Kapitel 8

B riggs und Locke verschwanden, kurz nachdem mir Judd mein Zimmer gezeigt hatte. Sie versprachen, am nächsten Tag für den Unterricht wiederzukommen, aber heute sollte ich mich erst mal nur eingewöhnen. Meine Zimmergenossin – wer auch immer das sein mochte – war gerade nicht hier, daher hatte ich einen Moment für mich.

In meinem neuen Zimmer standen zwei Doppelbetten einander gegenüber und ein tiefes Fenster ging zum Hof hinaus. Vorsichtig machte ich die Tür zum Wandschrank auf. Er war genau halb voll: die Hälfte jeder Kleiderstange, die Hälfte des Bodens, die Hälfte der Regale. Meine Zimmergenossin zog Muster einfarbigen Kleidern vor und liebte eher kräftige Farben als Pastelltöne. Sie hatte eine vernünftige Anzahl schwarzer und weißer Sachen im Schrank, aber nichts Graues.

Ihre Schuhe waren alle flach.

»Reiß dich mal zusammen, Cassie«, ermahnte ich mich. Ich würde Monate Zeit haben, die Persönlichkeit meiner Zimmergenossin zu analysieren, ohne heimlich ihre Hälfte des Kleiderschranks zu inspizieren. Schnell und effizient packte ich meine eigene Tasche aus. Bevor ich fünf Jahre in Colorado verbracht hatte, war ich höchstens vier Monate am Stück an ein und demselben Ort gewesen. Meine Mutter hatte stets der nächsten Show hinterhergejagt, der nächsten Stadt, dem nächsten Ziel, daher war ich Expertin im Auspacken.

Als ich fertig war, war noch genügend Platz in meiner Hälfte des Schranks.

»Klopf, klopf!«, erklang Lias Stimme. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie ein, und ich bemerkte, dass sie sich umgezogen hatte.

Die schwarzen Lederstiefel waren durch flache Ballerinas und die Hose durch einen weich fallenden, spitzenbesetzten Rock ersetzt worden. Sie hatte die Haare im Nacken zurückgebunden und selbst ihre Augen wirkten sanfter.

Es schien fast, als habe sie ihren Typ total verändert, vielleicht sogar ihre ganze Persönlichkeit.

Erst Michael, jetzt Lia. Ich fragte mich, ob er den Trick mit den unterschiedlichen Kleidungsstilen von ihr hatte oder sie von ihm. Da sie diejenige war, die sich auf Betrug spezialisiert hatte, ging ich von der ersten Möglichkeit aus.

»Hast du schon ausgepackt?«, erkundigte sie sich.

»Ich bin noch dabei«, antwortete ich und widmete mich der Kommode.

»Nein, bist du nicht.«

Bis zu diesem Moment, in dem mich Lia überführte, hatte ich mich selbst eigentlich nicht als Lügnerin gesehen.

»Weißt du, diese Serienkillerbilder sind wirklich mehr als gruselig«, meinte Lia und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich war schon sechs Wochen hier, bevor mir jemand erzählt hat, dass die wie ein nettes Paar wirkenden Omi und Opi da auf dem Bild Faye und Ray Copeland sind, die für den Mord an fünf Menschen verurteilt wurden, aus deren Kleidungsstücken die beiden einen hübschen kleinen Quilt gemacht haben. Sei froh, dass ich es dir sofort erzähle.«

»Echt nett von dir«, entgegnete ich trocken.

»War mir ein Vergnügen«, fuhr Lia grinsend fort. »Judd macht einfach miserable Hausführungen. Er kocht überraschend gut und sieht alles, aber man kann ihn nicht gerade als gesprächig bezeichnen, und solange wir das Haus nicht abfackeln, lässt er uns meist in Ruhe. Ich dachte, du willst vielleicht eine richtige Hausbesichtigung machen. Oder dass du noch ein paar Fragen haben könntest.«

Ich war mir nicht sicher, ob eine Person, die für ihre Fähigkeiten im Lügen bekannt war, eine geeignete Hausführerin sein konnte geschweige denn die richtige Informationsquelle war, doch ein Friedensangebot wollte ich nicht ablehnen, und eine Frage hatte ich schon.

»Wo ist denn meine Zimmergenossin?«

»Da, wo sie immer ist«, erwiderte Lia. »Im Keller.«

•••

Der Keller erstreckte sich unter der gesamten Hausfläche und reichte bis unter den Vorgarten und den Hinterhof. Türen gab es keine, nur Wände, die Dutzende von Segmenten abteilten, und in der Mitte einen großen Raum.

Ich ging auf diesen offenen Raum zu, als plötzlich etwas explodierte. Sofort sprang ich zurück und hob schützend die Hände vors Gesicht.

Glas , dachte ich zu spät. Das ist splitterndes Glas.

Eine Sekunde später stellte ich fest, dass ich die Geräuschquelle nicht ausmachen konnte, ließ die Hände sinken und sah zu Lia, die nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatte.

»Ist das normal?«

»Definiere normal«, verlangte sie mit einem Schulterzucken.

