D ie Arbeitszeiten waren lausig, die Trinkgelder schlecht, und die meisten meiner Kollegen gingen mir pausenlos auf die Nerven, aber c’est la vie . Es war ein Sommerjob, der mir immerhin Nonna vom Hals hielt. Außerdem hatten meine diversen Tanten, Onkel und die übrige Sippschaft so wenigstens keinen Grund, mir zeitweilige Beschäftigung in ihren Restaurants/Metzgereien/Anwaltskanzleien/Boutiquen etc. anzubieten. Angesichts der sehr großen (und sehr italienischen) Familie meines Vaters boten sich dort schier unendliche Möglichkeiten, die jedoch im Grunde alle auf das Gleiche hinausliefen.
Man wollte mich im Auge behalten, denn mein Vater wohnte am anderen Ende der Welt, und meine Mutter war spurlos verschwunden – falls sie überhaupt noch lebte. Daher war ich als Problemfall prädestiniert. Und als Teenager war ich sowieso allen verdächtig.
»Bestellung ist fertig!«
Mit geübtem Griff angelte ich mit der linken Hand einen Teller mit Pfannkuchen (Speck) und mit der rechten einen doppelten Frühstücksburrito (Jalapeños). Wenn es mit dem Studientest im Herbst nicht klappte, hätte ich in den Niederungen der Gastronomiebranche immerhin echte Chancen.
»Pfannkuchen mit Speck, Frühstücksburrito mit extra Jalapeños«, verkündete ich, als ich die Teller servierte. »Kann ich sonst noch etwas für die Herren tun?«
Ich wusste bereits genau, was dieses Duo sagen würde, noch bevor einer von ihnen den Mund aufmachte. Der Typ links wollte eine Extraportion Butter. Und der andere? Er würde noch ein Glas Wasser brauchen, bevor er auch nur einen Blick auf diese Jalapeños geworfen hatte.
Ich würde hundert zu eins wetten, dass er sie nicht mal mochte.
Wer Jalapeños mag, bestellt sie nicht als Beilage. Mr Frühstücksburrito wollte nur nicht, dass man ihn für ein Weichei hielt – auch wenn er das vor sich selbst nie zugegeben hätte.
Hey, Cassie , mahnte ich mich, nun sei mal nicht so streng mit dem Typen.
»Könnte ich noch ein paar Päckchen Butter bekommen?«, fragte der Mann links.
Ich nickte … und wartete.
»Mehr Wasser«, knurrte der Kerl rechts. Er warf sich in die Brust und stierte auf meine.
Ich zwang mich zu lächeln. »Kommt sofort.«
Fast hätte ich Perversling hinzugefügt, konnte mich aber gerade so noch davon abhalten.
Ich hatte nämlich die stille Hoffnung, dass ein Kerl Ende zwanzig, der so tat, als möge er scharf gewürztes Essen – und der seiner minderjährigen Bedienung auf die Brust glotzte, als würde er für die Augenolympiade trainieren –, sich beim Trinkgeld ebenso würde hervortun wollen.
Andererseits , dachte ich mir dann, könnte er auch der Typ sein, der die dumme kleine Bedienung ignoriert, nur um zu zeigen, dass er es kann.
Gedankenverloren dachte ich über die Details meiner Beobachtungen nach: die Art, wie Mr Frühstücksburrito sich kleidete, seinen mutmaßlichen Beruf und die Tatsache, dass sein Freund, der den Pfannkuchen bestellt hatte, eine wesentlich teurere Uhr trug als er.
Er wird sich mit ihm um die Rechnung streiten und dann ein ganz mieses Trinkgeld geben. Ich hoffte, dass ich unrecht hatte, war mir aber leider ziemlich sicher, dass dem nicht so war.
Andere Kinder verbrachten ihre Vorschuljahre damit, Ich sehe was, was du nicht siehst zu spielen. Ich war mit einem ganz anderen Spiel aufgewachsen: Verhalten, Persönlichkeit, Umgebung – VPU nannte meine Mutter das, deren professionelles Handwerkszeug diese Art Beobachtungen waren. Und wenn man erst mal gelernt hatte, andere so zu betrachten, konnte man später nicht einfach wieder damit aufhören – selbst, wenn man inzwischen alt genug war, um zu verstehen, dass die eigene Mutter log, wenn sie anderen Leuten erzählte, sie könne hellsehen, und dass es Betrug war, wenn sie ihnen für ihre Prophezeiungen Geld abnahm.
Selbst jetzt, wo sie schon so lange fort war, konnte ich nicht damit aufhören, andere Menschen zu beurteilen, ebenso wenig, wie ich aufhören konnte zu atmen, zu zwinkern oder die Tage zu zählen, bis ich achtzehn wurde.
»Ein Tisch für eine Person?«, holte mich eine leise, männliche Stimme mit einem amüsierten Unterton in die Realität zurück. Der Typ, zu dem die Stimme gehörte, sah aus wie jemand, den man eher in einem Countryclub als in einem Diner antreffen würde. Er trug Jeans und ein gestreiftes Poloshirt, hatte perfekte Haut, und sein Haar war kunstvoll mit Gel verwuschelt – Out-of-bed-Style. Seine Worte klangen zwar wie eine Frage, doch das waren sie nicht – keineswegs.
»Sicher«, sagte ich und griff nach einer Speisekarte, »bitte hier entlang.«
Countryclubboy muss etwa in meinem Alter sein , dachte ich, als ich die Details an ihm unauffällig in Augenschein nahm. Er hatte ein spöttisches Lächeln auf den Lippen und einen lässigen Gang, so wie alle Coolen auf der Highschool, die sich für etwas Besseres hielten. Bei seinem Anblick kam ich mir wie eine Unterwürfige vor.
