I ch stieg aus dem Jet und blinzelte in die Sonne. Eine Frau mit leuchtend roten Haaren kam auf das Flugzeug zu. Sie trug einen grauen Hosenanzug und eine schwarze Sonnenbrille und ihr Gang war selbstbewusst und zielstrebig.
»Es ging das Gerücht um, wir würden etwa gleichzeitig landen«, rief sie Briggs zu. »Da dachte ich, ich komme euch persönlich begrüßen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich. »Ich bin Special Agent Lacey Locke. Briggs ist mein Partner. Und du bist Cassandra Hobbes.«
Sie war mit ihrer kleinen Ansprache genau in dem Moment fertig, als sie vor mir stehen blieb und die Hand ausstreckte. Verwundert stellte ich fest, dass sie ein wenig schelmisch aussah, trotz des Hosenanzugs und der Sonnenbrille.
Ich nahm ihre Hand. »Schön, Sie kennenzulernen«, sagte ich. »Die meisten Leute nennen mich Cassie.«
»Gut, Cassie«, erwiderte sie. »Briggs meinte, dass du zu mir gehörst.« Zu ihr?
»Den Profilern«, erklärte Michael.
»Du solltest nicht so begeistert über die Wissenschaft des Profilings sprechen«, warnte Locke leichthin, »sonst könnte Cassie dich noch für einen Siebzehnjährigen ohne einen Sinn für die Absurdität der Welt halten.«
Michael griff sich an die Brust. »Ihr Spott trifft mich tief, Agent Locke.« Sie schnaubte nur.
»Du bist früh zurück«, warf Briggs an Agent Locke gewandt ein. »Gab es nichts in Boise?«
Locke antwortete mit einer ruckartigen Bewegung ihres Kopfes. »Sackgasse.«
Wortlos tauschten die beiden Informationen aus, dann wandte sich Briggs an mich. »Wie Michael bereits so zuvorkommend erklärt hat, ist Agent Locke eine Profilerin. Sie wird für deine Ausbildung verantwortlich sein.« Seit ich zugestimmt hatte, bei dem Programm mitzumachen, ging Agent Briggs nicht mehr so formell mit mir um. Die Lockerheit stand ihm.
»Du Glückliche«, fügte Locke grinsend hinzu.
»Sind Sie …?«, begann ich zögernd.
»… ein Naturtalent?«, führte sie den Satz mit einem spitzbübischen Lächeln zu Ende. »Nein, es gibt nur eine einzige Sache, für die ich eine natürliche Begabung habe, und davon kann ich dir dummerweise erst erzählen, wenn du einundzwanzig bist. Aber an der FBI-Akademie habe ich sämtliche Kurse in Verhaltensanalyse belegt, die angeboten wurden, und gehöre seit meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr zur Verhaltensforschungseinheit BSU.«
Ich fragte mich, ob es wohl unhöflich wäre, nach ihrem Alter zu fragen.
»Neunundzwanzig«, sagte sie. »Und keine Sorge, man gewöhnt sich daran.«
»An was?«
Wieder grinste Locke. »Eine Antwort zu bekommen, bevor du die Frage überhaupt gestellt hast.«
•••
Die Basis der Cold Case Academy – wie der offizielle Name war – war ein großes Haus im viktorianischen Stil in der winzigen Stadt Quantico, Virginia. Nah genug am FBI-Hauptquartier auf der Marinebasis von Quantico, dass es praktisch war, aber nicht so nah, dass Fragen aufkommen konnten.
»Wohnzimmer, Medienraum, Bibliothek, Arbeitszimmer.« Der Mann, den Briggs angeheuert hatte, um sich um das Haus zu kümmern – und um uns –, war ein pensionierter Marine namens Judd Hawkins. Er war über sechzig, wortkarg und hatte einen scharfen Blick. »Die Küche ist dahinten. Dein Zimmer ist im ersten Stock.« Er sah mich kurz an. »Du wirst es dir mit einem der anderen Mädchen teilen. Ist das ein Problem für dich?«
Ich schüttelte den Kopf und er ging durch den Flur auf eine Treppe zu. »Beeilung, Miss Hobbes!«, rief er zurück. Ich lief ihm nach und glaubte, ein Lächeln in seiner Stimme hören zu können, von dem man auf seinem Gesicht allerdings nichts entdeckte. Ich musste selbst ein Lächeln unterdrücken. Judd Hawkins mochte rau und direkt sein, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass er im Grunde weicher war, als die meisten vermuten würden.
Judd bemerkte meinen prüfenden Blick und nickte kurz und geschäftsmäßig. Wie Briggs schien er nichts dagegen zu haben, dass ich mir aus kleinen Details ein Bild von ihm machte.