Hinter einer der Wände erschien der Kopf eines Mädchens. »Entsprechend einem Typus, Standard oder regelmäßigen Muster.«

Das Erste, was mir an dem Mädchen auffiel – abgesehen von ihrem munteren Tonfall und der Tatsache, dass sie gerade wie aus der Pistole geschossen eine Definition von normal geliefert hatte –, war ihr Haar. Es war glatt und so blond, dass es im Dunkeln leuchtete. Die Spitzen waren unregelmäßig, und der stumpf geschnittene Pony sah aus, als habe sie sich selbst die Haare geschnitten.

»Solltest du nicht eine Schutzbrille tragen?«, fragte Lia.

»Meine Brille ist irgendwie beschädigt worden«, erwiderte das Mädchen und verschwand wieder hinter der Wand.

Dem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck von Lia nach zu urteilen, sollte ich jetzt wohl hocherfreut zu der Erkenntnis kommen, dass ich gerade meiner Zimmergenossin gegenüberstand.

»Sloane: Cassie«, stellte Lia mit weit ausladender Geste vor. »Cassie: Sloane.«

»Schön, dich kennenzulernen«, sagte ich und trat zwei Schritte auf sie zu, bis ich in der Mitte des Raumes stand und nun sah, was zuvor hinter der Wand verborgen gewesen war. Sloane stand mitten in einem Badezimmer, maßstabsgetreu nachgebaut, nur ohne die vierte Wand. »Das ist ja wie ein Filmset«, meinte ich. Überall auf dem Boden lag Glas und am Rand der Wanne und spiralförmig auf den Fliesen verteilt klebten mindestens hundert Post-its. Die ganze Länge des Kellers entlang befanden sich weitere Räume an den Seiten. Andere Filmsets.

»Mögliche Tatorte«, korrigierte Lia. »Für Simulationen. Auf dieser Seite« – sie wedelte mit den Armen wie eine Spielshowassistentin – »haben wir Interieurschauplätze: Badezimmer, Schlafzimmer, Küchen, Eingangshallen. Und noch ein paar öffentliche Locations wie ein Restaurant oder eine Postfiliale.« Damit drehte sich Lia auf dem Absatz um und deutete auf die andere Seite der Halle. »Und dort drüben haben wir ein paar Outdoorszenarien: einen Park und auch einen Parkplatz.«

Ich wandte mich wieder der Badezimmerszene – und Sloane – zu. Sie kniete sich vorsichtig neben die Glasscherben auf dem Boden und betrachtete sie wie jemand, der aufs Meer hinausschaut.

Eine ganze Weile später zwinkerte sie plötzlich und stand auf. »Du hast rote Haare.«

Ich brauchte einen Augenblick, um zu kapieren, dass sie mit mir sprach.

»Leute mit roten Haaren brauchen etwa zwanzig Prozent mehr Anästhetika, wenn sie operiert werden, und das Risiko, dass sie auf dem OP-Tisch aufwachen, ist erheblich höher.«

Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass das Sloanes Art war, Konversation zu betreiben, und plötzlich fügte sich das Puzzle zusammen: die bevorzugten Muster in ihrer Garderobe, die Präzision, mit der sie unseren Kleiderschrank aufgeteilt hatte. »Agent Briggs sagte, es gebe hier jemanden, der rechnerische Schemata und Wahrscheinlichkeiten erkennt.«

»Sloane ist absolut tödlich mit allem, was mit Zahlen zu tun hat«, behauptete Lia und deutete gleichmütig auf die Scherben, »manchmal im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Das war nur ein Test«, widersprach Sloane. »Der Algorithmus, der das Streumuster der Glasscherben berechnet, ist echt ziemlich –«

»Faszinierend?«, vermutete eine Stimme hinter uns. Lia fuhr sich mit einem langen manikürten Fingernagel über die Unterlippe. Ich hätte mich nicht umzudrehen brauchen, um zu wissen, wer hier unten aufgetaucht war, tat es aber trotzdem.

Michael lächelte und suchte meinen Blick. »Du solltest sie sehen, wenn sie auf Koffein ist«, sagte er und nickte zu Sloane hinüber.

»Wie soll sie das, wenn du ständig den Kaffee versteckst?«, fragte Sloane düster.

»Glaub mir, ich tue das für uns alle«, erwiderte Michael gelangweilt. Dann schenkte er mir ein langes Lächeln. »Und? Haben die beiden dich schon traumatisiert, Colorado?«

Ich registrierte die Tatsache, dass er mir soeben einen Spitznamen verpasst hatte, als Lia vortrat.

»Traumatisiert?«, wiederholte sie. »Das klingt ja fast, als würdest du mir nicht vertrauen, Michael!« Sie riss die Augen auf und schob die Unterlippe vor.

»Als könnte ich es wagen«, schnaubte Michael.

Ein Gefühlsleser, eine Täuschungsspezialistin, eine Statistikerin mit Koffeinverbot – und ich.

»Sind das alle?«, fragte ich. »Nur wir vier?« Hatte Lia nicht noch jemanden erwähnt?

Michaels Gesicht verdüsterte sich, Lias Lippen hingegen verzogen sich langsam zu einem Lächeln.

»Nein«, meinte Sloane fröhlich und vollkommen unberührt von der plötzlich veränderten Stimmung, »es gibt noch einen fünften im Bunde: Dean.«