ZWEIUNDZWANZIG
E
s war kurz vor drei Uhr morgens, als der Pickup des Händlers geräuschlos ins Lager rollte. Iwan war wach, genau wie die vergangenen zwei Nächte; er hatte ihn bereits erwartet und hegte die abwegige Hoffnung, dass es gelänge, den Tiger fortzuschaffen, ohne jemanden zu wecken.
Der Mann, der aus dem Wagen stieg, glich dem Greis auf dem Plakat in Iwans Hütte aufs Haar. Er hatte sogar seine großen, anmutigen Hände und seine huldvoll gebeugte Haltung, und obendrein einen silbernen Bart. Ein glitzernder Haarflaum umrahmte sein Haupt. Er wirkte bedrückt und bewegte sich mit der Wachsamkeit eines Mannes, der daran gewöhnt ist, andere zu täuschen.
»Oleg«, sagte er und schüttelte Iwan die Hand, dann deutete er auf seine Assistentin, eine kompakt gebaute Frau mit vorgewölbtem Brustkorb und Sturmhaube auf dem Kopf. »Nelly, meine Frau«, fügte er stolz hinzu.
Das Tigerjunge lief unruhig im Zwinger auf und ab, wie es das Tag und Nacht tat. Es saß kaum je still. Oleg beleuchtete seinen geschmeidigen Körper mit der Taschenlampe und raunte Nelly etwas zu. Sie antwortete mit einem gehetzten Flüstern. Durch das Mundloch ihrer Sturmhaube waren ihre glänzenden, geschminkten Lippen zu sehen. Oleg nickte, ging zum Pickup, holte ein Betäubungsgewehr von der Rückbank und steckte eine Patrone undefinierbaren Inhalts hinein. Nelly
leuchtete ihm mit der Taschenlampe, während Oleg die Bewegungen des Tigerjungen durch das Zielfernrohr verfolgte und ihm schließlich gelassen einen Pfeil in die Flanke jagte. Das Tier bäumte sich mit einem empörten Jaulen auf und fauchte sie durch das Drahtgeflecht hindurch an, ehe es ein paar Runden durch den Zwinger raste und schließlich taumelnd zusammenbrach.
Iwan biss sich auf die Unterlippe und sah zu den nächstgelegenen Hütten, doch es war nirgends Licht angegangen.
Oleg und Nelly gingen mit der Effizienz von Fleischhauern vor: Oleg schob einen Besenstiel durch das Drahtgeflecht der Umzäunung und stupste das Tigerjunge an, um sicherzugehen, dass es bewusstlos war, dann öffnete er das Gatter und betrat, gefolgt von Nelly, den Zwinger. Sie banden dem Tier die Beine zusammen, wälzten es auf eine viel zu kleine Trage, die Nelly aus dem Pickup geholt hatte, und mühten sich wie zwei stolpernde Komiker damit ab, ihre mal rechts, mal links überbordende Fracht zum Wagen zu tragen. Über eine Rampe wurde das leblose Tier schließlich in eine große Transportkiste bugsiert, die auf der Ladefläche bereitstand.
Alles in allem dauerte die Aktion keine zwanzig Minuten, und Oleg legte die ganze Zeit über einen unerschütterlichen Gleichmut an den Tag. Zum Schluss holte er aus der Fahrerkabine ein in Folie gewickeltes Paket und überreichte es Iwan. Es raschelte wie Frost. Nelly hatte die Transportkiste mit einer Plane zugedeckt und mit Gurten festgezurrt und thronte nun auf dem Beifahrersitz, so teilnahmslos wie ein Kleiderständer.
»Nein!« Sina rannte auf sie zu, ihr Gesicht weiß leuchtend im Mondlicht.
Oleg ließ den Motor aufheulen, der Wagen schoss davon. Es war nicht ungewöhnlich, dass zum Ende hin jemand Theater machte, deshalb rechnete er stets damit, zügig aufbrechen zu müssen
.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Tomas, der hinter Sina aufgetaucht war und eben in seine Jacke schlüpfte.
