Kapitel 6

E s war Michael, der mich am Tag meiner Abreise abholte. Wer auch sonst. Er parkte am Gehweg und wartete.

»Mir gefällt das nicht«, erklärte Nonna wohl zum tausendsten Mal.

»Ich weiß.« Sachte küsste ich sie auf die Schläfe und sie nahm mein Gesicht in ihre Hände.

»Benimm dich«, verlangte sie energisch. »Sei vorsichtig. Und deinen Vater bringe ich um«, fügte sie hinzu.

Ich warf einen Blick über die Schulter und sah Michael an einen glänzenden schwarzen Porsche gelehnt stehen. Aus der Entfernung konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, doch ich hatte das Gefühl, als könne er hingegen seine Augen wie ein Fernglas benutzen, jede meiner Regungen erkennen und noch dazu bis in mein Innerstes blicken.

»Ich werde vorsichtig sein«, versprach ich Nonna und wandte Michael den Rücken zu. »Ich schwöre es.«

»Na«, meinte sie schließlich, »wie viel Ärger kannst du schon bekommen? Es sind ja nur ein paar wenige Studenten an dieser Schule.«

Ein paar Studenten, die dazu ausgebildet wurden, Tatorte zu analysieren, sich mit Zeugenaussagen zu befassen und Serienkiller aufzuspüren – stimmt, welchen Ärger konnte man da schon bekommen?

Ohne ein weiteres Wort wuchtete ich meine Reisetasche zum Auto. Nonna folgte mir, und als Michael den Kofferraum aufmachte, ohne mir mit dem Gepäck zu helfen, warf sie ihm einen tadelnden Blick zu.

»Willst du einfach nur so rumstehen?«, fragte sie.

Michael zeigte sein spöttisches Lächeln, nahm mir die Tasche ab und hob sie mühelos in den Kofferraum. Dann neigte er sich vor, so dicht, dass er in meinen persönlichen Mindestabstand eindrang, und flüsterte: »Und dabei hatte ich dich für ein Mädchen gehalten, das sich selbst mit schwerem Gepäck abplagen will.«

Nonna betrachtete mich, dann Michael. Sie bemerkte den viel zu geringen Abstand zwischen uns. Und dann gab sie einen leisen missbilligenden Laut von sich.

»Wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird«, erklärte sie Michael. »Sei dir über eins im Klaren: Unsere Familie – wir wissen, wie man eine Leiche entsorgt.«

Wie passend, einem FBI-Mitglied mit einem Mord zu drohen. Wo ist das nächste Erdloch, in das ich versinken kann?

Zähneknirschend verabschiedete ich mich und stieg ins Auto. Michael folgte meinem Beispiel und wir fuhren los.

»Tut mir leid«, sagte ich.

Michael zog die Brauen hoch. »Das mit der Drohung oder der imaginäre Keuschheitsgürtel, den sie dir gerade verpasst hat?«

»Sei bloß still!«

»Ach was, Cassie, das ist doch nett. Du hast eine Familie, der etwas an dir liegt.«

Vielleicht fand er wirklich, das sei nett, vielleicht aber auch nicht. »Ich will nicht über meine Familie sprechen.«

Völlig unbeeindruckt grinste Michael. »Ich weiß.«

Ich musste daran denken, was mir Agent Briggs über Michaels Begabung erzählt hatte.

»Du liest also Emotionen.«

»Gesichtsausdruck, Haltung, Gestik, all so etwas«, erwiderte er. »Du kaust an der Innenseite deiner Lippe, wenn du nervös bist. Und wenn du versuchst, nicht zu starren, bildet sich so eine kleine Falte in deinem rechten Augenwinkel.«

All das sagte er, ohne auch nur den Blick von der Straße zu wenden. Ich sah auf den Tacho und stellte fest, dass wir ziemlich schnell fuhren.

»Willst du unbedingt von der Polizei angehalten werden?«, fragte ich.

»Du bist hier die Profilerin«, gab er schulterzuckend zurück. »Sag du es mir.« Zumindest ging er ganz leicht vom Gas. »So etwas machen Profiler doch, oder? Man sieht, wie sich jemand kleidet oder wie er oder sie spricht, achtet auf Details, und dann steckt man Menschen in Schubladen. Du rechnest dir aus, mit was für einer Art von Person du es zu tun hast, und bist dann davon überzeugt, ganz genau zu wissen, was der oder die andere will.«

Okay, er hatte offensichtlich schon Erfahrungen mit Profilern gemacht – und zwar keine guten. Es war daher also kein Zufall, dass ich nicht aus ihm schlau wurde. Er ließ mich absichtlich im Unklaren.