Anders als gewisse andere Personen, die meine Bemühungen bei jeder Gelegenheit torpedierten.
Ich hielt mich davon ab, zu Michael zurückzusehen, und bemerkte eine Reihe gerahmter Bilder an der Treppe. Es waren etwa ein Dutzend Männer und eine Frau. Die meisten waren Ende zwanzig oder Anfang dreißig, aber ein oder zwei schienen auch älter zu sein. Einige lächelten, andere nicht. Zwischen einem gut aussehenden Herzensbrecher und einem Schwarz-Weiß-Foto, das wohl um die Jahrhundertwende aufgenommen wurde, hing das Bild eines molligen Mannes mit dunklen Augenbrauen und schütterem Haar. Ganz oben an der Treppe lächelte ein älteres Ehepaar auf einem etwas größeren Porträt.
Ich warf Judd einen Blick zu und fragte mich, ob es seine Verwandten waren oder ob die Bilder jemand anderem im Haus gehörten.
»Das sind Killer.«
Eine Asiatin kam um die Ecke. Sie bewegte sich geschmeidig wie eine Katze und lächelte, als hätte sie gerade eine Maus verspeist.
»Die Leute auf den Bildern«, erklärte sie, »sind alle Serienmörder.« Sie zwirbelte ihren glänzenden schwarzen Pferdeschwanz um den Zeigefinger und hatte ganz offensichtlich Spaß an meiner Verlegenheit. »Auf diese lustige Weise erinnert die Akademie Dean daran, warum er hier ist.«
Dean? Wer ist Dean?
»Ich persönlich finde es ein wenig makaber, aber ich bin ja auch keine Profilerin.« Das Mädchen wischte ihren Pony aus der Stirn. »Im Gegensatz zu dir, nicht wahr?«
Sie trat einen Schritt vor und mein Blick fiel auf ihre Schuhe. Es waren schwarze Lederstiefel, so hoch, dass ich schon aus Sympathie selbst Krämpfe in den Füßen bekam. Sie trug eine hautenge schwarze Hose und einen ärmellosen Rollkragenpullover in Knallblau, passend zu den Strähnen in ihren schwarzen Haaren.
Während ich sie betrachtete, kam sie zu mir und stellte sich so dicht vor mich, dass ich schon glaubte, sie wolle mit meinen Haaren spielen anstatt mit ihren eigenen.
»Lia«, meinte Judd völlig unbeeindruckt, »das ist Cassie, und wenn du damit fertig bist, ihr Angst machen zu wollen, würde sie sicher gerne ihre Tasche abstellen.«
Lia zuckte mit den Schultern. »M i casa es su casa . Unser Zimmer ist dahinten.«
Dein Zimmer, dachte ich, nicht unseres.
»Cassie ist wirklich untröstlich, dass sie nicht mit dir zusammenwohnt, Lia«, bemerkte Michael, der augenblicklich meinen Gesichtsausdruck richtig interpretiert hatte. Lia wandte sich zu ihm um und kräuselte ihre Lippen langsam zu einem fiesen Lächeln.
»Hast du mich vermisst?«
»Wie einen Dorn in meiner Pranke«, behauptete Michael.
Hinter ihm kam Agent Briggs die Treppe herauf und räusperte sich. »Schön, dich zu sehen, Lia!«
Lia sah ihn an. »Also bitte, Agent Briggs, das ist doch so was von gelogen.«
Agent Locke verdrehte die Augen. »Lias Spezialgebiet ist Täuschung. Sie hat ein ungewöhnliches Talent dafür zu erkennen, wann Menschen lügen. Und«, fügte sie hinzu und sah Lia in die Augen, »sie ist eine ausgezeichnete Lügnerin.«
Lia schien nicht beleidigt zu sein. »Außerdem bin ich zweisprachig aufgewachsen und sehr, sehr geschmeidig.« Das zweite sehr richtete sie ganz offensichtlich an Michael. War ja klar.
»Dann sind die Bilder an der Wand also nicht die von Serienmördern?«, fragte ich, um nicht weiter über Lia und Michael nachzudenken. Schließlich ging es mich nichts an. Sollte er sein spöttisches Lächeln doch lieber bei ihr einsetzen als bei mir.
Meine Frage nach den Bildern traf auf allgemeines Schweigen. Der sonst alles kommentierende Michael hielt diesmal den Mund, Judd sah betont in die andere Richtung und sagte kein Wort, und auch Agent Locke, die ein wenig verlegen dreinblickte, blieb stumm.
Schließlich räusperte sich Agent Briggs und meinte: »Doch, das ist wahr.«
Wieder sah ich das Bild des älteren Ehepaares an.
Lächelnde Serienmörder, zehn Zentimeter hohe Absätze und ein Mädchen mit einer Begabung fürs Lügen?
Könnte interessant werden.