Er trat zu seinem Vater und entriss ihm das Paket, dass dieser gerade einzustecken versuchte. Ein dicker Stapel Rubel.
Sina rannte zum Hundezwinger und spähte hinein, doch es war zwecklos. Ihr Geheul hallte durch die Nacht. Tomas starrte seinen Vater an. »Was hast du getan?«, flüsterte er.
Sechs Wochen war das nun her. Iwan zuckelte mit Petrows Kastenwagen langsam durch die Dunkelheit. Das Fahrzeug protestierte wie ein zitternder Hund, den man gegen seinen Willen irgendwohin schleift. Der Hilux war weg, und mit ihm auch Tomas und das Mädchen. Zu beiden Seiten des Weges türmte sich der ganze Schnee des vergangenen Winters auf. Schon sehr bald würden die Schneemassen schmelzen und zu wahren Sturzfluten mutieren. Der Frühling stand vor der Tür. Iwan fuhr zu der Anhöhe, auf der man Handyempfang hatte, wie er es beinahe jede Nacht tat, jetzt, da Tomas und Sina fort waren und er gar nicht mehr schlafen konnte.
In Szenen, die zu grauenhaft waren, um sie sich in Erinnerung zu rufen, hatte Tomas von seinem Vater die Nummer des Kontaktmannes gefordert, um den Händler ausfindig zu machen. Iwan hatte sie ihm genannt, doch das würde seinem Sohn nicht helfen. Nicht einmal Iwan selbst wusste, wer der Händler war, denn es war noch eine ganze Reihe weiterer Kontaktpersonen involviert gewesen. Das Mädchen hatte ohne Unterlass geheult, was Iwan maßlos genervt hatte. Er wusste nichts anzufangen mit derartigem Kummer, hatte kein Verständnis für seine Heftigkeit und stand ihm sowohl irritiert als auch hilflos gegenüber.
Als endlich zwei Striche auf dem Display des Telefons signalisierten, dass er Empfang hatte, hielt Iwan den Kastenwagen an und wählte die Nummer seines Sohnes. Auch das tat er nun
beinahe täglich. Tomas war nie zu erreichen. Manchmal hinterließ ihm Iwan eine Nachricht. Er sagte: Es war das Beste so
oder Ich hab’s doch nur gut gemeint
oder Ruf mich an, mein Sohn. Hinterlass mir eine Nachricht, noch heute Nacht
. Dann und wann schickte er ihm eine SMS
: Wie geht es Sina? Sag Sina, dass sie hier zu Hause ist
. Bislang war keine Antwort gekommen, doch Iwan war ein optimistischer Mensch. Er war stets voller Hoffnung, wenn er hierherkam. Er weigerte sich schlicht, zu glauben, dass diese Angelegenheit sie dauerhaft entzweien konnte.
Tomas musste doch verstehen, warum er getan hatte, was er getan hatte – der General, das Reservat …
Der General war wie geplant in der darauffolgenden Woche gekommen. Er hatte das Lager gut organisiert und in ordentlich aufgeräumtem Zustand vorgefunden und sich von seiner privaten Toilette sehr angetan gezeigt. Iwan hatte ihn förmlich mit alten Fotos und Filmaufnahmen von der Gräfin überschüttet und ihm darüber hinaus neues Material von anderen Tigern aus den Kamerafallen in der näheren Umgebung gezeigt. Er hatte Erik extra deswegen losgeschickt, und es hatte sich gelohnt: Sie hatten mit beeindruckenden Aufnahmen von weiteren Tieren aufwarten können, darunter eine Rotte grunzender Wildschweine sowie eine einzelne Sikahirschkuh im Mondlicht, deren Augen wie Perlen schimmerten.
