FÜNFUNDDREIßIG
T omas erkannte in der Frau, die am Flughafen in Moskau auf ihn zukam und ihm die behandschuhte Hand hinstreckte, nicht gleich Frieda, sein englisches Gegenstück. Sie war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und ähnelte darin den uniformierten Sicherheitskräften, die zuhauf im Ankunftsterminal herumstanden. Sie trug eine Rundum-Sonnenbrille und, wie er feststellte, als sie sich näherte, teure wasserdichte Thermokleidung im westlichen Stil, zu der ihre mit Tigern bestickte Mütze nicht so recht passen wollte. Tomas zog den Saum seiner Pelzjacke zurecht und räusperte sich. Er war beim Friseur gewesen und hatte sich den Schnauzbart abrasiert in der Annahme, dieser Look sei seinem Status als Leiter des Iwanowitsch-Reservats eher angemessen. Allerdings überlegte er bereits, ob er sich den Schnauzbart wieder wachsen lassen sollte, denn so war es ungewohnt kühl um den Mund, und er fühlte sich sehr exponiert. Er würde Sina nach ihrer Meinung fragen, gleich bei ihrer Ankunft in Chabarowsk. Er befand sich zum ersten Mal in seinem Leben in Moskau, und er war hier, um mit Frieda den Transfer von Lunas Nachwuchs zu überwachen, ehe die beiden Tigerjungen den längsten Abschnitt ihrer Reise antraten, den Flug nach Chabarowsk.
Tomas hatte Frieda per E-Mail geraten, sich Oberbekleidung aus Pelz zuzulegen, die beim Kontakt mit Schnee keine Geräusche machte, was auf der Jagd und beim Fährtenlesen ausgesprochen wichtig war. Außerdem war Pelz aufgrund seiner Farbgebung im Wald ideal und erleichterte somit die Tarnung. Darunter trug man am besten atmungsaktive Kleidung aus Wolle und auf dem Kopf eine Pelzmütze mit Ohrenklappen, nicht dieses feminin aussehende, aber viel zu dünne Ding. Auf den ersten Blick wirkte Friedas Outfit zugegebenermaßen beeindruckend; immer wieder drehte sich jemand nach ihr um. Sie hielt sich sehr gerade, und ihre Bewegungen hatten eine Geschmeidigkeit, bei der Tomas nicht umhinkam, sich die Haut unter dem funktionalen Schwarz vorzustellen. Die Art Stiefel, die sie trug, war ihm in Chabarowsk noch nie untergekommen. Sie sah aus, als wollte sie auf dem Mond spazieren gehen. Überhaupt sah sie aus, als wäre sie in allem, was sie tat, äußerst effizient. Er war verwirrt.
»Tomas«, sagte sie mit einem breiten Lächeln und zog den Handschuh aus, um ihm die Hand zu schütteln. Er konnte die Berührung bis in den Oberarm spüren, so kalt waren ihre Finger. Dann sagte Frieda in exzellentem Russisch, wenn auch mit etwas merkwürdigem Akzent: »Der Tierarzt erwartet uns am anderen Terminal. Wir müssen nach den Jungen sehen und sie, ehe es weitergeht, auf die andere Seite drehen, wegen der Durchblutung. Wollen wir?«
»Autsch!« Frieda wurde quer über die Ladefläche von Petrows Rostlaube geschleudert und kollidierte dabei unsanft mit Sina, die soeben ihren englischen Sprachführer konsultiert und dabei lautlos etwas vor sich hingemurmelt hatte. Die beiden plumpsten auf den Boden. Es war bereits das vierte Mal innerhalb einer Stunde, dass Frieda von ihrem Sitz geflogen war, der gar kein Sitz war, sondern eine umgedrehte Transportkiste, auf die Tomas eine kratzende Decke gelegt hatte. Sie hatten keine Möglichkeit, sich festzuhalten, und die Straße war keine Straße mehr, sondern eine Aneinanderreihung von Schlaglöchern, über die Tomas den Wagen steuerte, als säße er auf einem Pferd, das an einem Hindernisrennen teilnahm.
