Kapitel 5

I ch gab Agent Briggs die Erlaubnis, mit meinem Vater zu sprechen. Knapp eine Woche später erhielt ich einen Anruf, in dem mir mitgeteilt wurde, dass Briggs die notwendigen Genehmigungen erhalten hatte. Am gleichen Abend kündigte ich meinen Job im Diner. Zu Hause ging ich erst mal duschen, dann zog ich mir den Schlafanzug an und bereitete mich auf den Dritten Weltkrieg vor.

Ich würde das durchziehen. Das hatte ich bereits bei den ersten Worten von Agent Briggs gewusst. Und daran konnte auch meine Großmutter, die mir wirklich wichtig war, nichts ändern. Natürlich war mir klar, wie sehr sie und der Rest der Familie sich bemüht hatten, mir das Gefühl zu geben, ebenfalls geliebt zu werden, egal, wie ich in die Familie gekommen war oder wie viel ich von meiner Mutter geerbt hatte. Doch ich hatte nie wirklich dazugehört. Ich hatte immer noch nicht verarbeitet, dass Mom verschwunden war.

Vielleicht würde mir das nie gelingen, aber Agent Briggs bot mir eine Chance, etwas dagegen zu unternehmen.

Vielleicht würde ich den Mord an meiner Mutter nie aufklären können, mithilfe dieser Akademie war es mir allerdings möglich, zu jemandem zu werden, der Mörder überführte, der dafür sorgen konnte, dass ein anderes kleines Mädchen in einem anderen Leben mit einer anderen Mutter nie das sehen musste, was ich gesehen hatte.

Es war morbide und erschreckend und bestimmt das Letzte, was sich meine Familie für mich vorstellen konnte – doch ich wollte es mehr als alles andere.

Immer noch im Bad, benutzte ich meine Finger als Kamm und fuhr damit durch mein Haar. Wenn es nass war, war es so dunkel, dass es eher braun als rot aussah. Der Dampf in der Dusche hatte meine Wangen gerötet, und ich sah aus wie ein Mädchen, das hierhergehören konnte, zu dieser Familie.

Mit nassen Haaren sah ich meiner Mutter nicht so ähnlich.

»Feigling«, schalt ich mein Spiegelbild und kehrte ihm dann den Rücken. Ich konnte hier sitzen bleiben, bis meine Haare trocken waren – oder sogar bis sie grau wurden –, aber das würde mir das Gespräch, das vor mir lag, keineswegs erleichtern.

Nonna saß unten mit der Lesebrille auf der Nase in ihrem Lieblingssessel und hielt einen Liebesroman in Großdruck auf dem Schoß. Als ich eintrat, sah sie mit ihren Argusaugen auf.

»Du bist heute aber früh bettfertig«, stellte sie fest, sofort misstrauisch. Sie hatte acht Kinder großgezogen. Wäre ich so eine gewesen, die gern Ärger machte, hätte ich nichts anstellen können, was sie nicht schon gesehen hätte.

»Ich habe heute meinen Job gekündigt«, erzählte ich, und das misstrauische Funkeln in ihren Augen sagte mir sofort, dass das wohl nicht der beste Einstieg in dieses Gespräch gewesen war. »Du musst mir keinen neuen besorgen«, fügte ich daher schnell hinzu.

Nonna stieß einen leisen, abfälligen Laut aus. »Natürlich nicht. Du bist ja so unabhängig. Du brauchst gar nichts von deiner alten Nonna. Dir ist es egal, ob sie sich Sorgen macht.«

Glückwunsch, das fängt ja gut an.

»Ich will natürlich nicht, dass du dir Sorgen machst«, sagte ich. »Aber ich habe einen neuen Job. Sozusagen.« Ich hatte bereits entschieden, dass Nonna nicht wissen musste, was ich tun würde – oder warum. Ich blieb bei der Geschichte, die laut Agent Briggs nach außen hin erzählt wurde. »Es gibt da so eine Schule für begabte Jugendliche und junge Erwachsene«, fuhr ich also fort. »Ein Spezialprogramm in einer Akademie. Letzte Woche hat mich der Direktor dieser Schule aufgesucht.«

»Soso«, war alles, was Nonna dazu sagte.

»Er hat auch mit Dad gesprochen.«

»Der Direktor dieses Programms hat mit deinem Vater gesprochen?«, wiederholte Nonna. »Und was hat mein Sohn diesem Mann gesagt, der es nicht für notwendig hielt, sich mir vorzustellen?«

Ich erklärte es, so gut ich konnte, und drückte ihr eine Broschüre in die Hand, die mir Agent Briggs gegeben hatte – eine, in der nichts von Profilern, Serienmördern oder dem FBI stand.