Der General hatte sich von allem, was er sah, gebührend beeindruckt gezeigt und auch die Gelegenheit ergriffen, sich mit Petrow auf die Suche nach Fährten zu begeben. »Er hat sich zu allem, was wir ihm gezeigt haben, Notizen gemacht«, hatte Petrow hinterher berichtet. Abends hatte der General mit Freuden Iwans Tigergeschichten gelauscht, ungeheure Mengen getrunken und sich überdies als herrlich indiskret erwiesen, was Putins Eigenheiten anging. »Dieser gottverdammte japanische Hund muss immer mit«, hatte der General gesagt. »Der sitzt
sogar bei uns im Boot, wenn wir angeln gehen! Der Präsident will ihn stets bei sich haben, dabei ist das Vieh mittlerweile riesig, und es beißt und stibitzt die Fische. ›Herr Präsident‹, habe ich zu Putin gesagt, ›es schadet Ihrem Image, wenn Sie als russisches Staatsoberhaupt mit durchtrainierter Brust und einem zwei Meter langen Hecht, den Sie gerade aus dem Fluss gezogen haben, posieren und auf dem Bild im Hintergrund ein idiotischer Köter zu sehen ist, der sich die Klöten leckt!‹ Der General lachte. ›Darauf sagt er zu mir: Konstantin, wir sind Kameraden, wir sind Brüder, aber wenn Sie Yume noch einmal einen idiotischen Köter nennen, bringe ich Sie um.‹«
Bei der Erinnerung an diese Todesdrohung musste der General so schallend lachen, dass er einen Hustenanfall bekam. Iwan lachte mit und schenkte ihm noch einmal Wodka ein.
»Der Präsident hat einen großartigen Sinn für Humor«, schloss der General.
Iwan nickte. »Oh ja, das ist offensichtlich, wenn man Fotos von ihm sieht.« Dann wechselte er das Thema: »Das Angeln im Amur ist ein unvergleichliches Erlebnis. Es gibt hier aber auch andere, kleinere Flüsse, die nur ich kenne. Stör, Hecht, hier findet man einfach alles. Bei Ihrem nächsten Besuch machen wir einen Angelausflug. Vielleicht will der Präsident ja auch mitkommen …«
Doch der General hörte schon nicht mehr zu; er hatte noch weitere Angel-Anekdoten auf Lager, und dann drehte sich eine Weile alles um die riesigen Fische, die beide Männer bereits gefangen hatten, und später um einen Elch, den der General geschossen hatte.
Es war ein erfolgreicher Abend gewesen, und der General hatte nicht gemerkt, dass in Iwan eine schreckliche Leere gähnte, verursacht durch Tomas, der zwei Tage zuvor weggefahren war, mit dem Mädchen und dem Hilux und dem Tigergeld und der Nummer des Freundes
.
Nachdem er seinen erfolglosen Anruf getätigt hatte, war es an der Zeit, zurückzufahren. Iwan wendete den Kastenwagen an einer Stelle, an der der Weg etwas breiter wurde, und rumpelte zurück zum Lager.
Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit, das uralte Fahrgestell schaukelte hin und her.
Und dann erfassten die Lichtkegel plötzlich ein glühendes Augenpaar. Iwan würgte den Motor ab, ließ das Licht jedoch brennen. Mitten auf dem Weg, keine zwanzig Meter weit entfernt, paarten sich zwei Tiger.
Obwohl Iwan Tag für Tag nichts anderes tat, als das Leben der Tiger in seinem Reservat zu dokumentieren, hatte er noch nie einen Tiger in freier Wildbahn angetroffen. Er kannte diese Tiere nur von Videos, Fotos oder in Käfigen.
Und so etwas hatte keiner von ihnen je beobachtet.
Er hatte seine Kamera nicht dabei. Es würde keinen Beweis für das geben, was er gesehen hatte. Er betrachtete die beiden eingehend, darum bemüht, zu erkennen, um welche Tiger es sich handelte. Das fast ausgewachsene Männchen war ihm noch nie untergekommen. Das Weibchen hatte eine schwarze Zeichnung über der Stirn, anhand derer Iwan sie als Lady identifizieren konnte, die Schwester der Gräfin, für die der Tod der Gräfin durchaus eine glückliche Fügung des Schicksals sein dürfte.