Sina rappelte sich gelassen auf und nahm wieder auf der Kiste Platz. Sie bedachte Frieda mit einem Grinsen, bei dem sie ihre prächtigen Zähne entblößte, und sagte dann auf Englisch: »Mein Vater fährt gern schnell.«
Die Fahrt vom Flughafen zum Reservat dauerte insgesamt sechs Stunden, und Tomas hoffte, dass sie das Lager noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden. Frieda warf einen prüfenden Blick durch die verdreckte Heckscheibe, um sich zu versichern, dass der Hilux, auf dessen Ladefläche die geheizten Transportkisten mit den Tigerjungen standen, noch hinter ihnen war. Sie konnte ihn undeutlich in der Ferne ausmachen. Ganz offensichtlich umfuhr Iwan die Schlaglöcher deutlich vorsichtiger, und das war auch gut so. Iwans Stimme schallte aus dem Walkie-Talkie, eine Flut russischer Wörter, bei der Tomas das Lenkrad so fest umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er bellte seinerseits etwas in das Gerät und pfefferte es auf den Beifahrersitz, ehe er kaum merklich das Tempo drosselte. Sina und Frieda sahen einander an und hoben die Augenbrauen.
Die Welt draußen war eine endlose Aneinanderreihung vertikaler Streifen über einem weißen Bauchfell. Wo die meisten Menschen nur Leere, Stille, unwirtliche Natur gesehen hätten, sah Frieda eine leere Buchseite. Die Erde war voller Möglichkeiten, genau wie bei den allerersten Schneefällen vor Hunderttausenden von Jahren. Es war, als hätte jemand die Zeit ausradiert. Bisher hatte Frieda nur eine einzige Möglichkeit gekannt, der Zeit zu entkommen: mit Morphin. Der Sehnsucht nach der Auslöschung der Zeit zu widerstehen fiel ihr am schwersten. Das Morphin hatte es ihr gestattet, sich aus allen Konsequenzen auszuklinken, Ruhe zu finden am Rande ihres Lebens. Nichts sonst hatte ihr bislang – vor der Entdeckung des endlosen, unberührten Schnees dort draußen – auch nur den Hauch einer Chance dazu geboten. Frieda konnte kaum noch stillsitzen, so stark war der Drang, auszusteigen und sich hineinzustürzen. Gut möglich, dass sie sich vor Freude darüber genauso toll gebärden würde wie die Tigerjungen es zweifellos tun würden, wenn sie zum ersten Mal mit dem Schnee, für den sie geboren waren, in Berührung kamen. Nicht einmal die wilde Fahrt in diesem unbequemen Gefährt konnte ihr Hochgefühl trüben.
Als ihnen ein mit Holz beladener Laster auf der einspurigen Forststraße entgegenkam, hielt Tomas den Wagen an, bellte etwas ins Funkgerät und kletterte dann aus der Kabine. Die Kälte legte sich gleich einem Schraubstock um Friedas Waden, fraß sich wie ausgehungerte Maden unerbittlich durch ihre teuren Stiefel und Wollsocken. Frieda wackelte mit den Zehen, und ein Schmerz schoss durch ihre Knochen. Der Boden des Kastenwagens war an manchen Stellen durchgerostet, sodass ätzend kalte Luftströme von unten auf ihre Sohlen wehten.
Doch das Gefühl war so neu, so leibhaftig, so intensiv, dass sie sich dabei ertappte, wie sie es beobachtete, es sich einprägte, sich die Schwachstellen im Geiste notierte, damit sie das nächste Mal besser gerüstet wäre. Die Kälte war wie ein Raubtier, mit dem man sich arrangieren musste, wie ihr nun bewusst wurde, man musste sie respektieren und durfte von ihr keinerlei Gnade erwarten. Und diese Frieda, diese neue Frieda, die Tigerwärterin und Leiterin eines Auswilderungsprogramms war und die russische Sprache beherrschte, erwartete keine Gnade. Sie erwartete gar nichts.
Zwei Jahre waren seit Lunas Angriff auf sie vergangen, und Frieda konnte kaum fassen, was sich in ihrem Leben seither getan hatte. Tomas hatte Lunas Reise bis zum Torbet Zoo nachverfolgt und damit den Grundstein gelegt für eine Kooperation, die in diesem Unterfangen gipfelte: in der Auswilderung von Lunas Nachwuchs.
