuhl zu drücken. Iwan folgte ihm und sah mit großen Augen zu, wie Tomas geschickt ein paar Eier briet. Sina saß derweil da wie gelähmt und blickte sich mit ihren großen bernsteinfarbenen Augen alarmiert in der Küche um.
»Tomas, was ist passiert?«, fragte Iwan.
»Die Gräfin hat ihre Mutter getötet«, sagte Tomas. »Ich bin zu spät gekommen.«
»Und die Gräfin? Ist sie … tot?« Iwan ahnte die Antwort bereits.
Tomas nickte.
»Ach, verdammt!« Iwan rammte die Faust in den Türrahmen. Sina sprang alarmiert auf, doch Tomas drückte sie wieder auf den Stuhl.
»Was ist mit dem anderen Jungen?«, fragte Iwan.
Tomas schaufelte Rührei in eine kleine Schüssel, schnitt ein paar Scheiben Brot ab. »Tot.«
»Herrgott nochmal, Tomas, eine tote Frau und zwei tote Tiger, und der dritte hier im Hundezwinger? Der General kann jeden Tag kommen! Wir sind geliefert!«
»Beruhige dich. Das Mädchen hat gerade seine Mutter verloren.«
Doch Iwan hatte nur einen Gedanken: Was für ein Desaster!
»Sinas Mutter hat die Gräfin erschossen. Sie hat auch getroffen, aber es war trotzdem zu spät. Das andere Junge ist verhungert. Was blieb mir denn anderes übrig, als das überlebende Junge und das Mädchen mitzunehmen?«
Iwan war nicht in der Lage, all diese Informationen zu verarbeiten. Er scheuchte Petrow und Erik hinaus, die in der Tür standen und glotzten, dann drehte er sich zu Sina um, die seinen Blick mit leeren Augen erwiderte.
»Wo ist dein Vater?«
Schweigen.
»Und die Leichen, Tomas? Hast du die etwa dort gelassen?«
»Hab sie verbrannt.« Tomas stellte die Schüssel mit dem Rührei und dem Brot vor Sina auf den Tisch. Sie betrachtete das Essen lustlos. »Du musst essen«, drängte er.
Sina fixierte ihn. »Nein«, sagte sie.
Iwan beugte sich über sie, die Hände auf die Tischplatte aufgestützt. »Wer bist du, Kind?«, rief er, sodass Sina erschrocken nach hinten wich.
»Hör auf damit!«, wies Tomas ihn zurecht. »Sie hat Angst, siehst du das nicht?«
Iwan stieß sich von der Tischkante ab, stürmte hinaus und knallte die Tür zu.
»Ignorier ihn einfach, Sina. Er macht sich Sorgen, wegen des Tigerjungen, und deinetwegen. Iss dein Rührei. Bitte.«
Widerstrebend zog sie die Schale zu sich und begann zu essen. Im Nu war alles weggeputzt.
Dann sagte sie: »Wann schickst du mich in den Wald zurück? «
Tomas nahm einen kleinen Schluck von seinem bitteren Kaffee und schüttelte den Kopf. »Ich schätze, deine Tage im Wald sind gezählt.«