»Du bist jedes Mal, wenn ich dich sehe, anders gekleidet«, stellte ich fest. »Du stehst anders, du sprichst anders. Und nie sagst du etwas über dich selbst.«

»Vielleicht gefällt es mir, groß, dunkel und geheimnisvoll zu sein«, entgegnete Michael und nahm eine Kurve so schnell, dass ich mich zwingen musste weiterzuatmen.

»So groß bist du gar nicht«, stieß ich hervor.

Er lachte. »Du bist sauer auf mich«, stellte er amüsiert fest. »Aber gleichzeitig fasziniert.«

»Würdest du wohl bitte damit aufhören?«, verlangte ich. Bisher hatte ich noch nicht gewusst, wie lästig es war, wenn man selbst unter dem Mikroskop lag.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, meinte Michael. »Ich höre auf, deine Emotionen zu lesen, und du hörst auf, mich zu analysieren.«

Ich hatte so viele Fragen: wie er aufgewachsen war, über seine Fähigkeit und warum er mir geraten hatte, nicht zu dem Treffen mit Agent Briggs zu gehen. Doch wenn ich verhindern wollte, dass er eine ausgedehnte Studie über meine Gefühle anstellte – und das wollte ich definitiv –, dann würde ich die Antworten wohl oder übel auf die normale Art und Weise bekommen müssen.

»Okay«, antwortete ich also. »Dann haben wir einen Deal.«

»Ausgezeichnet.« Jetzt lächelte er. Auch das noch. Schnell schaute ich wieder nach vorn auf die Straße. »Und da ich die letzten beiden Tage mit dem Versuch verbracht habe, herauszufinden, was in deinem Kopf vorgeht, gestatte ich dir, mir drei Fragen zu stellen, damit du herausfinden kannst, was in meinem vorgeht. Sieh es als Zeichen meines guten Willens.«

Wenn ihm die Selbstgefälligkeit nur nicht so verdammt gut stehen würde … Der kurze Blick, den er mir zuwarf, jagte wie ein Stromstoß durch meinen Körper, sodass ich sein Angebot nicht ablehnen konnte. Selbst wenn ich es gewollt hätte.

Die Rätsellöserin in mir hätte gerne gefragt, was für Kleidung er trug, wenn ihn niemand sehen konnte, wie viele Geschwister er hatte und welches seiner Elternteile ihn zu einem Jungen gemacht hatte, der ein wenig böse auf die ganze Welt war.

Aber ich tat es nicht.

Jemand, der so gelassen so schnell fuhr, würde auch vor ein paar kleinen Notlügen nicht zurückscheuen. Wenn ich ihn alles fragte, was ich wissen wollte, würde ich nur noch mehr verwirrende Botschaften bekommen – also stellte ich ihm die einzige Frage, von der ich mir ziemlich sicher war, dass er sie ehrlich beantworten würde.

»Was soll das mit dem Porsche?«

Michael wandte den Blick lange genug von der Straße ab, um mich anzusehen. Volltreffer. Ich hatte ihn überrascht.

»Mit dem Porsche?«

Ich nickte. »Ich bin mir sicher, dass das beim FBI nicht Standard ist.«

Seine Mundwinkel verzogen sich nach oben und ausnahmsweise lag mal keine Härte in seinem Lächeln.

»Der Porsche ist ein Geschenk aus meinem früheren Leben«, erklärte er. »Ich habe es Briggs zur Bedingung gemacht, dass ich ihn behalten darf, bevor ich dem Verein beitrete.«

»Warum sollten sie dich ihn nicht behalten lassen?«, wunderte ich mich und bemerkte zu spät, dass ich gerade meine zweite Frage verschwendet hatte.

»Steuerhinterziehung«, nannte mir Michael den Grund. »Nicht ich. Mein Vater.«

Die Angespanntheit in seiner Stimme ließ mich vermuten, dass der Porsche wohl nicht die einzige Bedingung für Michaels Beitritt in die Akademie gewesen war. Ich konnte allerdings nicht sicher sagen, ob er verlangt hatte, dass die Regierung über die Verbrechen seines Vaters hinwegsah, oder ob sein Vater seinen Sohn dafür verschachert hatte.

Ich fragte ihn auch nicht danach.