Frieda wischte über das von ihrer Atemluft beschlagene Fenster, um keine Minute zu verpassen, während draußen endlos der Wald vorübermarschierte. Hier hatte Luna, ihre Luna gelebt. Frei . Ihre Jungen kehrten in ihre Heimat zurück. Wenn die Reise doch nur endlich zu Ende wäre, damit die beiden zum allerersten Mal diesen Schnee betreten und ihre Lungen mit der Luft Sibiriens füllen konnten! Bei der Vorstellung brannten ihr Tränen in die Augen.
Atemwolken standen vor Tomas’ Mund, während er wild gestikulierend mit dem Fahrer des Holzlasters verhandelte, einem eierköpfigen Mann mit Sonnenbrille und einer riesigen Pelzmütze, deren Ohrenklappen lebhaft wackelten, als er schließlich zustimmend nickte. Kurz sah es so aus, als würde sich auch Iwan zu den beiden gesellen, die Fahrertür des Hilux hinter ihnen schwang kreischend auf, doch Tomas winkte ab, worauf sie wieder zuging.
Der Laster setzte ein Stück zurück bis zu einer Stelle, an der die Straße ein klein wenig breiter wurde, sodass sich Tomas daran vorbeiquetschen konnte, wobei er ein paar Äste streifte. Prompt knatterte ein Fluch von Petrow aus dem Walkie-Talkie. Es dauerte eine volle Viertelstunde, bis Tomas und Iwan den Laster passiert hatten. Frieda reckte den Hals in dem Versuch, einen Blick auf die Transportkiste zu erhaschen. Hoffentlich wurden die beiden Jungen nicht allzu sehr durchgeschüttelt. Sie waren betäubt, dennoch war die lange Reise strapaziös für sie. Sie mussten noch an vier weiteren Holzlastern vorbei, und jedes Mal ging dem Manöver eine freundschaftliche Unterhaltung mit den Fahrern voraus.
Sina war von der Transportkiste gerutscht und schlief, den Kopf auf Friedas Oberschenkeln, die Gesichtszüge entspannt. Es war das erste Mal, dass sich ein Teenager so an sie schmiegte, dass sich überhaupt ein Kind an sie schmiegte. Sina hatte ganz offensichtlich beschlossen, dass Friedas Oberschenkel bestens für ein kleines Nickerchen geeignet waren. Das war nur eines von zahlreichen Wundern, die sich auf dieser Fahrt, auf der sie immer wieder durch die Gegend geschleudert wurden, ereigneten. Frieda ließ den Blick über das Mädchen wandern und staunte darüber, dass junge Menschen einfach so schlafen konnten, fast wie Tiere.
Sie zog ein kleines gerahmtes Foto aus der Tasche. Es zeigte Luna, die unversehrte Seite ihres Schädels der Kamera zugewandt. Frieda liebte die entstellte Seite mit ihrer großen, dunklen Kuhle, so voller Geheimnisse. Das Foto war nicht von ihr. Gabriel hatte es ihr ein paar Tage vor der Abreise geschenkt.
Frieda war gerade mit dem Ausmisten von Lunas Innengehege beschäftigt gewesen, wobei sie sich via Kopfhörer Texte in russischer Sprache anhörte. Sie hatte, nachdem das Iwanowitsch-Reservat Kontakt mit dem Zoo aufgenommen hatte, sofort angefangen, Russisch zu lernen, als eine Art Forschungsprojekt, und sie gierte förmlich danach, immer Neues zu hören. Manchmal waren es Hörbücher, manchmal die Nachrichten, manchmal auch Sprachkurse. Wann immer sie die Tiger versorgte, tauchte sie ab in ihre ganz private russische Welt, und obwohl sie niemanden zum Üben hatte, beherrschte sie dank dieser Methode die russische Sprache schon bald mehr oder weniger fließend.
Als Gabriels kühler Schatten auf sie fiel, schrak sie zusammen und nahm die Kopfhörer ab. In den zwei Jahren seit Lunas Angriff hatten sie sich kein einziges Mal persönlich gegenübergestanden. Gabriel hatte den Großteil des ersten Jahres im Krankenhaus verbracht, weil immer wieder neue Operationen erforderlich gewesen waren, an Brust, Armen und Beinen, wo Luna das Fleisch von seinen Knochen gefetzt hatte. Danach war er für die Zeit der Reha wieder zu seinem Vater ins Haupthaus gezogen und an den meisten Tagen rastlos im Zoo herummarschiert, um die beschädigten Muskeln wieder aufzubauen. Neuerdings half er freiwillig überall dort aus, wo Not am Mann war – die Sektion Großkatzen ausgenommen –, übernahm sämtliche Arbeiten, zu denen er in seinem geschwächten Zustand imstande war.