Erstaunlicherweise waren die beiden nicht gleich auf und davon, nun, da sie beobachtet wurden. Iwan war natürlich bewusst – zumindest sollte es ihm bewusst sein –, dass den Tigern der Wald gehört. Auch dieser Weg, und jeder andere Weg, gehörte ihnen, und da sie beschlossen hatten, sich genau hier zu paaren, würden eben alle anderen warten müssen.
Das Männchen biss dem Weibchen ins Genick, die Tigerin scharrte im Schnee und jaulte auf. Es war ein schauerlicher, mythischer Laut. Iwan saß wie gelähmt da und spürte, wie ihm
Tränen in die Augen stiegen. In seinem ganzen Leben war er noch nie Zeuge eines derart majestätischen Ereignisses gewesen, wenn man von der Geburt seines Sohnes absah – damals hatte Iwan mit einer Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit verfolgt, wie sich ein neues Leben aus dem Fleisch losriss und, befreit, den allerersten Schrei in den Himmel sandte.
Die Tigerin drehte ganz langsam, gleich einem Roboter, den Schädel zur Seite und starrte durch das Scheinwerferlicht in den Wagen. Und dann riss sie das gigantische Maul auf und brüllte, und Iwan blickte geradewegs in das Schwarz ihrer Kehle, und ihm war, als hätte sich vor ihm ein Tunnel geöffnet, der zurückreichte bis zum Anbeginn der Zeit. Er glaubte, den heißen Atem des Tiers zu spüren und das entsetzte Aufkreischen anderer Waldbewohner zu vernehmen, die um ihr Leben rannten.
Zitternd machte er die Scheinwerfer aus und verharrte an seinem Platz, bis sich die beiden Tiger voneinander lösten und davonjagten, Pelerinen der Finsternis, mit Sternen übersät.
Iwans Herz pochte heftig in seiner Brust, seine Handflächen waren schweißnass. Plötzlich war er sich seiner Bedeutungslosigkeit und seiner Schwäche bewusst – und er empfand Bedauern. Abgrundtiefes Bedauern.
Er hatte Tomas der Möglichkeit beraubt, mehr aus seinem Leben zu machen. All die Jahre hatte er seinen Sohn am Fortkommen gehindert. Dabei war Tomas das wundervollste Geschöpf, das Iwan je gesehen hatte, vom blutigen ersten Augenblick seiner Geburt an. Es war nicht Iwans Absicht gewesen, seinen Jungen klein zu halten, bei sich zu behalten, doch genau das hatte er getan, und das bereute er jetzt. Wobei derlei Bestrebungen am Ende ohnehin müßig sind: Die Natur verfügt über eine majestätische Kraft, die sich nur in eine Richtung bewegt: nach vorn
.
Iwan warf das Handy auf den Beifahrersitz. Die Sentimentalitäten eines alten Mannes waren jetzt nicht gefragt. Die Reifen des Kastenwagens bahnten sich in den Fahrrinnen entschlossen einen Weg zum Lager. Sobald er dort angekommen war, würde Iwan alles in die Wege leiten, um sicherzustellen, dass das Reservat zum funkelnden Diamanten im Zentrum der russischen Tigerschutzbestrebungen avancierte. Und er würde seinem Sohn die Leitung übertragen. Es war an der Zeit, Tomas das Feld zu überlassen. Es war an der Zeit, ihm Anerkennung zu zollen für seine herausragenden Fähigkeiten und für die grenzenlose Liebe, die Tomas für alles Leben im Wald empfand. Tomas war der einzige Mensch auf der Welt, der nachvollziehen können würde, warum die eben erlebte Szene für Iwan eine Offenbarung war, der Einzige, der ihn drängen würde, wieder und wieder davon zu erzählen, der Einzige, der die Tiger kannte und liebte wie Iwan selbst. Es war an der Zeit, dass Tomas das Ruder übernahm und das Iwanowitsch-Reservat in die Zukunft führte.