Stattdessen blieb ich lieber auf sicherem Boden. »Wie ist dieses Programm, diese Akademie eigentlich?«

»Ich bin erst seit ein paar Monaten dabei«, erwiderte Michael. »Briggs hat mich mit der Aufgabe überrascht, dich zu holen. Wegen guter Führung vermutlich.«

Irgendwie wagte ich, das zu bezweifeln.

Michael schien zu spüren, dass ich ihm das nicht glaubte – natürlich spürte er das –, und so fügte er hinzu: »Und wahrscheinlich auch, weil Briggs wohl jemanden brauchte, der deine Emotionen liest und ihm sagt, dass du trotz deiner Wut keine tickende Zeitbombe bist, der man lieber nicht Zugang zu vertraulichen Akten gewähren sollte.«

»Und – habe ich bestanden?«, fragte ich.

»Na, na.« Michael funkelte mich schelmisch an. »Du hast doch sicher mitgezählt, oder etwa nicht? Die Fragestunde ist beendet.«

Ohne Vorwarnung riss er das Steuer nach links herum, machte eine Kehrtwende und bog dann schnell nach rechts ab. Ein paar Sekunden später bremsten wir auf einem Parkplatz, der offensichtlich vor einer Art Flugzeughangar lag.

»Was«, fragte ich mit riesengroßen Augen, als ich den schlanken Metallkörper vor uns betrachtete, »ist das?«

»Das?«, gab Michael zurück. »Das ist der Jet.«

»Lass mich raten«, meinte ich halb im Scherz, aber nur halb, »du hast es zur Bedingung für deine Teilnahme am Programm gemacht, dass du deinen Privatjet behalten darfst?«

»Der gehört leider dem FBI.« Michael grinste, verzog dann aber das Gesicht. »Wenn Briggs nicht gerade unterwegs ist, um junge, beeinflussbare Menschen dazu zu bringen, für ihn die Drecksarbeit zu erledigen, gehört er zu einer Sondereinheit, die mit der Polizei im ganzen Land zusammenarbeitet. Der Jet verringert nur die Reisezeiten. Für uns ist das durchaus von Vorteil.«

So sah er das also. Beeinflussbare Menschen, die die Drecksarbeit machten. Anscheinend bekomme ich auch ohne Fragestunde Informationen aus ihm heraus.

Ich stieg aus dem Wagen und stand Agent Briggs gegenüber. »Cassie!«, begrüßte er mich. Nur mein Name, sonst nichts.

Michael drückte auf einen Knopf und der Kofferraumdeckel sprang auf. Als ich meine Tasche holen wollte, warf Michael Briggs eine ziemlich gute Imitation von Nonnas kritischem Blick zu.

»Wollen Sie einfach nur so rumstehen?«, fragte er den FBI-Agenten.

Briggs half mir mit der Tasche und Michael sah mich an.

»Belustigt«, flüsterte er mir zu, als er erneut den Abstand zwischen uns auf ein Minimum reduziert hatte, »mit einem Hauch von Verlegenheit.«

Eine Sekunde zu spät erkannte ich, dass Michael sich nicht auf Briggs’ Gesichtsausdruck bezogen hatte, sondern auf meinen.

Ich höre auf, deine Emotionen zu lesen, und du hörst auf, mich zu analysieren.

Lügner.

Wortlos drehte Michael sich um und schlenderte zum Jet. Als ich einstieg, saß er bereits in der hinteren Sitzreihe. Er sah mich an, wobei seine Haltung einladend wirkte, seine Augen mir jedoch rieten, mich fernzuhalten.

Ich riss meinen Blick von ihm los und setzte mich in die Reihe vor ihm, zum Cockpit gewandt. Sollte er doch mal zeigen, wie gut er darin war, meine Gefühle von meinem Hinterkopf abzulesen.

»Ich sag dir was«, flüsterte Michael gerade laut genug, dass nur ich ihn hören konnte. »Wenn du mir versprichst, mich nicht anzuschweigen, dann gewähre ich dir eine vierte Frage, ganz ohne Gegenleistung.«

Während das Flugzeug abhob und die Stadt unter uns kleiner wurde, wandte ich mich auf meinem Sitz zu ihm um. Es war einfach zu verlockend.

»Lässt du den Porsche in Denver?«

Er neigte sich so weit vor, dass seine Stirn fast die meine berührte.

»Und ich dachte, du bist diejenige, die auf jedes Detail achtet, Cassie. Ich habe nie gesagt, dass der Porsche mein einziger Wagen ist.«