Er ging Frieda so erfolgreich aus dem Weg, dass sie sich mit der Zeit ein wenig entspannt hatte. Sie musste nicht damit rechnen, ihm zu begegnen, und verspürte auch nicht das geringste Bedürfnis danach. In der Zwischenzeit hatte sich die Kooperation mit dem Iwanowitsch-Reservat kontinuierlich weiterentwickelt und ihrer Arbeit mit Luna und Lyric einen neuen, höheren Stellenwert verliehen. Leyland hatte darauf gedrängt, dass sie die Leitung des Auswilderungsprojekts übernahm, und er war begeistert gewesen angesichts der Möglichkeiten, die es seinen Tigern eröffnete. Er bedauerte lediglich, dass er künftig auf Frieda als Tierpflegerin würde verzichten müssen. Sie war rund um die Uhr beschäftigt – auch, weil Russisch eine so majestätische und kompakte Sprache war, die den letzten Rest von Friedas Aufmerksamkeit absorbierte.
Schock. Sie konnte es noch immer nicht fassen. Gabriels Gesicht war unversehrt, doch zahlreiche tiefe bleigraue Furchen verschwanden im Kragen seines Overalls. Er sah Frieda von unter dem Schirm seiner Baseballmütze in die Augen.
»Sie sind alle drüben bei Lyric«, sagte sie, um zu erklären, warum Lunas Gehege leer war. Eine blecherne russische Stimme tönte aus den Kopfhörern um ihren Hals.
»Ich wollte zu dir.«
»Oh.« Wenn doch nur jemand käme und für eine Unterbrechung sorgte! Er beanspruchte alle Luft für sich, seine Gestalt im Türrahmen sperrte das Licht aus. Es war, als hielte ihr jemand eine aufgezogene Morphinspritze hin, just in dem Augenblick, in dem sie am allerwenigsten damit gerechnet hatte, in dem sie angenommen hatte, sie sei darüber hinweg.
»Hier.« Er hielt ihr ein Foto von Luna hin. »Ich dachte, vielleicht willst du es haben, zur Erinnerung.«
»Danke.« Frieda nahm das Foto und lächelte. »Auf diese Weise kann ich gewissermaßen auch Luna nach Hause bringen.«
»Wie läuft das Ganze denn ab?«
»Die Auswilderung der Jungen, meinst du? Wir fliegen Mitte der Woche, ein Spezialtransport für Tiere. Und in Sibirien geht es dann mit einem Laster in den Wald. Tomas sagt, sie haben ein naturnahes Gehege in der Taiga gebaut, damit sich die beiden akklimatisieren können. Ich werde in einem Lager wohnen, bei minus fünfunddreißig Grad …« Sie verstummte. »Hm. Wer hätte das gedacht«, sagte er leise.
»Was meinst du?«, fragte sie.
»Naja, erst lässt du dich von Luna beinahe auffressen, und jetzt sorgst du dafür, dass ihre Jungen ausgewildert werden.« Er grinste. »Wissen diese Leute, wie unfähig du bist?«
»Ich bin nicht mehr unfähig.«
Gabriel trat näher. Selbst in seinem angeschlagenen Zustand brachte er sie dazu, einen Schritt zurückzuweichen.
Er seufzte. »Du bist verdammt gut. Wollte ich nur mal gesagt haben. Dass du damals das Betäubungsgewehr genommen hast, ist nur ein Beweis dafür. Die unfähige Frieda hätte das andere Gewehr genommen und Luna mit Kugeln durchsiebt. Dann hätte Luna weitergekämpft, und ich wäre jetzt tot.«
»Danke, dass du … mich gerettet hast.«
Er nickte und wandte sich zum Gehen, und in diesem Augenblick wurde Frieda von einem Hochgefühl erfasst, das beinahe an einen Morphinrausch erinnerte, ausgelöst durch die Erkenntnis, dass sie in der Lage war, dem, was sie empfand, zu widerstehen. Es war Morphin in einer Schublade, und die Schublade schloss sich gerade. Frieda selbst schob sie zu.