»Es ist nur ein kleine Einrichtung«, erläuterte ich. »Man wohnt in einer Art Wohnheim.«

»Und dein Vater hat gesagt, dass du dorthin gehen kannst?« Nonna betrachtete misstrauisch die lächelnden Jugendlichen auf dem Umschlag der Broschüre, als mache sie sie persönlich dafür verantwortlich, dass sie ihre kostbare Enkelin entführten.

»Er hat die Papiere bereits unterschrieben, Nonna.« Ich betrachtete meine Hände, die ich vor der Taille verschränkt hatte. »Ich werde dorthin gehen.«

Es folgte eine kurze Pause. Dann holte Nonna scharf Luft – und eine Sekunde später explodierte sie.

Ich sprach kein Italienisch, aber ihre ausladenden Gesten und die Art, wie sie die Worte hervorstieß, ließen ziemlich genaue Vermutungen über den Inhalt der Tirade zu.

Nur über ihre Leiche würde Nonnas Enkelin durch das ganze Land reisen, um an einem Regierungsprogramm für Hochbegabte teilzunehmen.

•••

Niemand veranstaltet eine Intervention so wie die Verwandten meines Vaters. Es wurde geschrien, getobt und geheult – und gegessen. Viel gegessen. Ich wurde bedroht und umschmeichelt, gescholten und von allen in den Arm genommen. Doch zum ersten Mal, seit ich diesen Teil meiner Familie kennengelernt hatte, konnte ich meine Reaktionen nicht den ihren anpassen, konnte ihnen nicht geben, was sie wollten. Diesmal schaffte ich es nicht, ihnen einfach was vorzumachen.

Der Lärm stieg zu einem Tumult an, und schließlich hielt ich mich raus und wartete darauf, dass es vorbeiging. Irgendwann würde ihnen auffallen, dass ich nichts mehr sagte.

»Cassie, Liebling, bist du hier denn nicht glücklich?«, fragte mich eine meiner Tanten schließlich. Der Rest des Tisches verfiel in gebanntes Schweigen.

»Ich …« Weiter kam ich nicht, denn ich sah, wie sich die Erkenntnis auf ihren Gesichtern breitmachte. »Es ist nicht so, dass ich nicht glücklich bin«, beeilte ich mich zu sagen, »es ist nur …«

Zum ersten Mal hörten sie das, was ich nicht sagte. Von dem Augenblick an, an dem sie von meiner Existenz erfahren hatten, war ich für sie ein Familienmitglied gewesen. Sie hatten nicht gesehen, dass ich in meinen eigenen Augen immer ein Außenseiter gewesen war – und es immer bleiben würde.

»Ich muss das tun«, sagte ich so leise, wie sie laut gewesen waren. »Für meine Mom.«

Das kam der Wahrheit näher, als ich eigentlich beabsichtigt hatte.

Tja, jetzt wissen sie es.

»Glaubst du, deine Mutter hätte gewollt, dass du so etwas tust?«, fragte Nonna. »Dass du deine Familie verlässt, die dich liebt und sich um dich kümmert, um ans andere Ende des Landes zu ziehen, ganz allein, um weiß Gott was zu tun?«

Eigentlich war das eine rhetorische Frage, ich beantwortete sie allerdings mit einem entschiedenen Ja.

Ich wartete ab, da ich mit Widerspruch rechnete, doch es kam keiner. »Ich weiß, dass euch das Ganze nicht gefällt, und ich hoffe, dass ihr mich deswegen nicht hasst, aber ich muss es tun«, sagte ich dann und stand auf. Meine Haare waren längst trocken und ich sah meiner Mutter wieder wesentlich ähnlicher als einem von ihnen. »Morgen früh reise ich ab. Zu Weihnachten würde ich gerne herkommen, aber ich könnte verstehen, wenn ihr das nicht wollt.«

Mit einer für ihr Alter überraschenden Agilität hatte Nonna blitzartig den Raum durchquert. Sie stieß mir heftig mit dem Finger vor die Brust und sagte etwas auf Italienisch, was meiner Meinung nach ziemlich sicher bedeutete, dass ich hier immer willkommen sein würde.

Und dass sie mich höchstpersönlich umbringen würde, wenn ich Weihnachten nicht nach Hause käme.