Die sensibleren Geister ahnten es schon länger: So kann es nicht weitergehen. Flüchtlingsdrama, Rechtsextremismus, Hyperkapitalismus, Fake News. Da braute sich etwas zusammen. Aber niemand rechnete mit dem Unerwarteten. Dass ein in China entsprungenes Virus binnen zwei Monaten die hypermobile Welt, in der zwei Millionen Leute täglich den Flieger nehmen, in eine kollektive Lähmung zwingen würde. Vielleicht endet nun eine Zeit, in der sich trotz der andauernden Aktualitäten anscheinend kaum etwas ändert. Kürzlich noch ließ sich die Welt wie eine ununterbrochene Serie konsumieren, wie ein kontinuierlicher und somit fast langweiliger Stream wechselnder Katastrophen. Der Zeit-Raum des Internet überwölbte das raumzeitlich strukturierte Gefüge historischer Abläufe. „Geschichte“ versank im Meer der Narrative. Alles geschah gleichzeitig, gegenläufig, gleichförmig. Gerade noch regierte eine von Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht so genannte hyperaktuelle, stetig „sich verbreiternde Gegenwart“. Es war ein Jetzt, das nach dem 2. Weltkrieg begann und nicht mehr aufhörte, das immer weiter ging, bis es so weit reichte wie der Cyberspace. Ein Wohlstands- und Wohlfühl-Jetzt. Im März 2020 scheint plötzlich eine neue Zeitrechnung zu beginnen.
Alles passiert in diesem Augenblick. Die Verbreitung des Virus reproduziert sich in Echtzeit im Netz. Die Unsicherheit lässt sich nicht kontrollieren. Die „breite Gegenwart“ wird schmal. Sie verengt sich auf den wiederkehrenden Moment des Händewaschens, einer vorsintflutlichen und zugleich hochaktuellen Anwendung, gegen die jede App mit ihrem innovativen, intuitiven Design alt aussieht. Gerade noch beklagte man den Stress viel zu vieler Arbeiten, Konferenzen, Reisen – nun sitzt man zu Hause und ist fassungslos angesichts der exponentiell wachsenden Infektions- und Todesraten. Keiner weiß, was kommt. Vielleicht liegt in der Krise auch eine große Chance. Vielleicht kann ja dieses brandneue, hochansteckende Virus bewirken, was Hunderttausenden Kriegs- und Klimaflüchtlingen bisher nicht gelungen ist: Reflexion. Innehalten. Ein Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz. Einen Sinn für das Wir. Auf jeden Einzelnen kommt es an, aus der Krise eine Chance zu machen; mehr noch, die Krise selbst, wie ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo schrieb, „zu einem Akt der Menschlichkeit“ zu machen.
Irgendwann wird die Krise vorbei sein, und die Welt, in der wir erwachen werden, wird eine andere sein. Wir werden gelernt haben, dass Digitalisierung in allen Bereichen nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Wir werden uns andere Praktiken des Arbeitens und Miteinanderseins angeeignet haben. Wir werden mehr denn je verstanden haben, dass sich reales Leben auch im virtuellen Raum entfalten kann. Wir werden schmerzlich kapiert haben, wie sehr das individuelle „Selbstdenken“ die Vernetzung mit anderen Hirnen und Herzen braucht. Diese Lernerfahrungen betreffen auch die Geisteswissenschaften. Bis vor Kurzem verhielten sich die Welt digitalkapitalistischen Unternehmertums und die Welt des Geistes zueinander wie das Hologramm eines Einhorns zu einem Schraubenschlüssel. Gar nicht. Eben noch war der außerakademische Austausch zwischen ökonomischer Praxis und philosophischer Theorie auf ein Minimum beschränkt. Im März 2020 aber schließt sich die Kluft plötzlich. Philosophen, die gerade über „nichtreduktiven Materialismus“ brüteten, müssen jetzt Online-Offensiven starten. Unternehmer, die gerade Übernahmestrategien implementierten, müssen jetzt reflektieren. Corona lehrt: Theorie braucht Praxis, und Praxis Theorie.
„Wir werden nie die richtigen Antworten auf unsere Fragen erhalten, wenn wir nicht die richtigen Fragen stellen“, schrieb der Begründer der Kybernetik Norbert Wiener schon 1950. Wiener hoffte auf die „richtigen Fragen“ der Philosophen. Zu lange schützte das System uns Geistesarbeiter davor, unsere Abstraktionen von den Widersprüchen, Mehrdeutigkeiten, Kontingenzen des konkreten Lebens kontaminieren zu lassen; zu lange konnten wir uns hinter unserer akademischen Expertise verstecken. Nun plötzlich ist wichtiger als der theoretische Gedanke selbst das, was zu denken gibt. Das von außen einbrechende Ereignis. Ein Eindruck, der zu sehen zwingt. Eine Begegnung, die sprachlos macht. Ein Virus, das zur inneren Umkehr veranlasst. Zum Lernen.
„Heute“ ist immer eine Zeit, die das Neue, das sie ist, noch nicht so richtig begriffen hat. Und das gilt erst recht für das neue Jetzt im Jahr Null von Corona. Wie wird sich die Philosophie, wie werden sich die Geisteswissenschaften verändern? Vielleicht entsteht nach Corona ein Raum, in dem sich geisteswissenschaftliche Theorie und lebensweltliche Praxis, Ich und Wir, Gemeinschaft und Gesellschaft stürmisch umarmen. Ein Frei- und Lernraum, in dem die Imperative der Maximierungs- und „Fortschritts“-Logik einer Lust an der kreativen Verwandlung weichen. Und aus dem bald etwas ganz Neues entstehen kann. Etwas Unerhörtes, Unvorstellbares, Niedagewesenes. Humanität. Ein kosmopolitischer Kosmos aus Logik und Emotion, Spiel und Ernst, Hirn und Herz. Der Raum, der mir vorschwebt, ist gar nicht so weit weg. Tatsächlich befindet er sich sogar in unserer unmittelbaren Nähe. Er sitzt direkt zwischen unseren Schultern. Es ist unser Kopf. Wir müssen ihn nur betreten – und seine geistigen Schätze vermehren, nach außen tragen, mit anderen teilen, praktisch werden lassen.