Gabriel hob die Hand, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Viel Glück, Bonobo-Mädchen«, sagte er zum Abschied.
Allmählich quoll die Dunkelheit zwischen den Baumstämmen am Wegesrand hervor. In Friedas Vorstellung schlichen Tiger durch dieses Dunkel, bereit, herauszustürzen und sich ihnen in den Weg zu stellen. Ihre Knochen waren in der Kälte zu torquiertem Metall geworden, und sie sehnte sich nach einem heißen Getränk und musste dringend auf die Toilette. Sina erwachte und sah aus dem Fenster. Auf einen Außenstehenden mochte die Landschaft nichtssagend wirken, doch sie wusste genau, wo sie sich befanden. »Wir sind fast zu Hause«, sagte sie.
»Ich habe etwas für dich«, sagte Frieda auf Russisch.
Sina schüttelte den Kopf. »Lass uns Englisch reden. Ich muss üben.«
»Also gut.« Frieda hielt ihr das Foto hin.
Beim Anblick der Tigerin wich schlagartig jeglicher Ausdruck aus Sinas Gesicht. Dann ein Hauch Farbe auf den Wangen, wie Tinte in Wasser. »Oh«, sagte sie und flüsterte dann etwas Unverständliches auf Russisch. Ihr Finger berührte Lunas Haupt.
»Es tut mir leid, dass Luna nicht selbst zurückkommen kann, Sina. Ich weiß, ihr zwei steht euch nah. Aber sie ist einfach nicht fit genug, nach allem, was sie durchgemacht hat.«
Frieda hatte im Laufe des vergangenen Jahres Fotos gemailt, von Luna und vom Zoo, und die Tatsache, dass die Tigerin ein Auge eingebüßt hatte, war ausgiebig beklagt worden. Es hatte lange gedauert, bis man hier verstanden hatte, dass es keinen Sinn hatte, Luna zurückzubringen.
»Ja«, sagte das Mädchen mit zitternden Lippen .
»Aber dafür bringen wir ihre Jungen hierher, in Lunas Heimat. Und Luna ist sehr glücklich im Torbet Zoo. Sie wird noch sehr lange leben, und ich bin sicher, eines Tages wirst du sie dort besuchen. Ich weiß, wie sehr du sie liebst. Ich liebe sie genauso.«
Sina steckte das Foto in die Jackentasche, und dann schlossen sich ihre Finger um Friedas Hand und hielten sie den Rest der Fahrt fest.
Schließlich mündete der Weg in eine weite schneebedeckte Ebene, die vom Mond und einem einsamen Scheinwerfer beleuchtet wurden. In den Schatten standen Hütten, zwischen ihren Silhouetten drängten sich einige Männer. Die beiden Fahrzeuge mit ihrer wertvollen Fracht näherten sich der Gruppe mit brummendem Motor. Durch das Fenster sah Frieda die müden Gesichter der Männer vor Aufregung aufleuchten, sah ihre neugierigen Blicke. Stimmengewirr, Lachen, große, weiße Atemwolken. Sie trat hinaus in den Schnee und schüttelte den Männern reihum die Hand.
An den Rändern der rauen Decken, mit denen die Fenster verhängt waren, sickerte morgendliche Helligkeit herein. Die Wärme in Friedas Hütte hatte sich über Nacht verflüchtigt. Frieda zählte bis zehn, um sich seelisch zu rüsten, ehe sie aus dem Bett sprang und in die Kleider schlüpfte, die sie am Vorabend bereitgelegt hatte. Das Deckflügelpaar eines toten Käfers klebte an ihrem Bein. Sie wischte es fort.