»Wie wäre es hier?«, fragte ich, als ich ihm einen Tisch am Fenster zeigte.
»Passt«, bestätigte er und setzte sich. Mit einer bemerkenswerten Selbstsicherheit für einen Teenager ließ er beiläufig den Blick durch das Restaurant schweifen. »Ist hier an den Wochenenden viel los?«
»Sicher«, erwiderte ich. Kann ich vielleicht auch noch etwas anderes sagen? Seinem Blick nach zu urteilen fragte der Typ sich wohl gerade dasselbe. »Ich lasse dir einen Moment Zeit, damit du dir die Karte ansehen kannst.«
Da er nicht antwortete, nutzte ich die Gelegenheit, um Mr Pfannkuchen und Mr Frühstücksburrito ihre Rechnung zu bringen, und zwar jedem seine eigene – in der Hoffnung, dass auf diese Weise ein halbwegs vernünftiges Trinkgeld herausspringen würde.
»Sie können bei mir bezahlen, wenn Sie so weit sind«, sagte ich mit gekonnt falschem Lächeln auf den Lippen. Als ich mich zur Küche umwandte, bemerkte ich, dass mich Countryclubboy ansah. Es war kein »Ich will bestellen«-Blick. Ich hatte keine Ahnung, was es war – aber ich wusste, dass da irgendetwas war. Das bohrende Gefühl, das mir klarmachte, ein wichtiges Detail an der ganzen Sache nicht mitbekommen zu haben – etwas über ihn –, wollte einfach nicht wieder verschwinden. Typen wie er gingen normalerweise nicht in solchen Restaurants essen.
Und sie starrten Mädchen wie mich nicht so an.
Verunsichert und misstrauisch ging ich zu ihm.
»Weißt du schon, was du willst?«, fragte ich. Schließlich kam ich nicht umhin, seine Bestellung aufzunehmen, doch ich ließ meine Haare vors Gesicht fallen, um es vor ihm zu verbergen.
»Drei Eier.« Seine schönen braunen Augen suchten meine. Verdammt. »Mit Speck.«
Ich erfüllte nicht das Klischee einer Kellnerin, der immer ein Stift hinter dem Ohr klemmte, und für diese Bestellung – wie für die meisten anderen auch – brauchte ich nun wirklich keinen Notizblock. Doch plötzlich wünschte ich mir, ich hätte wenigstens eins von beidem, um mich an irgendetwas festhalten zu können.
»Wie hättest du deine Eier gerne?«
»Sag du es mir.«
Überrascht blickte ich auf.
»Wie bitte?«
»Rate!«, forderte er mich auf.
Durch den Haarschleier vor meinem Gesicht hindurch starrte ich ihn an.
»Ich soll raten, wie du deine Eier zubereitet haben möchtest?«
»Warum nicht?« Er lächelte.
Damit war das Spiel eröffnet.
»Kein Rührei«, überlegte ich laut. Rührei war zu durchschnittlich, zu gewöhnlich, und der hier legte Wert darauf, anders zu sein. Allerdings auch nicht zu anders, was pochierte Eier ausschloss – zumindest hier. Normales Spiegelei war eine zu große Schweinerei, von beiden Seiten durchgebratenes Spiegelei nicht genug Schweinerei.
»Spiegelei, kurz gewendet«, schloss ich und war mir dabei so sicher wie bei der Farbe seiner Augen.
Lächelnd klappte er die Karte zu.
»Und? Erfahre ich, ob ich richtig geraten habe?«, fragte ich, nicht um meine Vermutung bestätigt zu bekommen, sondern weil ich seine Reaktion sehen wollte.
»Dann wäre der ganze Spaß ja vorbei, findest du nicht?«, meinte er und zuckte die Schultern.
Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte ihn angestarrt, bis ich aus ihm schlau geworden wäre. Doch das tat ich nicht. Ich gab seine Bestellung auf und brachte ihm sein Essen. Dann nahm mich die hektische Mittagszeit völlig in Anspruch, und als ich sie überstanden hatte, war Countryclubboy weg. Er hatte nicht einmal nach seiner Rechnung gefragt, sondern einfach zwanzig Dollar auf dem Tisch liegen lassen. Für zwölf Dollar Trinkgeld kann er gern wiederkommen, um Ratespielchen mit mir zu spielen. Doch dann bemerkte ich, dass das Geld nicht das Einzige war, was er auf dem Tisch hatte liegen lassen.
Dort lag auch eine Visitenkarte.
Blütenweiß, schwarze Buchstaben. Gleichmäßige Abstände. Oben links war ein Wappen, aber ansonsten relativ wenig Text: ein Name, ein Titel, eine Telefonnummer. Oben auf der Karte standen vier Wörter – vier kleine Wörter, die mir den Atem verschlugen wie ein Schlag in die Magengrube.
Ich steckte die Karte ein, legte das Geld in die Kasse und warf das Trinkgeld in meinen dafür vorgesehenen Behälter. Dann machte ich einen Abstecher in die Küche.
Ganz ruhig, tief durchatmen.
Doch ich konnte nicht anders, als die Visitenkarte aus meiner Hosentasche zu ziehen und erneut darauf zu starren.
Tanner Briggs. Der Name.
Special Agent. Der Titel.
Federal Bureau of Investigation.
Vier Wörter, von denen ich den Blick nicht abwenden konnte, sodass sie vor meinen Augen verschwammen und ich nur noch drei Buchstaben sah.
Was in aller Welt habe ich getan, um die Aufmerksamkeit des FBI zu erregen?