Laut Iwan war die Ausstattung des Lagers dank Förderungen der Regierung im Vergleich zu früher geradezu luxuriös, aber Hygiene galt sichtlich nicht als prioritär. Petrow hatte ihr mit einem missmutigen »Ta-daa!« einen Eimer präsentiert – alternativ konnte sie das komplette Lager durchqueren, um zu einer Reihe neu errichteter Plumpsklos zu gelangen, auf die Iwan aus unerfindlichen Gründen ausgesprochen stolz war. Sie hatte am ersten Abend eines davon ausprobiert, hatte sich vorsichtig auf der eiskalten Holzplanke niedergelassen, hatte allerlei nicht näher erkennbare Verkrustungen unter ihren Oberschenkeln gespürt, und erst mit der Zeit war ihr bewusst geworden, dass in den Kabinen rechts und links von ihr je ein Mann saß. Der Rauch ihrer Zigaretten und der gelbe Lichtschein ihrer Taschenlampen waren durch die Ritzen in den Bretterwänden gedrungen, während die beiden in weiß der Himmel was für Zeitschriften geblättert hatten. Zu einer Benutzung bei Tageslicht konnte sich Frieda beim besten Willen nicht überwinden.
Bei der Einfriedung angelangt, stellte sie fest, dass der Schnee darin vollkommen aufgewühlt war. Die Tigerjungen hatten sich bereits gründlich in ihrer neuen Welt ausgetobt. Sie waren noch ganz benommen gewesen, als sie sie am Abend zuvor in ihre neue Behausung verfrachtet hatten, wo sie sich erst einmal erholen sollten. Der überdachte Teil des Geheges wurde mittels eines unter den Bodenplanken verlegten Rohrs beheizt, das mit einem Holzofen verbunden war. In den kommenden Wochen sollte die Wärmezufuhr kontinuierlich gedrosselt werden, um sie an die kalten Nächte zu gewöhnen.
Petrow und Erik hatten am Vorabend etwas genervt bemerkt, sie seien das gesamte vergangene Jahr mit dem Bau von Tigerbehausungen beschäftigt gewesen. Ein Teil des Trupps hatte den Sommer auf der Lichtung um Sinas Hütte verbracht und provisorische Unterkünfte sowie ein geräumiges Eingewöhnungsgehege für die beiden Tiger errichtet. Zur gleichen Zeit war auch das Gehege hier im Lager entstanden, als Interimsbehausung für Lunas Jungen, ehe sie im Frühling in die Taiga gebracht werden konnten.
Das Konstrukt glich einer Festung: Im Außenteil waren ganze Baumstämme als Streben verbaut, der Innenbereich bestand aus Hartholzplanken. Auf Ästhetik hatte man keinerlei Wert gelegt: Das erschreckend hässliche, extrastarke Maschendrahtgeflecht sah aus, als käme es aus einem Straf- oder Militärlager, aber es entsprach den Sicherheitserfordernissen. Es war viereinhalb Meter hoch, am oberen Rand nach innen gebogen und unten ausreichend tief im Boden vergraben. Man hatte die Männer angewiesen, ein Gefängnis zu bauen, und das hatten sie getan.
Frieda bemerkte zufrieden, dass sie ihre Anregungen übernommen und an erhöhte Liegeplätze und anderweitige Rückzugsmöglichkeiten gedacht hatten. Der Innenbereich konnte vom Außengehege mittels einer vertikalen Schiebetür abgetrennt werden, was es den Männern ermöglichte, die Schlafstelle zu reinigen, ohne gesehen zu werden.
Der Generator erwachte tuckernd zum Leben. Iwan hatte sie darüber informiert, dass es zwei Mal täglich Elektrizität gab: eine Stunde morgens, zwei Stunden abends. Diesel war ausgesprochen teuer, und die Fördergelder, die das Lager dank Präsident Putin erhielt, wurde nur für Wesentliches ausgegeben: für die Tiger und für den Bau einer Luxusunterkunft, in der Putin, wenn er endlich zu Besuch käme, wohnen sollte.
Frühstück gab es frühestens in einer Stunde, sie hatte also Zeit, um ein wenig die Gegend zu erkunden. Frieda kehrte den in ihrem neuen Zuhause umhertrabenden Jungen den Rücken und machte sich auf den Weg, immer den Fahrzeugspuren entlang in die Richtung, aus der sie am Vorabend gekommen waren.
Schon nach ein paar hundert Metern war es, als hätte es die Menschheit nie gegeben. Ein breiter, verschneiter Trampelpfad, den allerlei Tierfährten zierten, zweigte vom Weg ab und führte geradewegs in die Taiga. Frieda erkannte nicht alle Spuren; die Tiere, die sie hinterlassen hatten, waren zum Großteil kaum in den Schnee eingesunken. Bei den Fährten der größeren Tiere – Rotwild, wie sie annahm – wiesen die einzelnen Abdrücke Schleifspuren auf, die sie größer erschienen ließen und ein Hinweis auf das Gewicht des Verursachers waren. Der Schnee schimmerte wie das Weiß im menschlichen Auge. Die Aufwerfungen der Baumrinden waren an den Kanten von koksartigen weißen Linien überzogen, die die Oberflächen der Stämme in ein glitzerndes Labyrinth verwandelten. Ihre Stiefel machten einen Heidenlärm im Pulverschnee, der so trocken war, dass es bei jedem Schritt staubte. Sie warf einen Blick über die Schulter, kam sich beim Anblick ihrer Spuren vor wie der allererste Mensch im Garten Eden; allein unter Tieren.
Vogelgezwitscher war nicht zu hören, es herrschte vollkommene Stille, einmal abgesehen vom lauten Knistern und Scheuern ihrer Kleidung. Es klang, als versuchte sie verzweifelt, aus einem mit Stahlwolle gefüllten Zuber zu klettern. Eine einzelne Krähe stürzte sich von einer Baumkrone. Aus dem Augenwinkel registrierte Frieda eine Bewegung – ein Eichhörnchen, das an einem Stamm emporraste und zwischen den Zweigen verschwand. Sein Fell war von genau der gleichen Farbe wie die Borke. Beim Blick zwischen die unzähligen Bäume stellte Frieda erstaunt fest, dass sie dank der Kombination aus reflektierendem Schnee, strahlend blauem Himmel und unbelaubten Ästen praktisch unendlich weit sehen konnte, ohne dass der Wald zu einer dunklen Masse verschwamm. Im Gegenteil: Er schien sich bis zum Horizont zu erstrecken, lediglich begrenzt durch ihre Sehkraft, ein Muster, das sich jedem Versuch einer Einordnung entzog. Hatte sie da in der Ferne etwas aufblitzen sehen? Sie hatte gelesen, eine Begegnung mit einem Tiger in freier Wildbahn sei zwar höchst unwahrscheinlich, man könne aber davon ausgehen, dass man von einem Tiger beobachtet wurde.
Als in einiger Entfernung ein Schuss fiel, blieb sie stehen.
»Frieda!« Sehr weit hinter ihr ein graubraun gekleideter Mann. Sie sah ihm mit zusammengekniffenen Augen entgegen, aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihn anhand seines schwerfälligen und zugleich kraftvollen Gangs als Tomas identifizierte. Er winkte ihr. Er hielt etwas in der Hand – kein Gewehr, sondern etwas anderes, eine Art Stock. »Frieda!«
Als er sie endlich erreicht hatte, fiel ihr auf, dass er sich fast geräuschlos bewegte im Gegensatz zu ihr in ihrer raschelnden Funktionskleidung.
»Sie sollten nicht hier draußen sein«, stieß er verärgert hervor. »Haben Sie den Gewehrschuss gehört? Der sollte die Tiger verscheuchen. Sie haben noch nicht einmal eine Magnesiumfackel mitgenommen.« Er wedelte mit dem Stab vor ihrer Nase herum.
»Aber … Ich mache doch bloß einen Spaziergang.«
»Wir sind hier in der Wildnis, Frieda«, sagte er auf Russisch, aber sehr langsam, als würde sie ihn sonst nicht verstehen. »Da geht man nicht einfach spazieren. Die Tiger kommen bis direkt zum Lager. Wenn Sie einem hier draußen begegnen, sind Sie tot. Das könnte einen internationalen Skandal geben. Also, folgen Sie mir bitte zurück zum Camp.«
»Ich bin doch kein kleines Kind!«, rief Frieda, stapfte ihm jedoch hinterher. »Ich bin die Auswilderungskoordinatorin. Sie können mich nicht behandeln wie eine Gefangene!«
Tomas seufzte. »Sie sind keine Gefangene, Frieda«, sagte er und fügte mit einer weit ausholenden Geste hinzu: »Aber sehen Sie sich doch mal um. Der Wald mag auf Sie verlassen wirken, als wäre hier nichts … die totale Einöde … doch das täuscht. Sie glauben, Sie sehen alles, aber ein Tiger ist perfekt getarnt. Er könnte keine zehn Meter weit weg sein, Sie würden ihn nicht sehen. Was meinen Sie, warum Tiger selten verhungern, selbst wenn das Futter noch so knapp ist?«
»Gut, nächstes Mal nehme ich eine Fackel mit. Oder Sie geben mir ein Gewehr. Ich kann schießen.«
Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Es wird kein nächstes Mal geben, Frieda. Wenn Sie einen Spaziergang machen wollen, komme ich mit, oder einer der anderen Männer. Was ist, wenn Sie einem Tiger begegnen und ihn erschießen? Selbst, wenn Sie überleben, was nicht der Fall sein wird, dann wäre das eine Katastrophe für uns.« Er packte sie am Arm. »Sie sind nicht mehr im Zoo. Wir befinden uns hier in der russischen Taiga, und die ist voller wilder Tiere.« Er stiefelte weiter, zündete sich zur Beruhigung seiner Nerven eine Zigarette an, blies den Rauch in die klare Luft. Frieda folgte ihm, stumm vor Zorn. Sie holte ihn erst ein, als sie sich bereits der Küche näherten. Diesmal war sie es, die ihn am Arm packte. Sie drehte ihn zu sich herum, registrierte bei der Gelegenheit, dass er nicht unbedingt sauer, sondern viel mehr müde wirkte. »Tomas, es tut mir leid. Ich hätte Ihnen sagen sollen, wo ich hingehe.« Sie sprach langsam, um sicherzugehen, dass er sie verstand. »Aber ich kann schießen, und ich verstehe etwas von Tigern. Ich bin Ihre Partnerin bei dieser Auswilderung und Ihnen somit gleichgestellt. Bringen Sie mir bei, was ich wissen muss, aber wagen Sie es ja nicht, mich noch einmal so zusammenzustauchen.« Sie hatte gute Lust, in ihrer Hütte ein paar Tränen zu vergießen, stattdessen betrat sie vor ihm die Küche, um zu frühstücken. Sie begrüßte Iwan und Sina mit einem fröhlichen ›Hallo!‹ und bedankte sich bei Petrow für die Tasse Kaffee, die er ihr grinsend hinhielt.
Abends bestanden die Männer darauf, dass sie als Erste in die Banja ging. Tomas verdrehte die Augen, als ihm Iwan etwas ins Ohr flüsterte. »Mein Vater sagt, er ist gerne bereit, Sie mit dem Birkenquast zu schlagen. Er wird sich dafür natürlich etwas anziehen, und Sie können auch gerne etwas anziehen, wenn Sie wollen.« Iwan grunzte belustigt in der Ecke.
»Sehr aufmerksam, danke, aber ich passe.« Frieda lächelte, insgeheim jedoch wurde ihr bewusst, dass dies wohl künftig ihr Schicksal war: Man würde ihr entweder übertrieben höflich oder mit Anzüglichkeiten begegnen. Dass sie Russisch verstand, machte es noch schlimmer. Es war, als würde das Fehlen der Sprachbarriere ihre Andersartigkeit als Frau noch deutlicher zutage treten lassen. Nachdem sie ihren Saunagang beendet hatte, begaben sich die Männer geschlossen in die Banja . Sie hörte ihr Gelächter bis in ihre Hütte und trat noch einmal vor die Tür, um zuzusehen, wie sie sich in den Schnee stürzten. Zum zweiten Mal in ihrem Leben war sie praktisch die einzige Frau in ihrem Arbeitsbereich und somit von derlei Kameraderie ausgeschlossen, was sie bedauerte, aber immerhin eines war hier anders: Diese Männer wussten zwar nicht, was sie von ihr halten sollten, doch sie hassten sie nicht. Vielleicht vergaßen sie eines Tages ja sogar, dass sie eine Frau war.
Noch etwas war diesmal anders, dachte sie, als sie später in ihrem kratzenden Bett lag. In der Dunkelheit summte neben ihrem Ohr ein Insekt, zum Leben erweckt von der Wärme des Ofens. Sie wedelte es gelassen fort. Sie selbst war anders. Die neue Frieda konnte allem widerstehen, und sie brauchte nichts. Armer Tomas, dachte sie, er hat keine Ahnung vom Leben. Er hat immer hier draußen gelebt, im Wald, mit seinen Kameraden, sein kleines russisches Herz von jeglicher Prüfung verschont.